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Während seines Studiums hatte einer von Jans Professoren Jean-Jacques Rousseau zitiert. Das Leben sei ein Kampfplatz, so habe der Philosoph einmal behauptet. Ein Kampfplatz, den wir bei unserer Geburt betreten und mit unserem Tod wieder verlassen.

Jetzt, wo Jan neben der Parkbank stand und auf die schneebedeckte Eisfläche des Fahlenberger Weihers hinausschaute, kam ihm dieses Zitat wieder in den Sinn.

Die Vorlesung, in der dieses Zitat gefallen war, hatte das Thema »Suizid« behandelt - ein Thema, mit dem die jungen Mediziner im Lauf ihres Berufslebens häufiger konfrontiert werden würden, als ihnen lieb war, hatte der Professor hinzugefügt. Denn nicht alle Patienten hätten den Mut, die Kraft oder den Willen, den Kampf bis zum Ende durchzustehen.

»Es steht uns nicht an, denjenigen zu verurteilen, der aus freien Stücken vorzeitig das Schlachtfeld verlässt, auch wenn die großen Religionen etwas anderes lehren«, hatte der Professor gesagt. »Doch es gehört sehr wohl zu unseren Aufgaben, die Menschen davon zu überzeugen, dass es etwas gibt, für das es sich zu kämpfen lohnt. Denn wir haben nur diesen einen Kampfplatz. Aus naturwissenschaftlicher Sicht gibt es jedenfalls keinen überzeugenden Beweis für eine zweite Chance.«

Ralf hatte keinen Ausweg mehr gesehen. An Nathalies Grab musste er endgültig begriffen haben, dass es nichts gab, das sie wieder zu ihm zurückbringen würde. Also hatte er den Kampf aufgegeben.

Drei Menschen, die sich seit Jans Rückkehr nach Fahlenberg das Leben genommen hatten. Vor seinen Augen. Es war, als zöge er das Unheil an.

Und er hatte gehofft, er könnte hier endlich ein normales Leben führen! Einmal mehr wurde ihm klar, dass das eine Illusion war.

Das Leben ist ein Kampfplatz, und wir können ihn nicht nach unseren Wünschen einrichten. Unser einziger Gestaltungsspielraum liegt in der Haltung, die wir in unserem Kampf einnehmen.

Rauh hatte Jans Haltung als Obsession bezeichnet, und sicherlich hatte er damit Recht. Jan sei ein Gefangener, hatte die Patientin mit dem Feuermal gesagt, und auch das stimmte. Doch was, zum Teufel, sollte er dagegen tun?

Jan ging auf die Tanne zu, hinter der er vor vielen Jahren gepinkelt hatte. Hätte er es nicht getan, wäre sein Bruder vielleicht nicht für immer verschwunden.

Er trat gegen den Stamm. Einmal. Dann noch einmal. Und noch einmal.

Schnee fiel von den Ästen auf ihn herab, doch er bemerkte es kaum. Mit jedem Tritt, den er dem Baum versetzte, löste sich ein kleiner Teil seiner wütenden Anspannung und fand schließlich den Weg nach draußen in Form von unartikulierten Schreien.

Jan schrie, trat zu und schrie wieder. Und es tat gut zu schreien!

Erst als er hinter sich ein dunkles Knurren hörte, kam er wieder zu sich und sah sich um. Hinter ihm stand ein zottiger Golden Retriever. Er trug kein Halsband, und sein Fell war ungepflegt. In seinen Augen funkelte etwas Drohendes, und als Jan die gebleckten Zähne sah, erstarrte er vor Angst.

Das Fell, das einst von rötlicher Farbe gewesen sein musste, war schlammverkrustet und wirkte beinahe schwarz. Für einen Moment glaubte Jan, den Hund wiederzuerkennen.

»Rufus?«

Der Hund hörte auf zu bellen.

»Bist du das, alter Junge?«

Es konnte unmöglich Rufus sein. Kein Hund wurde so alt. Außerdem hatte er den Hund an den Bekannten eines Freundes abgegeben, kurz bevor er aufs Internat gegangen war, und dieser Bekannte hatte gut dreißig Kilometer von Fahlenberg entfernt gewohnt. Aber die Erwähnung des Namens hatte immerhin bewirkt, dass das Tier zu bellen aufgehört hatte.

Für ein oder zwei Minuten standen sich Jan und der Hund reglos gegenüber. Um sie herum war nur die eisige Stille des Parks. Dann legte der Hund den Kopf schief, wandte sich von Jan ab und trottete auf eine Gruppe verschneiter Büsche zu, hinter der er kurz danach verschwand.

Ernüchtert kehrte Jan zum Haus zurück. Die Dämmerung setzte bereits ein. Jan hatte keine Ahnung, wie viel Zeit er an der verlassenen Parkbank verbracht hatte.

Schon von weitem sah er Marenburg, der seinen Wagen vor dem Haus parkte und schwerfällig ausstieg.

»Wie geht es Carla?«, fragte Jan, als er bei ihm angekommen war.

»Sie hat sich in den Schlaf geweint.«

»Hat sie noch etwas gesagt?«

»Nicht viel«, sagte Marenburg knapp und ging an Jan vorbei zum Heck des Wagens.

»Warum wollte sie nicht, dass ich mit hochkomme?«

Marenburg sah Jan nur kurz an, zuckte stumm mit den Schultern und öffnete dann den Kofferraum.

»Sie gibt mir die Schuld, nicht wahr?«, sagte Jan. »Sie denkt, wenn ich ihnen versprochen hätte, bei der Suche nach dem Vater des Kindes zu helfen, hätte Ralf etwas gehabt, wofür es sich gelohnt hätte, weiterzuleben.«

Mit einer ruckartigen Bewegung holte Marenburg eine Bierkiste aus dem Kofferraum und schlug den Deckel zu.

»Denkst du auch so, Rudi? Glaubst du, es ist meine Schuld, dass sich der Junge auf die Straße gestellt hat?«

»Ich denke gar nichts mehr, Jan«, sagte Marenburg leise. »Und damit das so bleibt, werde ich mich jetzt besaufen.«

Jan spürte, wie sich alles in ihm verkrampfte.

»Das hätte nichts geändert, Rudi. Überhaupt nichts! Verstehst du?«

Doch Marenburg sah sich nicht mehr nach ihm um. Er stapfte zum Eingang und verschwand mit seiner Bierkiste im Haus.

Kalte Stille
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