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»Wo ist Dr. Rauh?«
Mit zornigem Gesicht stand die dicke Frau mit den Sumo-Ringer-Armen vor dem Schwesternzimmer. Sie hatte die Hände auf die ausladenden Hüften gelegt, so dass es aussah, als würde sie einen Schwimmring an sich drücken.
»Tut mir leid, Frau Lippert, wir wissen es nicht«, sagte Schwester Sabine und versuchte vergeblich, an ihr vorbei auf den Flur zu gelangen.
Carla, die ihnen vom Aufenthaltsraum aus zusah, musste an einen Aal denken, der von einem Walfisch gestoppt wurde.
»Was heißt das, Sie wissen es nicht?«, polterte die dicke Frau. »Ich warte jetzt schon seit über einer halben Stunde auf mein Gespräch.«
»Es heißt, was es heißt«, erwiderte die Schwester gereizt und schob sich nun mit aller Kraft an ihr vorbei. »Ich weiß es nicht.«
»Das ist ungeheuerlich«, schnaubte die Dicke und stampfte über den Gang zu ihrem Zimmer. »Hier wird man behandelt, als habe man sie nicht alle beisammen.«
Als die Luft rein war, huschte Carla zu der Tür, die zum Treppenhaus führte. Sie sah sich um, und als sie sich sicher war, dass niemand sie beobachtete, eilte sie die Treppe zum Untergeschoss hinab.
Der Lichtschalter zu Rauhs Therapieraum befand sich hinter einer Grünpflanze neben der Tür. Sie machte Licht, trat ein und schloss die Tür so leise wie möglich.
Augenblicklich befiel sie wieder das Gefühl von Enge, das ihr das Atmen erschwerte. Es war, als sei die Luft in diesem Raum von dickerer Konsistenz als anderswo.
Carla atmete mehrmals tief durch und spürte, wie sich der leichte Anfall von Klaustrophobie allmählich löste. Ihre Arbeit als Journalistin hatte es schon einige Male mit sich gebracht, dass sie sich auf verbotenes Terrain begeben musste. Manche ihrer Kollegen behaupteten, das sei der Reiz ihres Berufs, das Salz in der Suppe, doch Carla konnte sich dieser Meinung nicht anschließen. Nach wie vor fiel es ihr nicht leicht, Verbotenes zu tun, Intimsphären zu verletzen oder gar Tabus zu brechen.
Was sie antrieb, war die Überzeugung, dass eine Wahrheit ans Licht gebracht werden musste, die andernfalls im Dunkeln bleiben würde. Sie war felsenfest überzeugt, dass Rauh etwas zu verbergen hatte.
Der Therapieraum war schnell durchsucht. In den Schubladen der dunklen Kommode befand sich nicht viel. Die oberste enthielt ein breites Sortiment unterschiedlicher Teesorten in schmucken Blechdosen und zwei Päckchen Kandiszucker, in der zweiten fand sie mehrere Klangschalen vor, und in der untersten Lade entdeckte sie eine kleine Ansammlung von Puppen und Stofftieren unterschiedlicher Größe. Nichts Verdächtiges.
Auch der kleine Tisch, an dem sie am Tag zuvor mit Rauh gesessen war, hatte eine Schublade. Als Carla einen Blick hineinwarf, fand sie dort nur ein Notizbuch, in dem eine Sammlung von Mantras und Sinnsprüchen aufgelistet war.
Carla sah zur zweiten Tür hinüber. Wahrscheinlich befand sich dahinter Rauhs eigentliches Büro. Sie lauschte kurz auf den Gang hinaus. Stille. Dann betrat sie den Raum.
Auch das zweite Zimmer war indirekt beleuchtet, allerdings waren die Wände hier in einem saftigen Grünton gehalten, den Carla mit Gras auf einer Frühlingswiese in Verbindung brachte. Sofort schien ihr die Luft wieder atembarer.
Das quadratische Büro war genauso groß wie der Therapieraum. Hier aber befanden sich an den Wänden Regale und Bilderrahmen, wodurch der Raum sonderbarerweise geräumiger wirkte.
Carla ging zu dem Schreibtisch, auf dem sich Aktenmappen und allerlei Unterlagen um ein Notebook herum türmten. Sie schaltete es ein. Wie erwartet verlangte der Computer ein Passwort, und Carla fuhr ihn wieder herunter.
Dann entdeckte sie einen in weinrotes Leder gebundenen Terminkalender. Carla schlug die eingemerkte Seite auf und las ihren eigenen Namen.
Rauh hatte ihren gestrigen Termin eingetragen und daneben die Buchstaben EG vermerkt. Carla überlegte kurz, dann fiel ihr ein, was Schwester Sabine gesagt hatte, ehe sie sie in den Therapieraum geführt hatte: Dr. Rauh erwarte sie zum Erstgespräch.
Carla blätterte zurück, bis sie schließlich Nathalies Namen fand. Ihr Herz begann zu pochen. Laut Rauhs Eintragungen war Nathalie bis zum Tag ihrer Entlassung neunmal bei ihm gewesen, das Erstgespräch eingeschlossen. Die meisten von Nathalies Terminen hatten nachmittags stattgefunden, und viermal war Nathalies Name der letzte in der Reihe.
Diese vier Termine weckten Carlas Aufmerksamkeit. Hinter jeder dieser Eintragungen war der Buchstabe R vermerkt. Was hatte dieses R zu bedeuten?
EG steht für Erstgespräch. Und R …
Carla schreckte zusammen, als sie auf einmal Stimmen auf dem Gang hörte. Die lautere der beiden stammte von der Frau mit den Sumo-Ringer-Armen. Die zweite Stimme gehörte Norbert Rauh.
Hastig legte Carla den Kalender an seinen Platz zurück, eilte zur Bürotür und schaltete das Licht aus. Dann sah sie, wie sich die Klinke zum Therapieraum senkte.