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Es war ein unheimliches Gefühl. Vorsichtig schob Carla die Tür hinter sich zu. Ihr war, als würde sie etwas Verbotenes tun. Als das Schloss einschnappte, fuhr sie zusammen.

Mit pochendem Herzen lehnte sie sich gegen die Tür und atmete tief durch. Es gab doch überhaupt keinen Grund, sich wie eine Einbrecherin zu fühlen. Dies war schließlich die Wohnung ihrer besten Freundin, und Nathalie hatte ihr den Zweitschlüssel gleich am ersten Abend in die Hand gedrückt. »Falls ich mal jemanden zum Blumengießen brauche, oder auch sonst«, hatte sie gesagt, während die beiden auf Kartons gesessen und mit einer Flasche Prosecco von der Tankstelle den Umzug in die neue Wohnung gefeiert hatten.

Weshalb also schlich sie sich jetzt herein wie eine Fremde? Sie konnte hier doch ein und aus gehen, wann immer sie wollte, das hatte Nathalie selbst gesagt.

Weil es die Wohnung einer Toten ist, sagte ihr eine innere Stimme - der Teil von ihr, der die Dinge gern auf den Punkt brachte und dabei stets so kalt klang, dass Carla fröstelte. Auch jetzt hatte sie eine Gänsehaut.

Ja, dies war jetzt die Wohnung einer Toten. Nie mehr würde ihre Freundin einen der Schlüssel aus der Tonschale auf dem Garderobentisch nehmen. Nie mehr würde sie die Notizzettel auf der Pinnwand neben dem Flurspiegel lesen, und erst recht würde sie keinen neuen Zettel mehr dorthin heften.

Als sie sich dies vergegenwärtigte, wurde Carla auch klar, weshalb sie sich wie ein Eindringling fühlte. Alles, was sie in dieser Wohnung vorfand, hatte von der ehemaligen Bewohnerin einen endgültigen Platz zugewiesen bekommen. Jeder, der hier etwas berührte, umstellte oder verrückte, würde ein kleines Zeugnis ihrer vergangenen Existenz zunichtemachen.

Carla fasste sich ein Herz und drang weiter in die Wohnung vor. Nathalie wäre damit einverstanden gewesen, sagte sie sich. Sie hat mich wie eine Schwester geliebt, und sie hätte gewollt, dass ich nach einem Hinweis suche.

»Ich will es verstehen können«, sagte sie leise zu dem Foto an der Pinnwand. Es zeigte Nathalie und sie bei einer Halloween-Party. Beide hatten sie sich mit viel weißem Puder und schwarzem Eyeliner als Morticia Addams zurechtgemacht und trugen eng anliegende schwarze Kleider mit weiten fransigen Ärmeln. Carla hatte eine dunkle Perücke getragen, während Nathalie ihr von Natur aus langes dunkles Haar einfach in der Mitte gescheitelt und mit Haarlack zum Glänzen gebracht hatte.

Carla lächelte traurig. Es war ein toller Abend gewesen, auf den sich die beiden schon Wochen zuvor gefreut hatten. Sie musste daran denken, wie sie auf einem Flohmarkt die Perücke entdeckt hatten und auf die Idee für ihre Kostüme gekommen waren. Fast synchron hatten sie »Morticia Addams« gesagt, um gleich darauf in lautes Gelächter auszubrechen.

Sie nahm das Foto von der Pinnwand und steckte es in ihre Jackentasche. Dann ging sie ins Wohnzimmer. Es war klein und gemütlich und zeugte von der Ordnungsliebe seiner einstigen Bewohnerin. Carla hat sich dort immer wohlgefühlt, auch wenn sie Nathalies Vorliebe für Kitsch nie geteilt hatte. Was das betraf, waren die beiden sehr unterschiedlich gewesen.

Es war, als betrete man das Zimmer einer Zwölfjährigen. Auf der Rückenlehne des Sofas hockten mehrere Plüschtiere und Puppen, in der Schrankwand standen etliche Ballerinen aus Plastik und Porzellan, die inmitten ihrer Pirouetten für immer erstarrt waren, und im Bücherregal reihte sich eine Sammlung von Liebesromanen und Walt-Disney-DVDs, von denen die meistgesehene sicherlich Cinderella war.

Carla sah sich in jeder Ecke des Raumes um. Alles war ordentlich und aufgeräumt wie immer. Nichts deutete darauf hin, dass die Bewohnerin verzweifelt gewesen wäre - so verzweifelt, dass sie sich von der Fußgängerbrücke in den Tod gestürzt hatte.

Die Wohnung wirkte, als könne jeden Moment der Schlüssel im Türschloss zu hören sein. Nathalie würde mit einer Tüte vom Supermarkt oder einer Kleinigkeit vom Schnellimbiss um die Ecke hereinkommen. Sie würde sich an den gläsernen Couchtisch setzen und zum hundertsten Mal Cinderella oder Cap & Capper oder eine Folge von Verbotene Liebe ansehen.

Oder sie würde mit ihrer besten Freundin auf einen Latte macchiato in Pedros Eisdiele gehen. Sie würde Carla ein Loch über ihr Interview in Neuseeland in den Bauch fragen, und Carla würde ihr von dem sympathischen Meeresbiologen mit den tiefblauen Augen erzählen, der von Fahlenberg ans andere Ende der Welt gezogen war, um dort die Kreaturen der Tiefsee zu erforschen. Alles würde wie immer sein.

Nein, nichts wird mehr wie immer sein, dachte Carla und biss sich auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten. Sie konnte und wollte es einfach nicht wahrhaben. Wieder musste sie an die Worte in der E-Mail denken: Es war keine Einbildung. Der Dämon aus meinem Kopf ist real!!!

Carla ging in die Küche. Sie war gerade groß genug für eine Person, trotzdem hatten sie es immer wieder fertiggebracht, zu zweit darin zu kochen. Meist irgendwelche Gemüsevariationen oder Pasta mit selbst gemachtem Pesto und Salat.

Neben dem Wasserkocher machte Carla eine Entdeckung, die sie stutzen ließ. Sie sah Nathalies Lieblingsbecher mit dem Aufdruck KAFFEE - WAS SONST?, daneben lag eine offene Packung Kamillentee. Im Becher befand sich ein eingetrockneter Teebeutel.

Nathalie und Tee? Nathalie hatte Tee nicht ausstehen können, und schon gar nicht Kamillentee.

Carla ging weiter ins Schlafzimmer. Das Bett sah aus, als sei es gerade eben erst verlassen worden. Das Laken war zerknittert, die Bettdecke und der große Plüschelefant, der sonst neben dem Kopfkissen saß, lagen auf dem Boden.

So wäre Nathalie doch nie aus dem Haus gegangen. Nicht die Nathalie, die Carla gekannt hatte. Sie hätte zumindest die Bettdecke zurückgeschlagen und das Betttuch glattgestrichen. Und Dumbo - ihren Kuschellover, wie sie den Elefanten Carla gegenüber einmal genannt hatte, worauf sie beide die Vorzüge von Kuscheltieren gegenüber Männern besprochen hatten - hätte nicht den Rest des Tages auf dem Boden verbringen müssen. So etwas hätte es bei der ordnungsliebenden Nathalie nicht gegeben.

Noch während Carla versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, bemerkte sie einen scharfen Geruch. Er kam aus dem Bad. Carla öffnete die Tür und knipste das Licht an. Der Gestank stieg aus der Toilettenschüssel auf. Als Carla den Deckel hochklappte, biss ihr scharfer Azetongeruch in die Nase. Sie sah die Unmengen von giftgrünem Toilettenreiniger, der in der weißen Schüssel getrocknet war. Es stank derart penetrant, dass Carla automatisch die Spülung drückte.

Sie ging zurück auf den Flur und atmete durch. Dabei fiel ihr der Notizblock neben dem Telefon auf. Er war vollgekritzelt mit wirren Linien und Symbolen. Einerseits war das typisch Nathalie, dachte sie, und sah im Geiste ihre Freundin vor sich, wie sie beim Telefonieren gedankenverloren auf ihren Block malte. Doch irgendwie waren diese Muster alles andere als typisch für sie. Nathalie hatte sonst Kästchen ausgemalt, Blumen oder Strichmännchen gezeichnet oder Schriftzüge nachgezogen. Doch diese Zickzackmuster zeugten nicht von ausgeglichener Geistesabwesenheit. Sie wirkten wirr und aggressiv.

Einer Eingebung folgend, nahm Carla das Telefon aus der Ladestation und drückte die Taste für die Wahlwiederholung. Piepsend wurde eine Nummer angewählt, dann ertönte das Freizeichen. Nach dreimaligem Tuten meldete sich ein Anrufbeantworter.

»Guten Tag«, sagte eine sanfte Männerstimme. »Sie sind mit der Praxis für Allgemeinmedizin von Dr. Wolfgang Hesse verbunden.«

Die Stimme erklärte, dass Carla außerhalb der Sprechzeiten anrufe, und verwies sie in dringenden Fällen auf die Rufnummer des ärztlichen Notdienstes.

Verwundert legte Carla auf. Der Kamillentee, die Unordnung im Schlafzimmer, die Unmengen Toilettenreiniger und nun ein Anruf bei einem Allgemeinarzt.

Der Dämon aus meinem Kopf …

Auf einmal hielt Carla es nicht mehr aus. Ihr war, als würde ihr eine unsichtbare Hand die Kehle zudrücken. Sie musste sofort hier weg.

Carla schaltete alle Lichter aus und lief aus dem Haus auf die Straße. Eisige Nachtluft empfing sie, und Carla saugte sie gierig in ihre Lungen. Gleich darauf ging es ihr wieder besser, die Panikattacke ließ nach.

Sie sah zu Nathalies Fenster hinauf. Was war nur mit ihr los gewesen? War sie krank gewesen?

Aber ein Anruf bei einem Allgemeinmediziner erklärte nicht den Satz aus der E-Mail, der Carla nicht mehr aus dem Kopf ging: Der Dämon aus meinem Kopf, er ist real!!!

Irgendetwas stimmte hier doch nicht.

Kalte Stille
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