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Das Foto zeigte Ralf Steffens. Er saß vor einer Eisdiele auf dem Fahlenberger Marktplatz, hatte die Augen wegen der Sonne ein wenig zusammengekniffen und grinste den Fotografen über einen großen Früchtebecher hinweg an. Das Foto musste vor nicht allzu langer Zeit aufgenommen worden sein, wahrscheinlich diesen Sommer.
Konrad Fuhrmann und Lutz Bissinger hatten das Bild ihres Kollegen in einen kleinen Aufstellrahmen aus hellem Holz gesteckt und auf einem Beistelltisch im Stationszimmer platziert. Um die rechte Ecke des Rahmens hatten sie ein schwarzes Trauerband gelegt. Daneben, an der Stelle, an der normalerweise die Kaffeemaschine ihren Platz hatte, brannte eine Kerze in einem rotlackierten Glasgefäß.
Während der morgendlichen Übergabe herrschte gedrückte Stimmung im Stationszimmer. Mit monotoner Stimme berichtete Konni von den Ereignissen der letzten Nacht.
Nur das Übliche. Zwei Patienten hatten wegen Schlaflosigkeit von ihrem zusätzlichen Medikamentenbedarf Gebrauch gemacht, sonst war alles ruhig gewesen.
Lutz saß mit geistesabwesendem Blick daneben und kaute Kaugummi. Als Konni seinen Bericht abgeschlossen hatte und schon aufgestanden war, um in den Feierabend zu gehen, meldete sich Lutz zu Wort.
»Ach ja, hätten wir fast vergessen«, sagte er und hielt Jan eine Aktenmappe entgegen. »Eine Neuaufnahme. Heute Morgen, so gegen vier. Sollten Sie sich ansehen, Doktor. Hat bis jetzt noch nicht viel gesprochen.«
Dann stand auch er auf und folgte Konni auf den Flur, um abzustempeln, während sich die Kollegen der Frühschicht um das Frühstück der Patienten kümmerten.
Auch Jan erhob sich, schenkte Ralfs Bild einen schnellen Blick im Vorbeigehen und machte sich auf den Weg in sein Büro.
Jan kämpfte gegen seine Niedergeschlagenheit an. Er wünschte sich insgeheim in den Park zu der Tanne, gegen die er gestern getreten hatte, bis der Hund aufgetaucht war. Ihm war sehr danach, der Tanne weitere Tritte zu verpassen - einfach so, zur Erleichterung - und dabei wie am Spieß zu schreien. Aber wahrscheinlich wäre er dann über kurz oder lang hier in der Waldklinik gelandet. Ohne Arztkittel.
Jan schüttelte den Gedanken ab und widmete sich der Akte. Er überflog die Personalien. Wenige Schritte vor seiner Bürotür blieb er abrupt stehen. Er sah sich zu Lutz um, der gerade hinter Konni die Station verlassen wollte.
»Moment noch!«, rief er ihm nach.
Der klapperdürre Pfleger sah sich um. »Was denn?«
»Auf welchem Zimmer ist sie?«
»Nummer acht«, entgegnete Lutz.
»Danke.« Jan sah noch einmal auf den Namen, der in Konnis krakeliger Handschrift in der Akte stand, und schüttelte den Kopf.
Nummer acht war ein Doppelzimmer, das momentan jedoch nur mit einer Patientin belegt war. Spätestens in vier Wochen würde sich das jedoch ändern. Um Weihnachten würde es hier kein freies Bett mehr geben.
Jan klopfte an, und als er von drinnen ein leises »Ja« hörte, trat er ein.
»Hallo, Carla«, begann er, doch als er die junge Frau mit den langen dunklen Haaren sah, die mit dem Rücken zu ihm auf dem unbenutzt aussehenden Bett saß und aus dem Fenster starrte, hielt er inne.
»Oh«, sagte er, »guten Morgen. Tut mir leid, ich hatte Sie mit jemand …«
Wieder stutzte er, denn nun wandte ihm die Frau auf dem Bett das Gesicht zu. Es war in der Tat Carla Weller, auch wenn er sie zuerst nicht wiedererkannt hatte. Ihre Perücke sah täuschend echt aus, und ihr Gesicht wirkte wie verändert.
Es waren ihre Augen, die sie verrieten.
»Was, zum Kuckuck …«, keuchte Jan und starrte auf ihre bandagierten Handgelenke.
»Hallo, Jan«, sagte Carla und nickte ihm zu.
Jan ließ die Tür hinter sich zufallen. »Was hat das zu bedeuten?«
»Was soll was bedeuten?«, gab sie zurück und sah ihn herausfordernd an.
»Na, die Haare und … was hast du denn nur getan?«
»Ich habe mir heute Nacht die Pulsadern aufgeschnitten«, sagte sie in einem Tonfall, als ginge sie das alles nichts an.
»Ich weiß.« Jan schwenkte die Aktenmappe in seiner Hand. »Und du hast quer geschnitten.«
»Na und?«
Er schürzte die Lippen. »Du hattest nicht vor, dir das Leben zu nehmen. Andernfalls hättest du längs geschnitten.«
Sie schwieg und schlug die Augen nieder.
Jan schüttelte den Kopf. »Carla, Carla, warum machst du das? Und was hat die Perücke zu bedeuten?«
Sie strich mit der Hand über das glatte Laken und hob den Blick. »Du weißt doch genau, warum ich das getan habe.«
Jan schwieg betreten. Carla legte den Kopf zur Seite und fuhr sich durch das falsche Haar. »Erinnere ich dich an jemanden?«
Ja, wollte er sagen, du siehst aus wie Alexandra, so wie sie ausgesehen hätte, wenn sie nicht vor dreiundzwanzig Jahren in einen zugefrorenen See eingebrochen und ertrunken wäre.
Er verkniff sich diesen Kommentar, zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder.
»Carla, was soll das alles? Du wolltest dir doch nicht ernsthaft das Leben nehmen? Sonst hättest du nicht die Polizei gerufen.«
Carla sah ihn wieder mit ihrem herausfordernden Blick an. »Ich bin hier, weil ich herausfinden will, was man mit Nathalie gemacht hat.«
»Was man mit ihr gemacht hat?«
»Ja.« Sie stand vom Bett auf, ging zu Jan und setzte sich ebenfalls auf einen Stuhl. »Bis gestern habe ich es nicht wirklich glauben wollen, aber dann …« Sie machte eine hilflose Geste. »Ich meine, die Sache mit Ralf … Er war so sehr davon überzeugt, Jan. Er glaubte nicht, dass Nathalie zu einem Seitensprung fähig gewesen wäre. Ich habe ihm gesagt, dass das die einzig mögliche Erklärung sei. Aber inzwischen glaube ich das nicht mehr.«
»Ralf hat sich in etwas verrannt …«
»Nein«, unterbrach sie ihn. »Er hatte Recht. Nathalie ist einfach nicht der Typ dafür gewesen. Und es tut mir so unendlich leid, dass ich seinen Verdacht nicht ernst genommen habe.«
Jan seufzte. »Deswegen schneidest du dir in die Handgelenke?«
»So konnte ich mir wenigstens sicher sein, dass man mich hier aufnehmen und nicht nur mit ein paar Pillen abspeisen würde.«
Abermals schüttelte Jan den Kopf.
»Jan, verstehst du denn nicht? Wenn man Nathalie in dieser Klinik wirklich etwas angetan haben sollte, wenn man sie gegen ihren Willen und vielleicht sogar ohne ihr Wissen zu etwas gezwungen hat, was sie sonst nie getan hätte, dann ist das der einzige Weg, es herauszufinden. Mit mir als Köder.«
Sie sprach hastig, so als fürchtete sie, Jan würde ihr ins Wort fahren und alles, was sie sagte, als Unsinn abstempeln.
Doch Jan ließ sie weiterreden, auch wenn ihm ihre Worte eine Gänsehaut bereiteten. Obsessives Verhalten infolge eines nicht verarbeiteten Traumas, dachte er. Diese Diagnose kommt dir doch bekannt vor, nicht wahr?
»Bitte, Jan.« Carla griff mit beiden Händen nach seiner Hand auf der Tischplatte. »Ich muss die Wahrheit herausfinden. Vielleicht irre ich mich. Vielleicht hat sich auch Ralf geirrt. Aber ich werde es nur herausfinden, wenn ich denselben Weg gehe, den Nathalie gegangen ist.«
»Was macht dich da so sicher?«, fragte Jan und sah auf ihre Hände, die ihn festhielten, als würde er sonst aufstehen und davonlaufen.
»Sagen wir einfach, es ist mein journalistischer Instinkt. Eine Art Recherche vor Ort. Undercover. Wenn es hier tatsächlich jemanden geben sollte, der ihr etwas angetan hat, dann dürfte es ihn wohl ziemlich überraschen, wenn er plötzlich auf Nathalies Doppelgängerin trifft.«
Sie sah ihm tief in die Augen, und Jan erkannte die Entschlossenheit in ihrem Blick. Aber er erkannte auch noch etwas anderes - sie sagte ihm nicht die ganze Wahrheit. Und auf einmal begriff er.
»Was hat Rudi mit der ganzen Sache zu tun?«
Sie ließ von ihm ab und wich zurück. »Welcher Rudi?«
»Tu nicht so, du weißt genau, wen ich meine.«
»Marenburg? Wie kommst du darauf, dass er …«
»Er war gestern mehrere Stunden bei dir.« Er tippte sich an die Schläfe. »Allmählich beginne ich, das alles zu durchschauen. Deshalb war er so darauf aus, dich nach Hause zu bringen. Ihr habt über diesen Verdacht gesprochen, nicht wahr? Er hat dir von Alexandra erzählt. Von seinem Verdacht, dass man auch ihr damals etwas in der Klinik angetan haben könnte. Etwas, das sie in den Wahnsinn getrieben hat.«
»Er hat mir von ihrem Tod erzählt, ja. Und davon, dass es keine plausible Erklärung dafür gegeben hat. So wie bei Nathalie.«
»Und ich gehe jede Wette ein, dass er auch die erstaunliche Ähnlichkeit erwähnt hat. Deshalb deine Perücke.«
Carla lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie presste die Lippen aufeinander.
Jan sah sie anklagend an. »Ihr beide benutzt mich nur.«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Jan. Wir benutzen dich nicht, wir brauchen dich.« Wieder griff sie nach seiner Hand. »Ich hatte gehofft, dass du mich verstehen würdest. Du weißt doch selbst am besten, wie sehr es einen zerfressen kann, wenn man die Wahrheit nicht kennt.«
Er zog seine Hand zurück. »Das ist etwas völlig anderes.«
»Ach ja? Nathalie war der einzige Mensch, der mir wirklich nahegestanden hat. Sie war die wichtigste Person in meinem Leben. Wo ist da der Unterschied zu dir und deinem Bruder?«
Jan wich ihrem Blick aus. Natürlich hatte sie Recht. Der einzige Unterschied mochte vielleicht darin bestehen, dass sie mit Sicherheit wusste, dass Nathalie tot war, wohingegen er sich immer wieder gegen die Versuchung zur Wehr setzen musste, zu glauben, dass Sven vielleicht überlebt haben könnte - dass es ihn noch irgendwo gab. Vielleicht war die zerrissene Unterwäsche, die man am Tatort gefunden hatte, nur eine falsche Fährte gewesen - die man bewusst gelegt hatte, um alle Welt glauben zu machen, Sven sei einem Sexualverbrechen zum Opfer gefallen.
Jan starrte vor sich auf den Tisch, auf dem Carlas Akte lag. So wie er nach einer Antwort auf diese Fragen suchte, wollte Carla den Grund für Nathalies Selbstmord wissen. Und genauso suchte Marenburg nach einem Grund für das, was mit Alexandra geschehen war. Sie waren alle drei besessen.
Jan sah zu Carla auf. »Wie habt ihr euch kennengelernt, du und Nathalie?«
Carla senkte den Kopf und betrachtete ihre Handgelenke. »Es war in einer Zeit, in der ich sonst niemanden hatte.«
»Erzähl mir davon.«
Sie biss sich auf die Unterlippe, als wollten ihr die Tränen kommen. Doch sie weinte nicht.
»Das ist jetzt fünf Jahre her«, sagte sie mit leiser, belegter Stimme. »Es war gerade ein halbes Jahr vergangen, seit ich von zu Hause ausgezogen war. Ich habe gerne zu Hause gewohnt, weißt du. Mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder habe ich mich immer gut verstanden. Aber ich wollte eben auf eigenen Beinen stehen. Na ja, und dann …« Sie schluckte, holte tief Luft und sprach weiter. »Hin und wieder traf ich mich mit meiner Familie zu einem gemeinsamen Einkaufsbummel. Das war eine der Ideen meines Vaters, dem es immer wichtig war, dass die Familie öfter mal etwas Gemeinsames unternahm. Manchmal einen Ausflug, oder wir trafen uns zum Essen, oder eben das Einkaufen. Dann gingen wir in die Stadt, stöberten in den Geschäften, meistens Philipp zusammen mit Vater und ich mit Mutter. Das war immer sehr lustig, vor allem, wenn die Männer sich selbst ihre Klamotten kauften, die ihnen dann entweder eine Nummer zu klein oder zu groß waren.«
Sie lachte traurig. »Und dann, es war an einem Dienstag Anfang Juni, rief mich meine Mutter an und wollte wissen, ob ich am nächsten Samstag Zeit hätte. Ich konnte aber nicht, weil ich bis zum Hals in Arbeit steckte. Damals hatte ich gerade beim Fahlenberger Boten angefangen und schob Überstunden wie verrückt, um nach der Probezeit übernommen zu werden. Also sagte ich ab. Nicht schlimm, sagte Mama. Ich höre sie noch wie heute. Nicht schlimm, dann kommst du halt beim nächsten Mal wieder mit, und ich habe gesagt: Klar, beim nächsten Mal bin ich bestimmt wieder dabei. Aber es gab kein nächstes Mal.«
Sie presste die Augen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Doch es war zu spät. Mehrere dicke Tropfen kullerten ihr über die Wangen und zogen schwärzliche Kajalspuren mit sich.
Jan ließ ihr Zeit und schwieg.
»Da war dieser Mann. Sein Name war Peschke. Eduard Peschke. Zweiundsiebzig Jahre alt. Er fuhr mit seinem Mercedes die Seitenstraße entlang, in der mein Vater immer parkte, wenn wir zum Einkaufen gingen. Da hinten, wo es zum Finanzamt geht. Weißt du, wo ich meine?«
Jan nickte. »Ja, ich kenne die Straße. Kann man da noch immer frei parken?«
»Man muss nur früh genug dort sein. Vater meinte immer, das Geld fürs Parkhaus investiert er lieber in einen Kaffee vor der Heimfahrt. Und die paar Meter bis zur Fußgängerzone könne man auch zu Fuß gehen. Das war typisch für ihn. Wenn er geahnt hätte, dass …« Sie musste wieder schlucken. »Dieser Peschke, er hatte einen Schlaganfall. Es passierte genau in dem Moment, als Philipp und meine Eltern ausgestiegen waren. Der alte Mann muss so etwas wie einen Krampf bekommen haben. Auf einmal trat er das Gaspedal durch und raste in die parkenden Autos. Meine Eltern … sie waren sofort tot. Philipp kam auf die Intensivstation. Er lag im Koma, ist aber nicht mehr zu sich gekommen. Er starb zwei Wochen später.« Sie wischte sich mit einer ihrer Bandagen die Tränen aus dem Gesicht. »Ich hatte niemand mehr, Jan. Meine ganze Familie war plötzlich weg. Nur weil ein alter Mann ausgerechnet in diesem einen Moment einen Schlaganfall bekommen hat. In dieser Zeit war Nathalie für mich da. Sie hat sich um mich gekümmert. Wir kannten uns bis dahin eher flüchtig, aber das änderte sich jetzt. Wir wurden wie Schwestern. Verstehst du jetzt, weshalb ich das für sie mache?«
Jan atmete tief durch und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ja, das verstehe ich.«
Sie sah ihn fragend an. »Und, wirst du mir helfen?«
»Carla, hör mir zu. Ich werde dich auf Station 12 überweisen. Der Arzt dort ist Dr. Norbert Rauh. Er hat auch Nathalie behandelt.«
»Dann denkst du also auch, dass dort etwas nicht stimmt?«
»Nein, tue ich nicht. Ich denke, dass du sehr unter Nathalies Verlust leidest. So sehr, dass du alles daransetzt, den Grund für ihren Tod zu begreifen. Rauh kann dir helfen, da bin ich mir sicher.«
»Du glaubst also nicht, dass Nathalies Tod mit der Klinik zu tun hat?« Die Enttäuschung in Carlas Stimme war nicht zu überhören.
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, Carla. Tu mir nur einen Gefallen. Wenn du schon Detektiv spielen musst, lass Rudi dabei aus dem Spiel. Hörst du?«
»Warum sollte ich das?«
»Rudi ist sowieso überzeugt, dass die Klinik an allem schuld ist. Du solltest ihm nichts erzählen, was ihn noch unnötig aufstachelt. Wenn du mit jemanden reden musst, dann komm bitte als Erstes zu mir.« Er lächelte sie an. »Mich kannst du allerdings nur mit handfesten Beweisen überzeugen. Und weil wir schon beim Thema sind, was macht Rudi eigentlich gerade? Was ist seine Rolle bei eurem Plan?«