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Von: Nathalie
Köppler
An:
Carla Weller
Betreff:!!!
Carla! Wo steckst Du???? Ich finde Deine verdammte Handynummer nicht. Melde Dich!!! Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Es gibt ihn wirklich!!! Es war keine Einbildung! Der Dämon aus meinem Kopf ist real!!! Er ist in mir!!! Ich halt das nicht mehr aus. Mit ihm kann ich nicht darüber reden, er schickt mich sonst zurück. Was soll ich bloß machen???? Carla, meld Dich bitte!!!!!!
Mit ernster Miene studierte Polizeihauptmeister Kröger den Ausdruck der E-Mail. Dabei ließ er sich Zeit, als wolle er jedes einzelne Satzzeichen in Nathalies Nachricht auswendig lernen.
Carla rutschte nervös auf dem unbequemen Besucherstuhl hin und her. Sie fröstelte. Im Fahlenberger Polizeipräsidium schien die Heizung auf Sparflamme zu laufen, und Carla hatte sich noch nicht von den neuseeländischen Sommertemperaturen auf den deutschen Winter umgestellt. Der Jetlag tat ein Übriges. Neben einem Ablagekorb auf dem Schreibtisch sah sie ein Päckchen Zigaretten, das der Polizist unter einer Tupperdose vor den Blicken seiner Besucher zu verbergen versuchte. Carla hatte das Rauchen vor sechs Jahren aufgegeben, aber nun musste sie mit sich ringen, Kröger nicht nach einer Zigarette zu fragen.
Doch bevor sie dieser stressbedingten Suchtattacke nachgeben konnte, legte Kröger das Blatt aus der Hand.
»Sonderbar«, war sein erster Kommentar. »Und Sie haben die E-Mail erst heute gefunden?«
»Gestern Abend. Ich war beruflich im Ausland und habe zwei Tage lang keine E-Mails abgerufen.«
Kröger nickte. »In welchem Verhältnis standen Sie zu der Verstorbenen?«
Natürlich war Nathalie für diesen Kröger nichts anderes als ein Fall von vielen, aber trotzdem tat Carla weh, wie er sie nun mit sachlicher Nüchternheit die Verstorbene nannte.
»Nathalie war meine beste Freundin«, sagte Carla. »Wir kennen uns schon lange«, fügte sie hinzu, nur um sogleich den Fehler zu bemerken. »Ich meine, wir kannten uns schon lange.« Sie sah zu Boden. »Ich mache mir solche Vorwürfe …«
Der Polizist sah sie mitfühlend an. »Das ist verständlich. Gab es außer Ihnen noch jemanden, an den sich Frau Köppler hätte wenden können?«
Carla schüttelte den Kopf. »Nein, soweit ich weiß nicht.«
»Keine Familie oder Freunde?«
»Jedenfalls niemanden, an den sie sich mit Problemen gewandt hätte.«
Mit einem betretenen Seufzen griff Kröger nach einem Block und machte sich eine Notiz. Carla konnte ihm ansehen, dass ihn dieser Fall berührte. Eine Frage brannte ihr auf den Lippen, seit sie gestern von Nathalies Tod erfahren hatte.
»Was macht Sie so sicher«, begann sie zögernd, »dass Nathalies Tod ein Selbstmord war?«
Kröger sah von seinem Notizblock auf. »Daran gibt es keinen Zweifel, Frau Weller. Einen Unfall können wir ausschließen. Zudem war Ihre Freundin zum Zeitpunkt des Geschehens allein auf der Brücke. Sie ist ohne fremdes Zutun auf die Straße gesprungen. Das wurde uns von zwei unabhängigen Zeugen bestätigt. Außerdem hatte es geschneit, und auf der Brücke konnten nur Frau Köpplers Fußspuren sichergestellt werden. Hinzu kommt, dass Frau Köppler über einen längeren Zeitraum psychische Probleme hatte, wie unsere Nachforschungen ergeben haben. Das dürfte Ihnen nicht unbekannt sein, wo Sie doch so eng befreundet waren.«
»Die Sache hatte sie doch längst überwunden«, stieß Carla hervor und ließ sich gegen die harte Stuhllehne sinken.
»Tja, dem Wortlaut dieser E-Mail nach zu urteilen, scheint sie wohl eine Art Rückfall gehabt zu haben. Nahm sie vielleicht Drogen?«
»Drogen?« Carla stieß ein bitteres Lachen aus. »Wenn Sie Nathalie gekannt hätten, wüssten Sie, wie unpassend diese Frage ist.«
Kröger machte eine abwehrende Geste. »Nun ja, ein wenig seltsam klingt es schon, wenn jemand von einem Dämon schreibt, der in ihm ist, finden Sie nicht?«
Carla schwieg. Nathalie hatte ihr gegenüber mehrmals einen Dämon erwähnt, und Carla wusste, was sie damit meinte. Es war keine Person, sondern vielmehr ein Ereignis in Nathalies Vergangenheit, das ihr keine Ruhe ließ. Aber was meinte sie damit, dass der Dämon nun in ihr sei?
»Wen meinte Ihre Freundin, als sie schrieb, sie könne nicht mit ihm darüber sprechen?«, holte sie Kröger aus ihren Gedanken zurück.
»Ihren Freund. Die beiden sind noch nicht lange zusammen, und ich vermute, sie hat geglaubt, er würde sie nicht verstehen.«
Kröger schob ihr seinen Notizblock und einen Kugelschreiber zu. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir Name und Adresse dieses Freundes aufzuschreiben?«
»Nein, natürlich nicht.« Carla notierte die Adresse.
»Was meinen Sie«, Kröger legte den Kopf schief, »was hätte dieser Freund aus Ihrer Sicht denn nicht verstanden? Haben Sie eine Ahnung, was Ihre Freundin zu dieser Verzweiflungstat getrieben haben könnte?«
»Nein, habe ich nicht. Gut, Nathalie hatte psychische Probleme, sie hätte sich deshalb aber nie das Leben genommen.«
Etwas in Krögers Blick verriet, dass er ihr nicht glaubte. »Und was ist mit der Formulierung gemeint: Er schickt mich sonst zurück? Doch wohl: zurück in die Psychiatrie!«
Carla stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ja, anscheinend. Aber wie gesagt, es ging ihr wirklich wieder besser. Und es bestand bei ihr nie ein Suizidverdacht. Auch vor ihrem Klinikaufenthalt nicht.«
Kröger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände vor seinem stattlichen Bauch. »Sehen Sie, Frau Weller, ich verstehe sehr wohl, dass der Freitod Ihrer Freundin für Sie schwer zu akzeptieren ist. Aber ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen könnte. So wie ich das sehe, war Frau Köppler zum Zeitpunkt ihres Todes nicht zurechnungsfähig, ganz gleich, was die Gründe dafür gewesen sein mögen. Der Text dieser E-Mail und die Tatsache, dass Frau Köppler kurz zuvor noch in psychiatrischer Behandlung gewesen ist, bestätigen mir diese Annahme. Mehr kann ich Ihnen zu diesem Vorfall leider nicht sagen. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass Ihre Freundin nicht lange leiden musste. Sie ist noch vor dem Eintreffen des Rettungswagens gestorben. Das hat uns Dr. Forstner bestätigt, der zufällig am Unfallort war. Er war gerade auf dem Weg zur Arbeit.«
Carla bekam große Augen. »Forstner? Ist sein Vorname Jan?«
Kröger spähte in die Akte, dann nickte er. »Ja, so heißt er. Dr. Jan Forstner. Bei dem Namen habe ich auch erst gestutzt. Schlimme Sache, was dieser Familie zugestoßen ist. Damals war ich noch ein junger Streifenpolizist.« Er machte eine betretene Geste. »Nun, Dr. Forstner ist erst seit kurzem wieder in Fahlenberg. Kennen Sie ihn?«
Ohne die Frage des Polizeihauptmeisters zu beantworten, erhob sie sich. Sie verabschiedete sich und verließ das Präsidium. Dort stand sie noch eine Weile, den Mantelkragen gegen den eisigen Wind hochgeschlagen, und dachte nach.