Kapitel 32
Das Tribunal stand kurz vor der
Urteilsverkündung. Der letzte Zeuge war aufgerufen worden und hatte das letzte, fehlende Beweisstück geliefert. Die Richter zogen sich zur Beratung zurück. Wochenlange, zermürbende
Schreibtischarbeit folgte, während der sie sich durch Berge von Beweismaterial wühlten.
Sten empfand es zuerst als ein besonderes Privileg, zuschauen zu dürfen. Er, Alex und Mahoney drängten sich in einer Ecke zusammen, während Sr. Ecu und die drei Richter das Gewicht sämtlicher Details gegeneinander aufwogen. Als Gerichtsschreiber fiel Dekan Blythe die Aufgabe zu, den Verlauf der Debatte für die Rechtsgeschichte offiziell zu dokumentieren. Sr. Ecu legte besonderen Wert darauf, derartige Vorwürfe an die Jury zu verhindern, welchen Ausgang der Prozeß auch immer nehmen würde.
Die Richter nahmen ihre Aufgabe sehr ernst.
Warin war absolut unparteiisch, Apus eine engagierte Verteidigerin, obwohl sie das Kabinett haßte. Manchmal mußte sich Sten ins Gedächtnis rufen, was sie wirklich fühlte. Es brachte ihn richtiggehend auf, daß sie unablässig an der Verteidigung des Privatkabinetts arbeitete.
Andererseits bewunderte er sie auch dafür, mit welchem Ernst sie ihrer Pflicht nachkam.
Wenn sie jedoch die Informationen, die er aus dem Lovett-Stadion beschafft hatte, als üble Tricks oder böswillig manipulierte Beweisstücke abtat, dann fiel es ihm schwer, nicht ernsthaft sauer zu werden.
Aus Rivas hingegen, der nur aus philosophischen und keineswegs persönlichen Gründen nicht mit dem Kabinett übereinstimmte, wurde ein wütender Ankläger. Öffentlich und sogar privat brüllte er jeden Versuch nieder, die Verhandlung gegen das Kabinett zu Fall zu bringen. Sten kümmerte sich überhaupt nicht mehr um Vernunft, sobald Rivas loslegte. Er hatte zuviel Spaß an dessen unausgesetzten Angriffen. Es war Rivas, der immer wieder auf bestimmte Punkte zurückkam und darauf verwies, wie sich Verdachtsmoment auf
Verdachtsmoment häufte. Die geheimen
Abmachungen des Kabinetts wurden von ihm als Beweis dafür angesehen, daß es sich um eine Verschwörung handelte, wenn nicht gar um Schlimmeres.
Wochen zogen vorüber und Stens Augen wurden glasig. Alex und Mahoney erging es auch nicht besser. Sie verdrückten sich klammheimlich, wann immer sich die Gelegenheit bot. Leider war es fast noch schlimmer, den wartenden Livie-Reportern zu entkommen. Meistens blieben sie sitzen und dösten vor sich hin.
Endlich war es beinahe vollbracht. Das Tribunal bereitete sich auf die letzte Abstimmung vor. Rivas und Apus hatten ihre Rollen aufgegeben und betrachteten gemeinsam mit Warin den Fall nun als Unparteiische. Die zunehmende Spannung weckte Stens Interesse erneut. Er beugte sich nach vorn, damit ihm kein Wort entging.
"Ich glaube, wir müssen jetzt zu einem Entschluß kommen, verehrte Kollegen", sagte Sr. Ecu. "Sind Sie zu einer Entscheidung bereit?"
Sten konnte die Antwort nicht hören, da Alex ihm unmißverständlich den Ellenbogen in die Seite rammte. Mahoney ruderte an der Tür mit den Armen und gab den beiden zu verstehen, daß er sie außerhalb des Saales zu treffen wünschte.
Mahoney verlor keine Sekunde. Sobald sich die Tür hinter Sten und Alex geschlossen hatte, stürzte er sich auf sie.
"Es geht um Otho", sagte. "Irgend etwas Eigenartiges geht am Raumhafen vor sich. Wir müssen selbst hin. Los, Jungs."
Während sie zum Raumhafen eilten, berichtete ihnen Mahoney das wenige, was er wußte.
Augenscheinlich erwartete sie Besuch auf höchster Ebene - von Dusable.
"Was wollen die Schwachköpfe denn hier?" war Stens erste Reaktion.
"Die sind noch hinterhältiger als jeder Campbell", bekräftigte Kilgour.
"Wohl wahr", bestätigte Mahoney "Aber wir sollten nicht zu hart urteilen. Wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können, egal wie schleimig die Typen sind."
Mit Hilfe, so Mahoney, meine er in diesem Falle, daß es sich bei Dusable, egal, welche Gauner dort lebten, doch immerhin um eine rechtmäßig vom Imperium anerkannte Regierung handle - eine recht wichtige Regierung obendrein. Damit nicht genug, man hatte ihnen ganz offensichtlich nicht nur irgendwelche Botschafter geschickt. Laut Otho befand sich der neu gewählte Tyrenne Walsh an Bord, der Präsident des Konzils der Solons, und zusätzlich der Meister der politischen Trickartistik, Solon Kenna.
"Sie sind extra gekommen, um die
Vorgehensweise des Tribunals offiziell
anzuerkennen", sagte Mahoney "Und ebenso die erhobenen Anklagen. Sie sind bereit, vor die Kameras zu treten und sich offiziell gegen das Kabinett auszusprechen."
Sten brauchte keinen Auffrischungskurs in Politik, um zu wissen, was das bedeutete. Wenn sich sogar solche Widerlinge wie Kenna und Walsh auf ihre Seite schlugen, dann segelte das Tribunal eindeutig unter einem günstigen Wind. Wenn die anderen Verbündeten des Kabinetts davon erfuhren, war es mehr als wahrscheinlich, daß sich das Gleichgewicht noch weiter verschob.
Nur Otho und einige seiner Bhor-Truppen
befanden sich am Schiff, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Das Schiff war gerade gelandet, die Rampe wurde ausgefahren. Er informierte Sten hastig darüber, daß Livie-Teams bereits angefordert waren, man rechnete jede Minute mit ihrem Erscheinen.
"Beim langen, wehenden Bart meiner Mutter", grunzte er. "Das Glück ist auf unserer Seite. Schon beim ersten Mal, als ich dich traf, wußte ich, daß du ein Glückspilz bist, mein Freund." Er gab Sten einen kräftigen Klaps auf den Rücken.
Sten stellte fest, daß Otho, so grobschlächtig er auch manchmal war, trotz allem ein umsichtiger und kluger Regent war, der genau wußte, was die Zaungäste aus Dusable für sie alle bedeuteten.
Politische Erklärungen mußten da nicht mehr gegeben werden.
Mit einem zischenden Geräusch öffneten sich die Schleusenschotts des Schiffs, aber es dauerte geraume Zeit, bis jemand heraustrat. Schließlich tauchten Walsh und Kenna auf, gefolgt von ihren sonderbar lässig daherkommenden Assistenten. Sten war verwirrt. Er hatte einen klassisch-pompösen Aufzug erwartet. Vielleicht lag es daran, daß die Livie-Teams noch nicht erschienen waren. Dennoch kam ihm der Auftritt der beiden Politiker ziemlich mißglückt vor.
Walsh und Kenna näherten sich. "Sie wirken irgendwie nervös", dachte Sten. Sie zuckten fast zusammen, als Otho seinen Truppen schnarrend befahl, Haltung anzunehmen - soweit das den krummbeinigen Bhor überhaupt möglich war. Was hatten die beiden nur? Das gehört doch zum üblichen, wenn auch vielleicht etwas kläglichen, Begrüßungszeremoniell.
Mahoney trat einen Schritt nach vorn und begrüßte die beiden. Sten und Alex begleiteten ihn.
Aus dem Innern des Schiffs ertönte ein gedämpftes Geräusch. Sten war sich sicher, daß jemand einen Befehl gegeben hatte - und er hätte schwören können, daß er diesen Befehl nicht zum erstenmal hörte. Er achtete kaum darauf, daß Walsh, Kenna und ihre Begleittruppe sich hastig an die Seitenlinien zurückzogen. Er war zu sehr damit beschäftigt, mit offenem Mund zu glotzen.
Untersetzte kleine Männer, dunkelhäutig und mit stolzen Augen, verließen nun das Raumschiff in präziser Speerformation. Ihre kaiserlichen Uniformen waren hochdekoriert. Sie hielten ihre Kukris im Winkel von exakt fünfundvierzig Grad in die Höhe, und das Licht wurde von den glänzenden Klingen blendend zurückgeworfen.
Sten kannte diese Männer. Er hatte sie bereits kommandiert.
Die Gurkhas! Was in aller Welt hatten die denn hier verloren? Auf einem Schiff aus Dusable?
Dann sah er die Antwort. Er sah sie - und wollte seinen Augen nicht trauen. Jedenfalls zuerst.
Die vertrauteste Erscheinung aus Stens oder aus jedem anderen x-beliebigen Leben marschierte am Anfang der Speerformation. Er überragte die Gurkhas. Er sah weder nach links noch nach rechts, sondern hatte seinen brennenden Blick fürstlich geradeaus gerichtet.
Sten spürte, daß es ihm unmöglich war, sich zu bewegen, zu sprechen oder zu salutieren. Er spürte, wie seine Kameraden denselben eiskalten Schock erlitten wie er selbst.
"Bei den gefrorenen Arschbacken meines Vaters", murmelte Otho. "Er ist es."
Während sich der Zug auf sie zubewegte, teilte sich die Speerformation und schloß sich erneut. Sten starrte in diese merkwürdigen Augen, so alt und jung zugleich. Er sah, daß er erkannt wurde, hörte, wie sein Name genannt wurde. Alex zuckte zusammen, als nach einem kurzen Runzeln der fürstlichen Brauen auch sein Name ertönte.
Dann wandte sich der Mann an Mahoney und grinste ihn breit und sonnig an.
"Ich bin bloß froh, daß du hier noch herumhängst, Ian", sagte der Ewige Imperator.
Mahoney fiel in Ohnmacht.