Kapitel 35
Die Kraas, die seit jeher einen Blick für Rücken, genauer genommen für die Stelle zwischen der dritten und vierten Rippe gehabt hatten, waren die ersten, die eine korrekte Analyse der Aussage ablieferten, die der Übertragung des Imperators zugrunde lag. "Verdammter Poyndex! Der verdammte Saukerl hat uns für dumm verkauft."
Warum auch nicht? An seiner Stelle hätten sie sich nicht anders verhalten.
"Hätten wir uns denken können", knurrte der nun fette Zwilling. "Jetzt hängen wir hier in dem verdammten Bunker rum und warten, warten, warten. Dabei haben wir keine Streitkräfte mehr, weder im All noch in der Luft noch in den Raumhäfen."
Ihr Geschrei wurde so laut wie noch nie, seit sich das Privatkabinett in den Untergrund zurückgezogen hatte. Seit sich Poyndex auf seine
"Verhandlungsmission" begeben hatte, hatten die Kraas ihre Zeit damit verbracht, sich vollzustopfen und anschließend wieder zu entleeren. Malperin und Lovett saßen häufig beieinander, ohne jedoch etwas zu sagen. Sie glichen einem Paar schweigender Geister, das in den Kellern der einstigen Machtzentrale herumirrt.
Wachmannschaften und Diener lernten schnell, ihre Anordnungen rasch und lautlos auszuführen und sich anschließend in die eigenen Diensträume zurückzuziehen.
Auf einer speziellen Wellenlänge empfingen sie schließlich folgende Nachricht:
"Hier spricht der Ewige Imperator.
Ein Gesandter des verräterischen Kabinetts hat sich mit mir in Verbindung gesetzt. Sie haben Bedingungen gestellt, damit sie sich ergeben.
Ich weise diese Bedingungen hiermit im Namen der gesamten Zivilbevölkerung und des Imperiums zurück. Mit Mördern wird nicht verhandelt.
Ich fordere die sofortige, vollständige und bedingungslose Kapitulation.
Bürger der Erstwelt!"
Die Kraas hatten laut zu schreien angefangen.
Keiner im Com-Raum hörte die Details der weiteren Anordnungen des Imperators. Sie enthielten keine Überraschungen: auf der Erstwelt wurde das Kriegsrecht verhängt. Das Militär wurde
angewiesen, in die Kasernen zu gehen und dort zu bleiben. Alle Offiziere, inklusive Unteroffiziere, hatten für Disziplin zu sorgen. Sämtliche Schiffe hatten Startverbot und wurden bei Nichtbeachtung beschossen. Die Polizei hatte für Ruhe und Ordnung unter der Zivilbevölkerung zu sorgen - wenn möglich ohne Anwendung von Gewalt.
Aufständische und Plünderer wurden sofort festgenommen und später bestraft...
Keine überraschenden Mitteilungen.
Bis er zum Ende kam:
"Die Imperialen Streitkräfte landen innerhalb der nächsten Stunde auf der Erstwelt."
Was nicht mehr möglich schien, trat ein: das Heulen der Kraas wurde noch lauter.
In der Falle sitzen ... Mist, verdammter ... nichts wie raus hier.
Eine der beiden nahm Verbindung zum
Raumhafen der Hauptstadt Fowler auf; hastig wurden dem Kommandanten Anweisungen zum
sofortigen Start ihrer "Yacht" - eines schwer bewaffneten, ehemaligen Kreuzers - sowie der beiden Begleitschiffe gegeben.
"Warum?" wunderte sich Malperin. "Wo sollen wir denn hin?"
"Quatsch! Es gibt immer irgendeine Hintertür."
Die andere Kraa fiel ein: "Wenn nicht, dann will ich verdammt nochmal lieber im Kampf abkratzen, als hier drauf zu warten, bis ich abgeschlachtet werde."
Und weg waren sie.
Lovett erhob sich, um einen Drink
einzuschenken. Doch dann stellte er das noch leere Glas wieder ab und setzte sich. Er starrte Malperin an. Wieder herrschte Stille.
Ein Kampfschiffgeschwader stieß als Vorhut kreischend auf die großen Landeflächen von Soward nieder. Andere Kampfverbände verteilten sich strategisch über den restlichen Raumhäfen der Erstwelt.
Der befehlshabende Waffenoffizier des
Kommandoschiffs erstattete Meldung über drei Schiffe mit aktiviertem Antrieb.
"Alle Elemente... Fairmile Flight... Ziel wie angegeben und angestrahlt ... Goblin fertig zum Feuern ... Feuer!"
Non-nukleare Geschosse mittlerer Größe
rauschten aus den Raketensilos heraus. Ziel: die drei Schiffe der Kraas. Drei Einzelexplosionen verschmolzen zu einem gigantischen Feuerball, der Tausende von Metern hochzüngelte.
Mahoney ließ die Flotten näher kommen.
Sten sollte seine Flotte als erster landen. Zerstörer und Kreuzer hingen über Soward und Fowler. Er senkte sein eigenes Schlachtschiff und seine beiden Schwesternschiffe auf die Erstwelt hinab
Gedankenblitz: ganz anders als beim letzten Mal, als ich mich hier herausgeschlichen habe -, und hinter ihnen gingen die Angriffstransporter zu Boden, aus denen sich gepanzertes Gerät und bewaffnete Bodentruppen ergossen.
Kilgour warf Sten einen Kampfanzug zu, und Sten schnallte alles fest, zurrte noch einmal am Riemen des schweren Gurkha-Kukri und der Miniwillygun.
Er hatte den Oberbefehl beim Angriff auf den Bunker des Privatkabinetts. Die Anweisungen, die ihm der Ewige Imperator gegeben hatte, waren unmißverständlich: er wollte die Kraas, Malperin und Lovett - wenn möglich lebend. Er wollte nicht mitansehen müssen, daß die Arbeit von Stens Tribunal vergebens gewesen war.
"Admiral." Ein Bildschirm flackerte auf.
Fünf bewaffnete A-Grav-Gleiter schwebten in drei Kilometern Entfernung auf das Flugfeld. Vier davon entsprachen dem Standardtyp für
Polizeikommandos. Der fünfte war mit einer Kommandoeinheit ausgestattet.
"Ich glaube, wir haben schon ein paar hochgehen lassen", sagte Kilgour, und hatte ihr Ziel geistig vor Augen, jenen Feuerball, der die abflugbereiten Schiffe verschlungen hatte.
Noch bevor Sten einen Befehl gegeben hatte, begann eines der Kampfschiffe, das Gelände mit Bombenabwürfen zu zerfetzen. Die
Explosionswellen ließen zwei der Gleiter außer Kontrolle geraten, ein dritter verlor die gesamte Bordenergie. Er schlug mit dem Bug in den rauchenden, frisch aufgewühlten Graben.
Zwei blieben übrig. Sie wurden von ihren Piloten um hundertachtzig Grad herumgerissen, und in die Richturig gebracht, aus der sie gekommen waren.
Doch Sten sah, daß ihnen der Ausweg versperrt war und zwar nicht von Imperialen Kampfkräften oder Bomben, sondern durch eine schreiende, brodelnde Menschenmenge. Menschen und
Außerirdische.
Die A-Grav-Gleiter feuerten in den Mob hinein.
Körper fielen zerfetzt zu Boden und wurden durch neue Körper ersetzt.
Der Mannschafts-Gleiter ging plötzlich
manövrierunfähig zu Boden. Irgend jemand hatte von irgendwoher eine panzerbrechende Waffe gefunden, gestohlen oder einfach an sich genommen und feuerte sie jetzt ab. Die Explosion zerstörte den Gleiter vollständig - und seine Angreifer wirbelten in der entstandenen Druckwelle durcheinander.
Der Kommandogleiter nahm noch eine zweite Kursänderung vor, diesmal in Richtung der bereits gelandeten Imperialen Schiffe.
Er sollte sein Ziel nicht erreichen.
Sten sah den Lichtblitz, als zwei selbstgebastelte Brandbomben auf dem Oberdeck des Gleiters landeten und Feuer in die McLean-Ansaugstutzen floß. Ruckelnd kam der Gleiter zum Stillstand. Sten sah, wie sich die hintere Rampe öffnete und dann
Er glaubte, zwei Personen herauskommen zu sehen: eine der beiden war auffallend dick, die andere sah aus wie ein Skelett unter einem Zelt. Sie hatten die Hände erhoben und schrieen etwas.
Dann wurden sie vom Mob wie von einer Woge verschluckt.
Sten wandte sich vom Bildschirm ab.
"Ich nehm's auf", sagte Kilgour. "Wir brauchen unbedingt eine Einzelbildanalyse, damit der Erkennungsdienst später bestätigen kann, daß es die Kraas waren. So wie's aussieht, bleibt ja wahrscheinlich nicht genug für eine Autopsie von ihnen übrig."
Sten nickte, den Blick immer noch vom
Bildschirm abgewandt.
"Gehen wir, Mr. Kilgour. Ich möchte wenigstens irgend jemanden vor Gericht bringen."
Die Imperialen Truppen, die man ihm zugewiesen hatte, waren nicht besser oder schlechter als die anderen Kampfeinheiten des Imperators, mit denen Sten es in letzter Zeit zu tun gehabt hatte. Es spielte keine Rolle - Sten ging ohnehin davon aus, daß sie unerfahren waren, und hatte daher die Vorhut von Söldnern bilden lassen.
Er hatte angenommen, daß sie sich durch die Straßen von Fowler zum Hauptquartier des Kabinetts durchkämpfen müßten -aber so war es nicht.
Aufständische und Rachedurstige hatten bereits vorgearbeitet: A-Grav-Gleiter aller Größen und Typen lagen umgekippt und teilweise ausgebrannt als improvisierte Barrikaden auf den Straßen; ebenso viele Leichen, teilweise uniformiert, teilweise in Zivil.
Brennende und bereits ausgebrannte Geschäfte und Gebäude.
Dreimal sahen sie Körper an Laternenpfählen baumeln.
Aber sie konnten ihren Weg ungehindert
fortsetzen.
Überraschenderweise gab es so etwas wie
improvisierte Ordnung. Zivilisten bemühten sich, das bißchen Verkehr so gut zu regeln, wie sie es vermochten. Andere patrouillierten in den Straßen.
Der kommandierende Sergeant in Stens Kampf-Gleiter streckte den Kopf zum Ausguck hinaus, rief einem der Zivilisten eine Frage zu, erhielt eine Antwort.
"Kult des Imperators, Sir. Gehen uns ein bißchen zur Hand, Sir."
Sten war der Meinung, der Kult lehnte Gewalt ab.
Vielleicht war der schwerverletzte Mann, der von drei kräftigen Frauen am Kragen abgeführt wurde, die Treppe hinuntergefallen. Oder vielleicht mußte später die eine oder andere Beichte abgelegt werden.
Als seine Truppen sich dem Hauptquartier näherten, hörte er das Geräusch von Mündungsfeuer.
Einzelne Gestalten in der braungesprenkelten Uniform der Imperialen Garde waren zu erkennen, vor ihnen zerstörte A-Grav-Gleiter. Sten stieg aus und wurde von dem ebenso schlecht wie besorgt aussehenden Captain begrüßt, einer jungen Frau, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie weinen oder fluchen sollte. Sie führte zum ersten Mal eine Kampfeinheit an - und gleich beim ersten Mal hatte die Einheit, die sie so sorgfältig ausgebildet hatte, Verluste erlitten.
Schließlich beschloß sie, weder zu weinen noch zu fluchen, und lieferte statt dessen einen professionellen Lagebericht ab. Das Kabinett hatte auch innerhalb des Gebäudes Gardisten postiert.
Vier Panzerabwehr-Werfer hinter einem Wall von Sandsäcken ... dort, dort und da drüben.
Scharfschützen und Schnellfeuergewehre im oberen Stockwerk. Den Anordnungen, sich zu ergeben, wurde keine Folge geleistet.
Sten dankte ihr und befahl ihr, ihre Einheit zurückzuziehen und das Gebiet zu sichern - keiner durfte hinaus und, noch wichtiger, niemand durfte hinein. Insbesondere kein Lynchmob.
Aufmerksam beobachtete der Captain, wie Sten und Kilgour ihren Söldnern und Bhor-Truppen Befehle erteilten.
"Erst wenn man es zum vier—
oder
fünfhundertsten Mal macht, wird man wirklich gut", dachte Sten. "Erst dann ist man wirklich dagegen gewappnet, die eigenen Leute sterben zu sehen."
Er zog eine Kompanie schwerer Kampfpanzer zusammen, ließ sie die Barrikaden niederreißen und die Gebäude rings um das Hauptquartier
zertrümmern, um Feuerstellungen zu schaffen.
Schweres Geschütz wurde aufgebaut und gegen die Scharfschützen und MG-Nester eingesetzt.
"Diese elenden Panzerabwehr-Werfer", sagte Kilgour. "Für die habe ich genau die richtige Medizin parat."
So war es.
Kilgour hatte seine Scharfschützen - "Nur das Beste vom Besten, versucht bloß nicht, mir was anderes anzudrehen!" - an den Flanken postiert.
Während Sten einem A-Grav-Gleiter Befehl gab, vorzurücken, spürte er, wie Cind sich ihm näherte.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie das
Durcheinander auf verborgene Gefahren untersuchte
- verborgene Gefahren, die ihm drohten.
Die Pak-Mannschaft zielte, und wurde von den Scharfschützen ausgeschaltet. Weitere Soldaten, oder waren es Geheimpolizisten oder bezahlte Totschläger, rannten los, um sie zu ersetzen.
Willyguns krachten, und die neuen Artilleristen schafften es nicht einmal mehr bis zu ihren Gefechtspositionen. Ein dritter Versuch... und die Freiwilligen suchten das Weite.
"Mister Kilgour?"
Alex brüllte seine Befehle, und Stens
handverlesene Kampfeinheit stürmte im Laufschritt auf die heruntergefahrene Laderampe eines schweren Panzerwagens.
"Ihr braucht gar nicht erst vorher anzuklopfen", befahl Alex dem Panzerkommandanten. "Und gebt euch selbst ein bisschen Deckungsfeuer. Ab!"
Der Panzer schob sich mit mahlendem Getöse voran, die Geschütztürme blitzten. Eine seiner Ketten schob sich über einen verwaisten Pak-Werfer, und dann krachte das mehrere Tonnen schwere Ungetüm durch das Eingangstor in das riesige Atrium des Kabinettsgebäudes.
Dort fiel die Rampe wieder polternd herab. Sten und seine "Arresting Officers" kamen heraus. Er sah, daß die Brunnen mit einer grünen Kruste überzogen waren, und daß ein hoher, toter Baum in der Mitte des Atriums lag. Der Panzer hatte den Baum umgefahren, kurz bevor er zum Stehen gekommen war, um die Soldaten aussteigen zu lassen.
Sten warf einen Blick auf den kleinen Lageplan, den er in der Hand hielt. "Der Eingang des Bunkers ist... hier drüben. Langsam, verdammt! Oder wollt ihr dadurch berühmt werden, daß ihr die letzten seid, die drauf gehen?"
"Guter Rat!" dachte Sten. "Nehmt ihn euch zu Herzen. Ein toter Admiral als letztes Opfer dieses ...
Krieges? Dieser Revolte? Dieses Aufstands ?"
Irgend etwas, was nicht nur in einer Fußnote auftauchen würde.
Sie gingen tiefer und tiefer hinein ins Innere dessen, was einst das stolzeste Bauwerk des Privatkabinetts gewesen war. Cind und Alex hielten sich dicht an Sten, während sie sich wie vorsichtige Schlangen von Deckung zu Deckung
vorwärtsbewegten.
Es gab jedoch keinen Grund, vorsichtig zu sein.
Es gab keinerlei Widerstand mehr.
Sie fanden Malperin und Lovett in einem kleinen Raum sitzend. Sie schienen Stens Befehle nicht zu hören.
Cind starrte auf die beiden Wesen, diese leeren Hüllen, die einst ihre Regierungsoberhäupter gewesen waren. Sten glaubte so etwas wie Mitleid in ihren Augen zu erkennen.
Kilgour wiederholte Stens Befehle.
Schließlich reagierten sie auf sein Knurren. Sie erhoben sich auf seinen Befehl, ließen sich, ohne zu protestieren, nach Waffen und Hilfsmitteln zum Selbstmord durchsuchen und folgten anschließend der Festnahmeeinheit hinaus und hinauf.
"Es scheint fast so", dachte Sten, "als seien sie froh, daß jetzt alles vorbei ist."
Er fragte sich, ob ihre Apathie bis über den Zeitpunkt hinaus anhalten würde, an dem der Prozeß gegen sie eröffnet wurde.