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Er umklammerte den Pistolengriff fester. Auf einmal waren alle körperlichen Schmerzen vergessen - die aufgeplatzte Stelle an seinem Hinterkopf, die geprellte Schulter und die Schusswunde in seiner Wade. Sein Körper war wie betäubt.
Dafür flammte ein anderer Schmerz in ihm auf. Er war so vertraut wie ein alter Weggefährte. Er war wie ein eiserner Griff, der sich um Herz und Eingeweide schloss und zudrückte. Norbert Rauh hatte es Obsession genannt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen.
»Jan! Bitte, Jan!«
Fleischers weinerliche Stimme klang in Jans Gehirn, als würde der ganze Bunker von ihr widerhallen. »Jan! Bist du …« Ein Husten. »Bist du noch da?«
Jan wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er glaubte sich selbst zu beobachten, wie er sich in Zeitlupe zur Tür bewegte, den Schlüssel im Vorhängeschloss drehte und es wieder aus den Ösen entfernte.
Als er die Tür aufzog, schwankte ihm der Professor aus einem Flammeninferno entgegen. Er keuchte und spuckte aus. Seine Haare und Kleider waren versengt und das Gesicht rußverschmiert.
Jan packte Fleischer am Kragen und schleifte ihn mit sich. Sie hatten die Hälfte des Ganges erreicht, als die ersten Patronen in der Hitze platzten. Das laute Rattattatttat hörte sich an wie Knallfrösche, die Kinder am Silvesterabend auf die Straße werfen.
Hinkend hielten die beiden Männer auf die Ausgangstür zu, gelangten schließlich in den Vorraum und zu der Leiter, die zur offen stehenden Luke führte. Mühsam, Stufe für Stufe, kletterte Jan die Metallsprossen hoch. Fleischer folgte ihm dicht auf den Fersen. Hinter ihnen erschütterte eine erste größere Detonation die Erde, dann eine weitere.
»Schneller!«, brüllte Fleischer.
Kaum hatten sie den Waldboden erreicht, rannten sie los. Sie waren erst wenige Meter weit gekommen, als ein gewaltiges Beben den Boden erschütterte und sie von den Beinen riss.
Ohrenbetäubendes Donnern erfüllte die Luft. Erde spritzte auf, Holz und Gesteinsbrocken schlugen um sie herum ein, und Jan dachte: Jetzt ist es so weit. Jetzt werde ich sterben. Erschlagen von den Trümmern des Bunkers.
Nur wenige Meter von ihm entfernt tat sich der Boden auf, Flammen schossen krachend aus einem Maul aus Beton und Stahlgeflecht, ehe sie mit einem letzten Fauchen in den Höllenschlund zurückfuhren.
Dann war es vorbei.
Jan hustete und schaute um sich. Der Wald sah aus, als sei er von Bulldozern durchpflügt worden. Bäume lagen wie riesige Mikadostäbe übereinander. Pulverdampf trieb über dem geschmolzenen Schnee.
Wenige Meter entfernt hörte Jan das Keuchen und Husten des Professors. Auf allen vieren kroch er von Jan weg und zog sich an einer umgestürzten Fichte hoch. Wie es schien, hatte auch Fleischer keine größeren Verletzungen durch die Explosion davongetragen.
Jan sah auf die Pistole, die er noch immer in der Hand hielt. Mit der Linken tastete er sich ab. Kein neues Blut. Alles schien unversehrt. Dann richtete er sich auf.
Schwankend standen sich die beiden Männer gegenüber. Weiße Atemwölkchen quollen ihnen aus den Mündern. Um sie herum war es totenstill. Selbst die Krähen waren verstummt.
Jan hob die Waffe an und zielte auf Fleischers Stirn. »Ist Sven hier im Wald?«
Fleischer stieß einen Würgelaut aus und nickte.
»Los, zeigen Sie mir die Stelle!« Jan winkte auffordernd mit der Pistole.
Hustend humpelte Fleischer los. Jan ließ ihn ein paar Schritte vorangehen, ehe er ihm folgte. Sie gingen in Richtung der Hügelgräber, als Fleischer plötzlich stehen blieb.
»Hier«, keuchte er. »Hier ist es.«
Bestürzt starrte Jan auf den glatten Stamm der Buche, starrte auf die Pilzschwämme, die die Form von verkrüppelten Händen hatten - Klauenhände, wie Alfred Wagner sie genannt hatte -, und auf das gerahmte Marienbild, das im Lauf der Jahre mit dem Stamm verwachsen war.
»Carmens Sterbebild«, sagte Fleischer mit rauer Stimme, dann deutete er zwischen zwei dicke Wurzelstränge, die unterhalb des Bildes im Boden verschwanden. »Er liegt genau hier. Damit man ihn nicht mehr finden konnte, habe ich ihn mit …« Er wurde von einem erneuten Hustenanfall geschüttelt, ehe er weiterreden konnte. »Calciumoxid«, stieß er hervor. »Ätzkalk. Ich glaube nicht … dass noch etwas von seinem Körper übrig ist.«
»Und die Unterhose?«, fragte Jan, erstaunt, dass er dieses Wort nun ohne Emotionen aussprechen konnte.
»Das … habe ich erst nach seinem Tod getan«, sagte Fleischer. »Ich bin ein Stück gefahren und habe sie dann aus dem Fenster geworfen.«
Jetzt, da er alles wusste, was er hatte wissen wollen, fühlte Jan - nichts. Keine Trauer, keine Erleichterung. Eine abgrundtiefe Leere tat sich in ihm auf, ein schwarzes Nichts.
Müsste ich denn nicht irgendetwas empfinden?, schoss es ihm durch Kopf. Habe ich denn all die Jahre umsonst nach der Wahrheit gesucht?
Das kommt noch, hörte er eine Stimme in seinem Innern. Sie hörte sich wie die Stimme von Norbert Rauh an, wenn er auf dem Holzstuhl in seinem Behandlungszimmer mit den samtroten Wänden saß und mit seinen Patienten sprach. Sie stehen unter Schock, Jan. Warten Sie noch ein wenig, dann werden Sie etwas fühlen. Vielleicht sogar mehr, als Ihnen lieb ist.
Das weit entfernte Heulen von Sirenen holte Jan in die Gegenwart zurück. Wie es schien, hatte man auch in Fahlenberg und Kössingen die Explosion gehört und die Rauchsäule entdeckt, die vom Wald aufstieg.
Die Hände auf die Knie gestützt, stand Raimund Fleischer in gebückter Haltung da. Er sah Jan an und grinste.
»Weißt du, was wirklich komisch ist?«, krächzte er und musste wieder husten.
»Nein, sagen Sie es mir«, antwortete Jan mit monotoner Stimme.
Fleischer wischte sich mit den schmutzigen Händen übers Gesicht. »Jetzt kennst du die Wahrheit, aber du kannst nichts damit anfangen. Du hast nichts gegen mich in der Hand. Ich kann alles abstreiten. Und wem wird man eher glauben: einem renommierten Psychiatrieprofessor oder einem jungen Heißsporn, der leicht seine Fassung verliert und Patienten tätlich angreift?«
Fleischer lachte heiser auf. Doch er verstummte schlagartig, als Jan ihm die Waffe an die Schläfe drückte.
»Sie haben eins nicht bedacht«, sagte Jan mit einer Stimme, die ihm selbst fremd klang. Oder war es seine tatsächliche Stimme, die sich viele Jahre lang tief in ihm verborgen und auf ihren Moment gewartet hatte? »Vielleicht will ich Sie gar nicht der Polizei übergeben. Vielleicht will Sie ja ganz für mich allein haben. Los, hinknien!«
»Tu das nicht«, ächzte der Professor. »Mach dich nicht unglücklich, Junge!«
»Auf die Knie!«
Fleischer sank nieder. Vor Angst krampfte er die Hände in den mit Nadeln, Moos und modrigen Rindenstücken bedeckten Waldboden.
Verwundert stellte Jan fest, wie die innere Leere sich jetzt mit einem Gefühl füllte. Einem berauschenden Gefühl. Er spürte die Macht, die er über den Mörder hatte. Dies war sein großer Moment. Jan fühlte die schwere Waffe in der Hand. Er atmete tief durch.
»Nein«, keuchte Fleischer und stieß hektisch eine Reihe weißer Atemwölkchen hervor. »Bitte nicht. Noch können wir uns beide aus der …«
»Ruhe!«, fuhr Jan ihn an, und der Professor verstummte augenblicklich. »Sie haben sich getäuscht, Fleischer. Ich habe etwas gegen Sie in der Hand. Es ist nicht besonders groß, aber es genügt, um endlich unter alles einen Schlussstrich zu ziehen.«
Für eine Weile sah Jan auf Fleischer hinab, der keuchend vor ihm kniete und auf den Schuss wartete. Er genoss den Moment, auf den er so viele Jahre gewartet hatte. Dann griff er mit der Linken in seine Jackentasche, holte das Diktiergerät hervor und hielt es dem Professor vors Gesicht.
»Sie hätten vorhin im Bunker nachsehen sollen, warum ich in meine Jacke gegriffen habe.«
Jan drückte die Stopptaste, und Fleischer zuckte zusammen, als hätte sich ein Schuss gelöst.