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An diesem Morgen hatten sich zahlreiche Klinikmitarbeiter vor dem Eingang zum Archiv versammelt. Die Fassade war bis in die oberen Stockwerke verrußt.
»Wirklich schlimm«, sagte Dr. Raimund Fleischer, der sich an einigen Mitarbeitern vorbei zu Jan vorgedrängt hatte.
Jan nickte, und beide sahen sie zu dem Türbogen, an dem dicke Eiszapfen hingen - Überreste des Löschwassers, die wie die messerscharfen Zähne im geöffneten Maul eines prähistorischen Ungetüms wirkten.
Bei ihrer letzten Begegnung im Archiv hatte Liebwerk darauf bestanden, dass Jan nicht durch diesen Ausgang gehen sollte. Er hatte befürchtet, der mysteriöse Aktendieb könnte bemerken, dass sie ihm auf die Schliche gekommen waren.
Nun war Liebwerk tot. Polizei und Feuerwehr gingen von einem Unfall aus, verursacht durch Liebwerks fahrlässiges Verhalten. Wieder einer dieser Zufälle, an die Jan nicht recht glauben wollte. Aber außer der Erinnerung an die Furcht des Archivars hatte er nichts in der Hand, was die Unfalltheorie widerlegte.
»Hundertmal habe ich dem alten Trottel gesagt, dass er zum Rauchen ins Freie gehen soll«, sagte Fleischer wohl mehr zu sich selbst als zu Jan. »Wahrscheinlich hätte ich ebenso gut von einer gehörlosen Kuh einen Handstand verlangen können.«
Er stieß einen Seufzer aus, und sein Atem stieg in einer dicken Wolke vor seinem Gesicht auf. Dann wandte er sich Jan zu, der ihn nur ratlos ansah. Der Professor schien sein Schweigen für Zustimmung zu halten.
»Das wird noch einigen Ärger mit sich bringen«, meinte er kopfschüttelnd. »Aber wenn ich Sie schon gerade sehe, Jan, sagen Sie, haben Sie morgen Abend schon etwas vor? Ich würde Sie gern zu uns zum Essen einladen, wenn es bei Ihnen passt.«
»Zum Essen?« Jan hatte kaum hingehört. »Ja, gern.« Er hatte Mühe, die nötige Begeisterung in seine Stimme zu legen. Liebwerks Tod beschäftigte ihn zu sehr.
»Schön. Sagen wir so gegen sieben?«
»Sieben würde mir passen.«
Mit einem breiten Lächeln klopfte ihm Fleischer auf die Schulter. »Ich habe womöglich gute Neuigkeiten für Sie. Es geht um Ihren Arbeitsvertrag. Ich glaube, ich kann beim Personalrat Ihre unbefristete Anstellung durchdrücken.«
Erstaunt klappte Jan der Mund auf. »Eine unbefristete … Aber ich dachte … die Probezeit …«
»Ja, ja, ja«, sagte Fleischer und machte eine abwehrende Geste. »Es ist noch nicht hundertprozentig in trockenen Tüchern. Ich brauche noch das schriftliche Einverständnis des Verwaltungsleiters. Aber es sieht gut aus. Eigentlich nur noch eine Formalität. Wir brauchen ehrgeizige junge Mediziner wie Sie. Sind nicht leicht zu bekommen. Und, ganz unter uns, der Verwaltungsleiter und ich sind alte Freunde.«
»Ich … nun ja, ich weiß nicht, was ich sagen soll«, stammelte Jan.
»Sagen Sie vorläufig gar nichts«, winkte der Professor ab. »Kommen Sie einfach morgen Abend zu uns, alles Weitere besprechen wir dann.«
Jan versicherte ihm, dass er kommen würde. Fleischer klopfte ihm nochmals zufrieden auf die Schulter und machte sich dann in Richtung Verwaltung davon.