26

Jan war kaum zu Hause angekommen, als ihn ein derartiger Heißhunger überfiel, dass er am liebsten in Winterjacke und Schuhen zum Kühlschrank gelaufen wäre. Marenburg war nicht da und hatte auch keinen Zettel auf dem Tisch hinterlassen, wie er es sonst zu tun pflegte.

Ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen, räumte Jan den Inhalt des Kühlschranks auf den Küchentisch, schnitt sich einige Scheiben von einem Laib Graubrot ab und begann zu essen.

Während er Wurst, Käse und Gewürzgurken in sich hineinstopfte, fühlte sich sein Kopf wie leergefegt an. Das war gut so. Wie es schien, hatte Jans Gehirn zum ersten Mal seit Ewigkeiten ein Einsehen mit ihm. Es hatte auf Sendepause geschaltet und es dem Rest des Körpers überlassen, seine Bedürfnisse zu befriedigen.

Nachdem die Fressattacke vorüber war und Jan den dezimierten Vorrat an Essbarem in den Kühlschrank zurückgeräumt hatte, ging er ins Badezimmer im ersten Stock. Er ließ Wasser in die Wanne ein, legte sich hinein und starrte mit leerem Blick auf die cremefarbene Kachelwand.

Diese Fliesen müssen in den späten Sechzigern der letzte Schrei gewesen sein, war das Einzige, woran er in der nächsten halben Stunde dachte.

Nach dem Bad fühlte er sich besser. Er setzte sich mit einem Bier in die Küche und legte das Diktiergerät aus seiner Jacke vor sich auf den Tisch. Im Licht der Küchenleuchte wirkte das abgegriffene Metallgehäuse stumpf. In den Vertiefungen der Tasten, wo sich die einstmals weißen Symbole für Start, Aufnahme, Vor- und Rücklauf befunden hatten, hatten sich graue Schmutzspuren angesammelt. Start- und Rücklaufsymbol waren gänzlich abgerieben.

Jan drückte die Starttaste und schaltete sofort wieder aus.

Ich hab sogar mal deinen toten Bruder gehört.

Das war die Stimme von Alfred Wagner. Jan hörte sie so klar und deutlich wie ein Echo in seinem Kopf.

Er gehört jetzt zu den Unterirdischen.

»Ein Wahnkonstrukt, weiter nichts«, murmelte Jan dem Gerät zu.

Alfred musste sich das zusammengesponnen haben. Selbstverständlich hatte er von Svens Verschwinden gewusst. Jeder, der damals in Fahlenberg gelebt hatte, wusste davon. Wahrscheinlich hatte er sich nun wieder daran erinnert, als sie sich begegnet waren. Vielleicht hatte er es auch nie vergessen.

Andererseits …

Unterirdischer?

Was, zum Teufel, konnte er nur damit gemeint haben? War Sven damals von seinem Mörder verscharrt worden? Hatte der verrückte Kerl womöglich etwas beobachtet? Oder war er es am Ende selbst gewesen?

Alfred war genauso alt wie Jan, also war er damals zwölf gewesen. Und in starkem Maße »verhaltensauffällig«. Einem Jungen, der anderen Kindern auf den Kopf pinkelte, ihnen die Nase brach und die Zähne ausschlug, und das nur wegen eines Spielzeugs, wäre es zuzutrauen gewesen, dass er einen Sechsjährigen entführte. Was immer ihn dazu getrieben haben konnte - denkbar wäre es durchaus.

Vielleicht hatte es Alfred dann mit der Angst zu tun bekommen, oder die beiden hatten gestritten - Sven hatte sich die Entführung bestimmt nicht so einfach gefallen lassen - und dann …

Alfred war schon als Kind kräftig gewesen. Was, wenn er Sven danach verscharrt hatte, zu tief, als dass ihn die Hunde der Suchmannschaften hätten finden können? Die Gegend um Fahlenberg war ländlich und weitläufig genug, dass auch das wachsamste Auge einen frischen Erdhaufen am Rande eines Feldes oder in den zahlreichen Waldstücken um den Ort übersehen konnte. Zwar hatte man schließlich sogar mit Methansonden gesucht - nachdem man endgültig überzeugt gewesen war, dass Sven tot sein musste -, doch außer ein paar Haustieren, die illegalerweise in Schrebergärten begraben worden waren, hatte man keine Leichenreste gefunden.

Aber was besagte das schon?

Von Alfred würde Jan keine Antwort mehr bekommen. Kurz vor Dienstschluss hatte Jan auf der Intensivstation angerufen und sich nach Alfreds Zustand erkundigt.

Ob er der Kollege sei, der Herrn Wagner reanimiert habe, hatte der behandelnde Arzt von ihm wissen wollen. Nachdem Jan diese Frage bejaht hatte, hatte der Arzt hinzugefügt: »Einen Gefallen haben Sie ihm damit nicht getan.«

Alfred lag mit schwersten Hirnschädigungen im Koma. Und da er ansonsten über eine robuste körperliche Konstitution verfügte, würde sich an diesem Zustand wohl so schnell nichts ändern.

»Beten Sie, dass er nicht mehr zu sich kommt«, hatte der Arzt am Telefon hinzugefügt. »Bei dem bisschen, was wir von seinem Hirn retten konnten, wäre ihm das nicht zu wünschen.«

Dann hatte er aufgelegt.

Wieder drückte Jan die Starttaste des Diktiergeräts. Er hatte die Rückseite der Kassette eingelegt, den Teil mit der Aufnahme, als Sven verschwunden war.

In der Küche war es still. Nur das abgehackte Ticken der Küchenuhr war zu hören. Es vermischte sich mit dem Rauschen auf dem Band. Mehr hörte Jan nicht. Wie immer.

Damals war das Band von Experten untersucht worden. In einem Tonstudio hatte man jedes noch so kleine Geräusch herausgefiltert, von den übrigen getrennt und verstärkt. Doch nichts davon erwies sich als brauchbar.

Was man hören konnte, war das Knirschen von Schritten im Schnee, die mit größter Wahrscheinlichkeit von Jan oder Sven selbst stammten, das Heulen des Nachtwindes und ein kurzer, sehr hoher Ton unmittelbar vor Ende der Aufnahme.

Vor allem dieser Laut, der sich wie Fiep! anhörte, hatte die Tontechniker interessiert. Wieder und wieder hatte man den Teil der Aufnahme verstärkt, die Ablaufgeschwindigkeit reduziert und mit allen technischen Mitteln untersucht.

Das Resultat erwies sich dennoch als äußerst dürftig. Möglich, dass es tatsächlich Svens Stimme war, hieß es seitens der Experten - die hohe Stimme eines Sechsjährigen, der von seinem Entführer überrascht wurde. Vielleicht von jemandem, der von hinten an ihn herangeschlichen war und ihm die Hand auf den Mund gepresst hatte. Es war aber ebenso möglich, dass dieser hohe kurze Laut von einem Kleintier stammte, das in der Nähe gewesen war - vielleicht ein Eichhörnchen, das in seiner Winterruhe gestört wurde, oder ein Marder. Mehr könne man wirklich nicht sagen, hatte es geheißen.

Jan behielt das Zählwerk im Auge. Kurz bevor die Stelle mit dem hohen Ton zu hören war, schaltete er das Gerät wieder ab.

925. Bis dahin und nicht weiter!

Wieder rief sich Jan die Worte seines Vaters in Erinnerung: Manchmal stellt uns das Leben Fragen, auf die es keine Antworten gibt.

Jan dachte, dass uns das Leben auch manchmal völlig unvorbereitet mit Vergangenem konfrontiert. Als er beim Anziehen frische Unterwäsche aus dem Schrank genommen hatte, hatte er die Erinnerung noch abwehren können, doch nun war sie wieder da.

Er hatte an Alfred gedacht, der die Slips der Patientinnen geklaut hatte. Von dort war es nur ein kleiner Schritt zu Peter Laszinski, dem Kinderschänder, der Jans Nervenzusammenbruch ausgelöst hatte.

Jan sah sich wieder mit Laszinski in dem Besucherraum sitzen. Nur sie beide. Die beiden Wachmänner warteten vor der Tür.

»Ein getragenes Höschen Ihrer Frau für meine einsamen Nächte«, hörte er Laszinski wieder sagen, »und ich werde meine Beziehungen spielen lassen wegen Ihres Bruders. Dann hätten Sie Gewissheit, ob er wirklich einem wie mir in die Hände gefallen ist. Was halten Sie davon?«

Jan hatte mit seiner Antwort gezögert. Nur einen winzigen Augenblick, aber doch lange genug, um Laszinski ein diabolisches Grinsen zu entlocken. In diesem winzigen Augenblick hatte Laszinski Macht über ihn gehabt. Er hatte die offene Wunde in Jans Seele gefunden, und mit seinem Grinsen hatte er genüsslich Salz in diese Wunde gestreut.

Deswegen hatte Jan zugeschlagen. Nicht aus Wut auf einen Perversen, der den Tod eines kleinen Mädchens und die schweren seelischen Schäden ihrer Schwester zu verantworten hatte - nein, es war die Wut auf sich selbst gewesen. Auf seine Suche nach der Wahrheit, die zu einer Obsession ausgeartet war, und auf seine Unfähigkeit, davon loszukommen.

In Laszinskis Grinsen hatte Jan seine eigene Besessenheit widergespiegelt gesehen. Seine verzweifelte Hoffnung, jemand könne ihm erklären, was aus Sven geworden war - eine Hoffnung, die einer schweren Sucht gleichkam.

Für Sekundenbruchteile hatte Jan Laszinski glauben wollen. Ja, er wäre bereit gewesen, ihm eines von Martinas Höschen in die Zelle zu schmuggeln. Genauso wie er Alfred hatte glauben wollen, als dieser ihm von den Unterirdischen erzählt hatte.

Du bist ein naiver Idiot, der nach jedem Köder schnappt.

 

Das Klingeln der Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. Jan trank noch einen Schluck Bier und ging dann auf den Flur. Er steckte das Diktiergerät in seine Jacke zurück und machte die Tür auf.

Ralf Steffens stand draußen, bleich wie immer, zusammen mit einer Frau, deren Gesicht im Schatten der Kapuze nicht zu erkennen war.

»Guten Abend, Dr. Forstner. Ich weiß, Sie hatten heute einen schweren Tag, aber können wir trotzdem reden?«

Jan fiel erst jetzt die Verabredung wieder ein. Ihm war nicht im Geringsten nach einem Gespräch mit dem Pfleger zumute, aber versprochen war versprochen.

»Kommen Sie herein«, sagte er und trat zurück.

Die Frau streifte sich die Kapuze ihres Anoraks vom Kopf und sah Jan im Vorbeigehen auf merkwürdig vertraute Weise an.

»Hallo, Jan.«

Jan schloss die Tür und musterte die Frau. Sie kam ihm bekannt vor, und doch auch wieder nicht.

»Kennen wir uns?«

Sie strich sich die Lockenmähne zurück, die ihr die Kapuze verstrubbelt hatte. »Ich bin Carla Weller.«

Jan runzelte die Stirn. »Carla Weller, hm. Ehrlich gesagt kann ich mich nicht erinnern.«

Lächelnd betrachtete sie den hölzernen Nachtwächter auf Marenburgs Garderobentisch und fuhr mit der Fingerspitze über den leicht verstaubten Kopf der Statue.

»Hätte mich auch gewundert. Aber vielleicht sagt dir ›Steigbügel‹ noch etwas?«

»Steigbügel?«

»Ja, ist schon’ne Weile her. Ich geb dir noch zwei Stichworte: Gymnasium, Schulhof.«

Augenblicklich lief Jan rot an. Herrgott ja, das sagte ihm sehr wohl etwas. Ihm fiel das Mädchen wieder ein, das am Zaun zum Pausenhof des Gymnasiums gestanden und Jan und seine Freunde beobachtet hatte. Sie konnte kaum älter als zehn und Jan musste damals zwölf gewesen sein.

Es war der Sommer vor Svens Verschwinden gewesen. In fast jeder Vormittagspause hatte die Kleine am Zaun gestanden und Jan nicht aus den Augen gelassen. Sie war alles andere als eine Schönheit gewesen. Die dunklen, lockigen Haare trug sie zu einer unförmigen Frisur zusammengebunden. Sie erinnerten Jan an die Stahlwolle, mit der seine Mutter Angebranntes aus Töpfen schrubbte.

Außerdem war sie viel zu mager. Und sie trug eine Zahnspange mit einem metallenen Außenbügel, der mit Gummiringen an einer Nackenhalterung befestigt war. Diese Zahnspange hatte Jan gemeint, als er eines Tages zu ihr gegangen war - genervt von der ständigen Beobachtung, über die seine Freunde schon Witze rissen - und sie ansprach.

»Was willst du eigentlich von mir, Steigbügel?«

Daraufhin hatte das Mädchen »Arschloch!« gezischt und war weggelaufen.

»Na, ist der Groschen gefallen?«

Carla musterte ihn eingehend.

»Ähm, ja«, sagte Jan und räusperte sich. »Denke schon. Muss dich ja damals schwer beschäftigt haben, wenn du dich heute noch daran erinnerst.«

»Ja, das hat es. Aber es beruhigt mich, dass du dich auch noch daran erinnerst.«

»Gilt es noch, wenn ich mich jetzt dafür entschuldige?«

»Klar.« Carla nickte zufrieden. »Schwamm drüber. Wo können wir reden?«

Noch ganz perplex, zeigte Jan auf die Küchentür.

Die beiden setzten sich an den Küchentisch, und Jan bot ihnen etwas zu trinken an. Carla entschied sich für ein Mineralwasser, und Ralf bat um das Gleiche. Mit einem kurzen Seitenblick auf Jans Bier meinte er: »So schnell nicht wieder.«

»Also«, sagte Jan, als er sich zu ihnen setzte, »worüber wollt ihr mit mir reden?«

»Es geht um Nathalie Köppler«, sagte Carla.

»Ja, das hat mir Ralf bereits angekündigt.«

Carla holte ein gefaltetes Blatt Papier aus ihrer Gesäßtasche, öffnete es und strich es auf der Tischfläche glatt.

»Wir versuchen den Grund herauszubekommen, weshalb sie sich umgebracht hat. Weder Ralf noch ich haben eine Erklärung dafür. Nathalie war niemand, der plötzlich auf die Idee kommt, von einer Brücke zu springen. Und das hier ist ebenfalls sehr seltsam.«

Sie schob Jan das Blatt hin. Es war der Ausdruck einer E-Mail. Jan las das Datum. Die E-Mail war kurz vor Nathalies Tod an Carla abgeschickt worden. Wenige Stunden bevor Jan sich über Nathalie gebeugt und ihre Hand ergriffen hatte.

Jan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und las. Dies war die Nachricht einer völlig verwirrten, panischen Person. Jemand, der vor Angst völlig enthemmt war und sich keine Gedanken mehr über die Formulierung seiner Worte machte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Nathalie einfach geschrieben, was sie dachte. Deshalb war jedes Wort von Bedeutung, und Jan las jeden Satz mehrmals. Bei Der Dämon aus meinem Kopf ist real!!! blieb er hängen.

Wieder sah er das zerquetschte Gesicht der jungen Frau vor sich. Schneeflocken auf blutiger Haut. Ein einzelnes Auge, das zuckend seine Umgebung zu erfassen versuchte. Eine röchelnde Stimme.

Gäoh!

Jan spürte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Dieser Laut, dieses Gäoh

Der Dämon aus meinem Kopf ist real!!!

Wie würde es sich wohl anhören, wenn jemand mit gebrochenem Kiefer versuchte, das Wort »Dämon« auszusprechen?

Carla schien seine Reaktion bemerkt zu haben. »Was ist?«

»Nichts«, log Jan und sah kurz zu Ralf, der sich wie ein Häufchen Elend an seinem Wasserglas festklammerte. »Ich dachte nur gerade, dass sich diese E-Mail wie die Nachricht einer Person liest, die unter einer starken Paranoia leidet. Dieser Dämon, den sie erwähnt … Klingt wie eine Wahnvorstellung.«

»Nathalie war nicht verrückt!«, fuhr Ralf ihn scharf an. Dann schlug er die Augen nieder. »Entschuldigung … Es ist nur so, dass wir uns das selbst nicht erklären können. Nathalie ging es vor ihrem Klinikaufenthalt nicht gut, das stimmt schon. Sie hatte … nun ja, Ängste eben. Aber sie hatte keine Wahnvorstellungen. Und als sie wieder zu Hause war, ging es ihr sehr viel besser. Wenn Sie sie gesehen hätten, wüssten Sie, was wir meinen.«

»Schon gut«, sagte Jan. »Ich glaube Ihnen ja. Ich verstehe nur nicht ganz, was ihr beide von mir wollt.«

»Du bist Psychiater«, sagte Carla, »und du bist …«

»Wir wollen Ihre Meinung dazu wissen«, unterbrach sie Ralf. Er warf Carla einen kurzen Blick zu und trank dann hastig aus seinem Glas.

Jan sah die beiden an. Er vermutete, sie wussten mehr, als sie ihm bisher gesagt hatten. Vielleicht weil sie sich noch nicht vollkommen sicher waren, ob sie ihm trauen konnten.

»Warum kommt ihr damit zu mir? Warum sprecht ihr nicht mit dem Arzt, der Nathalie behandelt hat?«

»Weil wir zuerst eine neutrale Meinung hören wollen«, erklärte Carla.

»Und weil wir glauben, dass Sie jemand sind, der uns nicht mit irgendwelchen Floskeln abspeist«, fügte Ralf hinzu. »Sie wissen doch selbst, wie es ist, wenn man jemanden verliert und nicht weiß, warum.«

Jan sah ihn verwundert an. Ralf war noch zu jung, um von Sven wissen zu können. »Woher wissen Sie von meinem Bruder?«

Ralf machte eine verlegene Geste. »Ach, wissen Sie, das war so ziemlich das Erste, was ich über Sie gehört habe.«

»Von wem?«

»Nun komm schon, Jan.« Carla sah ihn an, als habe er gerade etwas sehr Dummes gefragt. »Orte wie Fahlenberg haben ein langes Gedächtnis.«

»Länger, als einem manchmal lieb ist«, entgegnete Jan. »Und jetzt lasst uns die Karten auf den Tisch legen. Ihr seid hier, weil ihr euch schon woanders erkundigt habt und man euch keine zufriedenstellende Antwort gegeben hat. Liege ich da richtig?«

»Für die Polizei war es Selbstmord«, sagte Carla. »Es liegt kein Verbrechen vor, also wurde die Akte geschlossen.«

»Und was hat der behandelnde Arzt gesagt?«

»Dr. Rauh?« Carla verzog abfällig das Gesicht. »Nichts.«

»Nichts?«

»Er hat sich auf seine Schweigepflicht berufen und wieder aufgelegt.«

»Und ich habe ihn nicht gefragt«, ergänzte Ralf. »Niemand in der Klinik weiß, dass ich mit Nathalie zusammen bin … ich meine, zusammen war.« Er zupfte an seinem Bärtchen. »Scheiße, ich kann’s immer noch nicht glauben.«

»Warum haben Sie nicht mit Dr. Rauh gesprochen?«, wollte Jan wissen.

Ralf schüttelte den Kopf. »Wenn ich Rauh oder sonst jemandem erzählt hätte, dass Nathalie meine Freundin ist, hätte es Gerede gegeben. Am Schluss hätte es noch geheißen, ich mache mit Patientinnen rum oder so. Dass sie schon vorher meine Freundin war, hätte niemand interessiert. Verstehen Sie?«

Jan nickte. »Durchaus. Krankenhaustratsch kann übel sein.«

»Ich hab mich aber umgehört«, fuhr Ralf fort. »Laut Rauh ist es ›Suizid infolge einer unvorhersehbaren Panikattacke‹ gewesen. Tja, und das war’s dann eben.«

»Aber ihr beiden, glaubt das nicht?«

»In gewisser Weise schon«, sagte Ralf, »aber wir verstehen den Grund nicht. Weshalb bekommt Nathalie wie aus heiterem Himmel eine Panikattacke? So etwas habe ich noch nie gehört, und ich arbeite ja auch schon’ne Zeit lang in der Psychiatrie.«

»Na schön.« Jan rieb sich die Schläfen. »Ihr wollt also meine Meinung hören. Dann sollte ich zunächst einmal mehr über Nathalie wissen. Was für Ängste hatte sie, dass sie deshalb in die Klinik ging?«

Wieder wechselten Ralf und Carla Blicke miteinander. Ralf nickte, und Carla schien dies als Aufforderung zu verstehen.

»Nathalie war ein liebes und wirklich hübsches Mädchen«, sagte sie. »Wenn wir zusammen weggegangen sind, hat es nie lange gedauert, bis sich irgendein Typ für sie interessiert hat. Sie hatte so etwas, was die Männer anzog.«

»Hat sie mit diesen Männern geflirtet?«

»Nein, absolut nicht«, sagte Carla. »Keine Ahnung, wie ich das beschreiben soll, vielleicht weckte sie bei denen so eine Art Beschützerinstinkt. Aber sie hat sich nie auf eine Beziehung einlassen können. So lange ich sie kannte, hatte sie nie einen Freund. Bis sie Ralf kennengelernt hat.«

»Warum nicht früher?«

Ralf räusperte sich. »Sie … also sie … sie hatte Angst vor körperlicher Nähe. Körperlicher Nähe von Männern.«

»Sie meinen, sie hatte Angst vor Sex?«

Ralf nickte. »Ja, aber nicht nur das. Es dauerte’ne ganze Weile, ehe ich sie zum ersten Mal in den Arm nehmen konnte, ohne dass sie steif wie ein Brett wurde.«

»Aber das hat Sie nicht davon abgehalten, weiterhin mit ihr …«

»Dr. Forstner, ich hab sie geliebt!«, fuhr Ralf auf. Er stellte sein Glas so heftig ab, dass Wasser überschwappte. »Ich weiß, das klingt vielleicht reichlich naiv, aber es war so. Nathalie war jemand ganz Besonderes für mich. Ich war bei ihr nicht nur auf Sex aus. Sie wollte, dass ich ihr damit Zeit lasse, und das hab ich akzeptiert.«

»Tut mir leid«, sagte Jan. »So war das nicht gemeint. Ich versuche nur, das alles zu verstehen. Und was den Dr. Forstner betrifft, so schlage ich vor, dass wir uns duzen. Ich bin Jan.«

Ralf nickte. »Alles klar, Jan.«

»Hat Nathalie jemals mit einem von euch darüber gesprochen? Ich meine, darüber, warum sie solche Angst vor Nähe hatte?«

»Ja, mit mir«, sagte Carla. »Später auch mit Ralf, aber mir hat sie zuerst davon erzählt. Es hatte mit ihrer Kindheit zu tun.«

»Ist sie missbraucht worden?«

»Nein«, Carla strich sich eine Locke aus dem Gesicht. »Aber es war trotzdem sehr schlimm für sie.«

Carla begann zu erzählen, und das, was Jan zu hören bekam, war tatsächlich schlimm genug, um ein kleines Mädchen zu traumatisieren.

Nathalie war ohne Vater aufgewachsen. Sie hatte ihn nie kennengelernt. Ihre Mutter hatte ständig wechselnde Beziehungen und hätte beim besten Willen nicht sagen können, wer von ihren zahllosen Liebhabern überhaupt als Vater infrage gekommen wäre. Das hatte sie zumindest zu Nathalie gesagt, und Nathalie hatte eingesehen, dass es sinnlos war, weiter nach ihm zu fragen. Sie hatte keinen Vater. Damit musste sie leben. Punktum.

Als Nathalie acht gewesen war, kam sie eines Tages früher vom Unterricht nach Hause. An ihrer Schule kursierte eine Grippewelle, die auch vor den Lehrkräften nicht Halt machte, und da keine Vertretung mehr verfügbar gewesen war, hatte man die Kinder heimgeschickt.

Im Gegensatz zu vielen ihrer Mitschüler hatte sich Nathalie jedoch nicht sehr darüber gefreut. Ihre Mutter war in letzter Zeit häufig übellaunig, vor allem, wenn Nathalie Ferien oder schulfreie Tage hatte, und wahrscheinlich würde sie sie auch an diesem Tag wieder zum Spielen schicken. Zu einer Freundin oder auch einfach nur auf die Straße - Hauptsache, sie hatte Ruhe vor ihr.

Natürlich liebte ihre Mutter sie. Natalie war ihr ein und alles - jedenfalls, wenn sie sie »meine kleine Prinzessin« nannte. Aber es gab auch Tage, an denen die kleine Prinzessin nur ein »Plagegeist« war, und in letzter Zeit waren diese Tage immer häufiger geworden.

Als sie ihre Mutter fragte, was mit ihr sei, hatte sie zur Antwort bekommen: »Das verstehst du nicht«, und sie hatte begriffen, dass es besser war, nicht mehr danach zu fragen. Es gab einfach Dinge, die sie nichts angingen, und Nathalie hatte keine Lust, wieder einen Abend mit einer brennenden Wange im Bett zu verbringen.

Als sie an jenem Tag nach Hause kam, zog sie leise die Tür hinter sich ins Schloss und versuchte, beim Ablegen ihrer Jacke keine lauten Geräusche zu machen. Manchmal legte sich ihre Mutter am Vormittag noch einmal ins Bett - vor allem dann, wenn es nachts wieder spät bei ihr geworden war.

Gerade als Nathalie in ihr Zimmer gehen wollte, hörte sie einen Schrei und dann noch einen. Die Schreie kamen aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter. Erschrocken lief Nathalie ans Ende des Flurs und riss die Tür auf.

Carla rieb sich die Stirn und seufzte. »Tja, und was sich in diesem Raum abspielte, hat den Verstand der Achtjährigen einfach überfordert. Als sie es mir erzählt hat, konnte ich es ja nicht einmal als Erwachsene nachvollziehen.«

»Was hat sie gesehen?«, fragte Jan.

Carla nahm einen Schluck von ihrem Wasser und erzählte weiter.

 

Nathalie sah ihre Mutter. Sie kniete vor dem Heizkörper unter dem Fenster, und Nathalie sah, dass sie mit Handschellen daran gefesselt war. Bis auf die zerrissene Strumpfhose war ihre Mutter nackt, und man konnte zahlreiche Striemen und blaue Flecke auf ihrem Rücken erkennen.

Das alles war schon grässlich anzusehen, aber am meisten erschrak Nathalie vor den beiden Männern, die bei ihrer Mutter waren. Auch sie waren nackt. Nur ihre Gesichter waren durch Ledermasken verborgen.

Im ersten Augenblick war Nathalie vor Schreck wie starr. Sie sah noch, wie einer der Männer ihrer Mutter ins Gesicht schlug, während der andere hinter ihr auf dem Boden kniete und durch seine Maske keuchte. Dann bemerkte der Schläger das Kind.

Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte Grabesstille, ehe Nathalie ein leises »Mama?« zustande brachte.

Der Schläger schrie sie an, sie solle verschwinden, und der zweite Mann glotzte sie nur stumm an.

Noch immer vor Schreck wie gelähmt, sah Nathalie in das Gesicht ihrer Mutter. Sie hatte sich zu ihrer Tochter umgesehen, und Nathalie fiel ein dünnes rotes Rinnsal auf, das ihr aus dem Mundwinkel lief.

Nathalie wollte irgendetwas tun. Schreien. Zu ihrer Mutter laufen. Sie vor diesen Monstern beschützen. Oder aus dem Zimmer rennen. Aber sie konnte nicht. Alles, was sie konnte, war dazustehen und auf das Unbegreifliche zu starren.

Und dann lächelte ihre Mutter ihr zu. Sie musste Schmerzen haben, aber dennoch lächelte sie. Es war dieses ganz besondere Lächeln, das aus tiefstem Herzen zu kommen schien und das sagte: Alles ist in Ordnung.

»Sei brav, Prinzessin, und geh draußen spielen«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang so weich und sanft wie schon lange nicht mehr.

»Unglaublich!«

Jan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah zur Decke.

»Ihre Mutter hat später mit ihr darüber gesprochen«, sagte Carla. »Sie muss versucht haben, ihr zu erklären, dass es ihr gefällt, sich verprügeln und vergewaltigen zu lassen. Aber erklär mal einer Achtjährigen, was nicht einmal einem normal denkenden Erwachsenen einleuchten will.«

»Deshalb also ihre Angst vor Männern«, sagte Jan. »Sie muss als Kind geglaubt haben, das sei die normale Art von Geschlechtsverkehr, und ist innerlich nicht mehr von dieser Vorstellung losgekommen.«

»Natürlich hat sie später gewusst, dass nicht alle Kerle so drauf sind«, sagte Carla, »aber sie hat sich einfach nicht getraut, sich auf eine sexuelle Beziehung einzulassen. Die Angst hing an ihr fest wie eine Klette, und ich habe wirklich alles versucht, um ihr zu helfen, Jan. Sie ist dem Thema ausgewichen, sobald man es nur ansprach. Manchmal hat da schon ein zweideutiger Witz ausgereicht.«

»Sie nannte diese Angst ihren ›Dämon‹«, fügte Ralf hinzu. In seinen Augen schimmerten Tränen. »Irgendwann hat sie es mir erzählt. Sie wolle mich nicht verlieren, hat sie gesagt, aber sie konnte einfach nicht mit mir schlafen.«

»Und wie bist du damit umgegangen?«

»Ich … ich habe ihr gesagt, dass ich immer zu ihr stehen werde und dass ich warten kann, bis sie es auch will. Wenn’s hätte sein müssen, hätte ich mein ganzes Leben drauf gewartet. Ich hab sie doch geliebt.« Er begann zu weinen.

»Dann ist sie also dir zuliebe in die Therapie gegangen?«, fragte Jan.

Ralf schniefte, zog ein zerknäultes Papiertaschentuch aus der Hosentasche und putzte sich geräuschvoll die Nase.

»Ich hab sie dazu überredet«, erklärte er, noch immer schluchzend.

»Und danach ging es ihr besser?«

Schulterzuckend stopfte Ralf das Taschentuch in seine Jeans zurück. »Wir hatten keinen Sex, wenn du das meinst. Aber ich konnte sie zum ersten Mal richtig in den Arm nehmen, ohne dass sie sich verkrampfte. Im Gegenteil, sie hat sogar von sich aus meine Nähe gesucht.«

»Erzähl ihm von dem Abend«, forderte ihn Carla auf.

Jan sah sie fragend an. »Welcher Abend?«

»Der Abend bevor sie es getan hat«, sagte Ralf, der sich wieder fasste. »Da ist etwas Seltsames passiert, und ich Trottel war zu dumm, es zu merken.«

»Was war es?«

»Ich war mit Nathalie fürs Kino verabredet, aber als ich sie abholen wollte, hat sie nicht aufgemacht. Also hab ich es auf ihrem Handy versucht. Ich stand noch im Treppenhaus und hab das Handy in ihrer Wohnung klingeln gehört, aber sie schien nicht da zu sein. Dann hab ich eine Weile gewartet, weil ich gedacht hab, sie sei kurz weggegangen.« Ralf starrte auf das Tischtuch, dann lächelte er versonnen. »Manchmal bekam sie urplötzlich Lust auf den vegetarischen Döner von Ahmet. Der hat seinen Stand gleich bei ihr um die Ecke.«

»Aber da war sie nicht?«, fragte Jan.

Das versonnene Lächeln verschwand so plötzlich, als habe man es abgeschaltet. »Nein. Ahmet meinte, er habe sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Ihr Polo stand auf dem Parkplatz im Hinterhof, sie muss also doch daheim gewesen sein.« Ralf tauchte einen Zeigefinger in die kleine Wasserpfütze auf dem Wachstuch, dann betrachtete er den Tropfen auf der Fingerkuppe, als habe er so etwas noch nie gesehen.

»Ich hab mir nichts Schlimmes dabei gedacht«, sagte er leise. »Ich dachte, sie hätte wieder einen ihrer Schlafanfälle.«

»Schlafanfälle?«

»Ja.« Ralf schnippte den Tropfen auf den Boden. »Seit sie aus der Klinik zurück war, hatte sie das öfter mal. Wahrscheinlich von ihren Medikamenten.«

»Was hatte man ihr verschrieben?«

»Trimipramin.«

»Ja, das kann müde machen«, bestätigte Jan. »Und was ist dann passiert?«

»Nichts.« Ralf hob ratlos die Hände. »Ich bin wieder heimgefahren. Später hab ich dann noch zweimal versucht, sie anzurufen, aber sie ging nicht ran. Danach habe ich sie in Ruhe gelassen, weil ich dachte, sie schläft. Erst als ich sie am nächsten Morgen von der Arbeit aus angerufen habe und sie sich noch immer nicht gemeldet hatte, hab ich mir Sorgen gemacht. Und dann … dann hat Carla angerufen und mir gesagt, was passiert ist.«

Nun war Jan auch klar, weshalb Ralf bei ihrer ersten Begegnung so ernst gewesen war. Der Junge tat ihm entsetzlich leid.

»O Mann!« Ralf schlug mit der flachen Hand auf das Tischtuch, und die Wasserpfütze spritzte nach allen Seiten davon. »Ich bin so ein Idiot! Ich hätte merken müssen, dass da was nicht gestimmt hat.«

»Nein, Ralf«, sagte Carla und legte ihre Hand auf die seine. »Selbstvorwürfe bringen jetzt gar nichts.«

»Das sagst du so einfach.« Er sah sie an, und um seinen Mund zuckte es. Dann brach er erneut in Tränen aus. »Wie konnte sie bloß glauben, dass ich sie wieder in die Klinik zurückschicke? Warum hat sie denn nicht wenigstens versucht, mit mir zu reden? Ich war doch immer für sie da. Vielleicht ist sie an dem Abend ja zu Hause gewesen und hat nur nicht reagiert, weil sie Angst gehabt hat. Vor mir!«

Noch bevor Carla oder Jan etwas sagen konnten, sprang Ralf auf und lief aus der Küche. Man hörte, wie er auf dem Gang heftig schluchzte.

»Lassen wir ihn einen Moment allein«, schlug Jan vor, als Carla zu ihm gehen wollte.

»Ja, ist vielleicht besser.«

Sie setzte sich wieder und begann nachdenklich an einer Locke zu zupfen. »Was glaubst du, warum hat sie das getan?«

»Ich kann nur raten.« Jan machte eine bedauernde Geste. »Nach dieser E-Mail zu schließen, muss es etwas mit ihrem Trauma zu tun gehabt haben. Ein Ereignis, das so unvermittelt eintrat, dass sie sich im Affekt von dieser Brücke gestürzt hat. Aber das ist natürlich nur eine vage Vermutung. Was kann sie damit gemeint haben, der Dämon aus ihrem Kopf sei real?«

»Keine Ahnung«, seufzte Carla, dann sah sie Jan in die Augen. »Bei der Polizei hörte ich, dass du sie als Letzter lebend gesehen hast.«

»Das ist richtig.«

»Hat sie noch irgendetwas gesagt?«

»Nein, es war sehr schnell vorbei.«

Jan brachte es nicht über sich, Carla in aller Ausführlichkeit von Nathalies Todeskampf zu erzählen. Und in diesem Moment war er sich nicht einmal sicher, ob der unartikulierte Laut, den die sterbende junge Frau ausgestoßen hatte, wirklich etwas zu bedeuten hatte.

»Tut mir leid, Carla, aber ich fürchte, ich bin euch keine große Hilfe gewesen.«

»Schon gut. Um eins würde ich dich aber gern noch bitten.«

»Und das wäre?«

»In Nathalies Wohnung habe ich die Telefonnummer eines Arztes entdeckt. Ich habe ihn angerufen, aber er durfte mir natürlich keine Auskunft geben.«

»Aha«, machte Jan. »Und jetzt willst du, dass ich als Arzt mit ihm spreche?«

»Du schuldest mir noch was für den Steigbügel, schon vergessen?«

Kalte Stille
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