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Der Präsident zögerte, dem nächsten Teil von Kennedys und Rapps Plan zuzustimmen. Sollten die Medien Wind von der Sache bekommen, würde man ihn in der Luft zerreißen. Die Regierungschefs aller Länder würden ihn schmähen, und buchstäblich jedes Mitglied seiner eigenen Regierung würde ihm Vorhaltungen machen. Doch so, wie ihm Rapp die Dinge geschildert hatte, gab es keine andere Möglichkeit.

Kennedy und der Präsident befanden sich erneut im Lageraum. Sie waren allein. Während sie wartete, dass er ihre Frage beantwortete, legte sie sich den Telefonhörer auf die Schulter.

Sie merkte, dass er darüber nachdachte, ob es klug war, sich mit dem Vorhaben einverstanden zu erklären.

»Sir, das wird Ihnen nicht schaden. Der Einfall stammt von mir, ich habe den Auftrag erteilt. Mitch hat bereits Möglichkeiten festgelegt, wie man das Ganze glaubwürdig gestalten kann. Wir haben jemanden an Ort und Stelle, und nach allem, was heute Morgen geschehen ist, wird uns niemand vorwerfen können, übervorsichtig gewesen zu sein.« Nach einigen Sekunden fügte sie hinzu: »Weder unser eigener Botschafter noch der französische Gesandte befindet sich im Gebäude. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, Sir.«

Es gab keine andere Wahl. Die Franzosen sperrten sich gegen eine Vertagung der Abstimmung, und Rapp verlangte, dass auf keinen Fall bekannt werden dürfe, was sie über Botschafter Joussard wussten, bis die Zeit dafür gekommen war. Diese Munition würden sie also später verwenden. Letzten Endes beruhte alles auf Vertrauen, und Hayes vertraute Kennedy wie auch Rapp. Ganz davon abgesehen, waren alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft.

Er sah sie an und nickte. »Also machen Sie schon.« Kennedy gab die Nummer ein, und als sich die vertraute Stimme des Leiters der Antiterrorzentrale meldete, sagte sie: »Jake, der Anruf, über den wir gesprochen haben… jetzt ist es so weit.« Sie hörte nur lange genug zu, um sich zu vergewissern, dass er verstanden und den Auftrag bestätigt hatte, dann legte sie auf.

Der Leiter der Antiterrorzentrale hatte den Auftrag, die UNO vor einem Terroranschlag auf ihr Hauptquartier in New York zu warnen. Daraufhin würde das Gebäude im Verlauf der nächsten Stunde geräumt. Turbes sollte sich auf die Aussage beschränken, dass der Anschlag Teil eines größeren Plans war, zu dem auch die Explosion der Autobombe vom Vormittag gehörte. Die Medien sollten durch gezielte Indiskretionen ebenfalls von der Sache erfahren.

Die Hände fest vor dem Leib verschränkt, lehnte sich Rapp im Gang vor dem Roosevelt Room an die Wand. Gewöhnlich genoss er es, so wenig wie möglich aufzufallen, doch an jenem Vormittag gefiel er sich in der Rolle des Einschüchterers und war sogar so weit gegangen, allein mit dem Botschafter im Besprechungszimmer zu bleiben, bis sich dieser genötigt gesehen hatte, ihn zum Gehen aufzufordern.

Seiner Wunde ging es sehr viel besser, und er fühlte sich recht gut, obwohl er in der vergangenen Nacht nur wenig geschlafen hatte. Endlich kamen sie voran, endlich wurde etwas unternommen, brachten sie andere dazu, etwas zu tun. Däumchen drehend darauf warten, dass etwas geschah, verstieß gegen Rapps Lebensgrundsätze. Gerade wollte er die Tür zum Roosevelt Room erneut öffnen und den Botschafter zur Eile mahnen, als sein Mobiltelefon vibrierte. Er nahm es aus der Gürteltasche und sah auf die Nummer, bevor er den Anruf annahm. Er kam aus der Antiterrorzentrale.

»Hallo.«

»Mitch, Sie glauben nicht, was ich gerade sehe«, sagte Olivia Bourne begeistert. »Ich habe unseren geheimnisvollen Unbekannten vor der Kamera. Er steht am Schalter der United Airlines am Flughafen.«

»Baltimore Washington International?«, fragte Rapp gespannt. »Sind Sie sicher, dass er das ist?«

»Der Computer hat ihn vor mir erkannt. Er sucht schon den ganzen Morgen in sämtlichen Flughäfen und Bahnhöfen des Landes.« Das Erkennungsprogramm, von dem sie sprach, konnte in einer Sekunde hunderte von Gesichtern mit einer Vorlage vergleichen. In diesem Fall war es die Aufnahme, die bei der Einreise des Mannes gemacht worden war. »Er ist es, Mitch, und wenn Sie einen Augenblick warten, sag ich Ihnen auch, wie er heißt und wohin er will.«

Seine Gedanken stürmten bereits weit voraus. »Haben Sie schon jemandem was davon gesagt?«

»Nur Marcus. Er versucht gerade, den Namen und den Flug herauszubekommen.«

»Ist der Mann noch am Schalter?«

»Nein. Gerade ist er in Richtung Sicherheitskontrollen gegangen, aber wir haben ihn noch immer vor der Kamera. Augenblick… Marcus hat einen Namen. Don Marin. Sein Flug geht um 10.32 Uhr nach Paris und von da, wie es aussieht… nach Nizza.«

Rapp war wie erstarrt. »Sagen Sie das noch mal«, bat er, hörte aber kaum zu, als sie ihre Worte wiederholte. Er griff bereits weit aus, bis nach Europa. Jetzt ging es nicht mehr um die Überlegung, wie er es schaffen konnte, binnen einer halben Stunde zum Flughafen Baltimore zu gelangen. Keine Rede war mehr davon, was er mit der Flughafenpolizei, dem FBI und allen anderen anstellen könnte, die diesen Mann haben wollten, der aller Wahrscheinlichkeit nach den palästinensischen wie auch den saudi-arabischen Botschafter getötet hatte. Mit einem Mal sah er alles ganz klar vor sich.

»Wie sind die Kameras am Flughafen?«, fragte er schließlich.

»Gut.«

»Gut genug, dass wir mitbekommen können, ob er wirklich in die Maschine nach Paris einsteigt?«

Eine Pause trat ein, während Bourne etwas nachsah.

»Ich habe mir gerade ein Bild des Flugsteigs geholt. Die Leute gehen schon an Bord. Ich glaube nicht, dass er genug Zeit hat, was anderes zu tun, als auf kürzestem Weg dort hinzugehen.«

»Falls er aber einen zweiten Flugschein für einen anderen Flug hat…«

»Ich werde ihn im Auge behalten.«

Gelassen stand Rapp im Gang, das winzige Telefon ans linke Ohr gedrückt. Wenn sein Vorhaben fehlschlug, würde man ihm den Kopf abreißen, weil er die Flughafenpolizei nicht verständigt hatte, damit diese den Unbekannten festnahm. Doch in einem solchen Fall würde es eine Akte und eine Menge Zeugen geben. Auch wenn es ihm gelingen sollte, ihn den Fängen der Flughafenpolizei und des FBI zu entreißen, würde er ihn vernehmen müssen. Das aber war Rapp zutiefst zuwider. Es gab eine bessere Möglichkeit. Zwar war sie ein wenig riskanter, dafür aber würden sie letzten Endes mit größerer Wahrscheinlichkeit an die Hintermänner kommen.

Bournes Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück.

»Was soll ich tun?«

»Behalten Sie ihn im Auge«, wies Rapp sie an. »Stellen Sie fest, ob er in die Maschine steigt. Anschließend besorgen Sie mir ein Flugzeug.«

Bourne antwortete nicht sofort, dann fragte sie: »Sind Sie ganz sicher, dass Sie nicht das FBI auf ihn ansetzen und ihn festnehmen lassen wollen?«

Das war er nicht, wohl aber ziemlich sicher. Wenn sein Glück noch eine halbe Stunde andauerte, würde er sogar vollkommen sicher sein. »Einstweilen wollen wir die Jungs aus der Sache raushalten. Passen Sie einfach auf, dass Sie ihn nicht aus den Augen verlieren, und besorgen Sie mir ein Flugzeug.«

Er beendete das Gespräch und wählte dann rasch eine Nummer. Nachdem es mehrmals geklingelt hatte, meldete sich Scott Coleman. »Könntest du mit deinen Leuten in einer Stunde aufbrechen?«, fragte ihn Rapp.

»Darf ich fragen, wohin?«

»Südfrankreich. Nicht besonders anstrengend, hauptsächlich Überwachung. Allerdings könnte ich deine Leute unter Umständen für den Fall brauchen, dass wir etwas Schweres heben müssen.«

»Die übliche Vergütung?«, erkundigte sich der pensionierte SEAL.

»Selbstverständlich.«

»Wird gemacht.«

Rapp war bereits auf dem Weg nach unten. »Gut. Ich melde mich später mit den Einzelheiten. Sieh inzwischen zu, dass ihr rechtzeitig fertig seid.«

Die Hand über den Tasten des abhörsicheren Telefons sah Kennedy auf den Präsidenten. »Sind Sie bereit?«

Er nickte und griff nach dem eigenen Telefon. Sie wählte die Nummer aus dem Gedächtnis, und nachdem sie die letzte Ziffer eingegeben hatte, bedeutete sie dem Präsidenten mit einer Handbewegung, er könne abnehmen.

Am anderen Ende meldete sich einer von Ben Freidmans Mitarbeitern, der Kennedy höflich mitteilte, dass sein Vorgesetzter auf einer anderen Leitung telefoniere. Sie zweifelte nicht daran. Sicherlich befand sich der Direktor des Mossad in einer Besprechung mit Premierminister Goldberg über den Anruf, den dieser soeben von seinem Botschafter in Washington bekommen hatte. Kennedy sagte, sie müsse unbedingt mit Freidman sprechen und werde warten.

Schon nach einer Minute meldete sich Freidman und fragte unverbindlich nach ihrem Befinden.

»Mir geht es gut, Ben, und Ihnen?«

»Bestens. Viel besser als vorher.«

»Wie schön für Sie. Haben Sie etwas über unser Gespräch mit Ihrem Botschafter gehört?«

»Ja. Gerade wurde mir mitgeteilt, welche unglückliche Entwicklung die Dinge genommen haben.«

»Ben, betrachten Sie diesen Anruf als Freundschaftsdienst. Es ist dem Präsidenten sehr ernst mit dem, was er gesagt hat. Er will, dass die Truppen unverzüglich aus Hebron abgezogen werden.«

»Das habe ich gehört«, brachte Freidman heraus.

Ihr war klar, dass er von sich aus keine weitere Angaben machen würde. »Das ist nicht alles, Ben.«

Mit einem matten Seufzer fragte Freidman: »Was will er denn noch?«

»Ihre sofortige Absetzung als Direktor des Mossad.«

»Das ist ja lächerlich. Warum sollte er das verlangen? Was interessiert es ihn überhaupt, wer an der Spitze des Mossad steht?«

»Er weiß, dass Sie uns über das Massaker in Hebron die Unwahrheit gesagt haben. Verbündete belügen einander bei solchen Dingen nicht.« Auf diese Worte hin herrschte in der Leitung Stille. Sie sah bedeutungsvoll zum Präsidenten hinüber. Mit Sicherheit war Freidman dabei, sich eine Ausrede dafür zurechtzulegen, dass er sie getäuscht hatte. »Ben, ich bin sicher, dass Sie Ihre Gründe hatten, aber jetzt muss Klartext geredet werden. Sofern Ihnen daran liegt, in Ihrer Stellung zu bleiben und unser Bündnis zusammenzuhalten, sollten Sie mir jetzt die Wahrheit sagen.«

Freidman schnaubte. »David Goldberg denkt nicht daran, sich von irgendjemandem Vorschriften machen zu lassen. Nicht einmal vom Präsidenten der Vereinigten Staaten.«

»Tatsächlich?«, sagte Kennedy sarkastisch. Im Bewusstsein, dass Freidmans Selbstsicherheit gespielt war, fuhr sie fort: »Auch dann nicht, wenn der Preis dafür wäre, dass er seine Laufbahn mit einem Skandal beendet? Ich verurteile Sie nicht wegen dem, was in Hebron geschehen ist. Der Himmel allein weiß, was wir tun würden, wenn sich hier bei uns Woche für Woche Selbstmordattentäter in die Luft jagten, aber Sie müssen mich schon auf dem Laufenden halten, Ben.«

»Was wollen Sie über Hebron wissen?«

»Nein, Ben«, machte sie ihm mit Nachdruck klar, »so läuft das nicht. Wenn Sie Wert darauf legen, Ihren Posten zu behalten, und vermeiden wollen, dass dieser Skandal an die Öffentlichkeit gelangt, müssen Sie schon unsere Fragen beantworten. Der Präsident ist äußerst ungehalten, Ben! Das waren Apache-Hubschrauber und Hellfire-Raketen.« Sie senkte die Stimme, als wolle sie, dass niemand mithören konnte. »Wir haben Satellitenaufnahmen von den Angriffen. Der Präsident beabsichtigt, diese Aufnahmen den Vereinten Nationen vorzulegen und aller Welt zu zeigen, dass Sie und Goldberg Lügner sind.«

Sekunden verstrichen, bevor Freidman wieder sprach. Ihm blieb keine Wahl, als die Wahrheit zu sagen. »Es hat in Hebron keine Sprengstofffabrikation gegeben.«

»Warum haben Sie mir das nicht von Anfang an gesagt?«

»Tut mir Leid. Das hätte ich tun sollen.« Die Entschuldigung fiel ihm offenkundig nicht leicht.

»Und warum diese Lügengeschichte?«, hakte sie nach.

»Ich wollte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, alle diese Hundesöhne auf einen Schlag auszuschalten. Als ich erfuhr, dass sie ihr Treffen in jenes Stadtviertel verlegt hatten, war mir gleich klar, dass sie behaupten würden, es hätte sich um ein Massaker gehandelt.«

»Und wie haben Sie von dieser Zusammenkunft erfahren?«

»Wir hatten einen Informanten.«

»Wen?«, fragte Kennedy in beiläufigem Ton.

»Jemand, der für uns gearbeitet hat.«

Sie sah eine Sekunde lang zum Präsidenten hinüber.

»Und wer ist das?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Ben, wir stehen jetzt auf derselben Seite. Vertrauen Sie mir. Ich muss wissen, wer Ihr Kontaktmann war.« Nach längerem Zögern sagte Freidman: »Ein Palästinenser.«

»Haben Sie ihn bezahlt?«

»Nein.«

»Ist er von sich aus auf Sie zugekommen, oder haben Sie ihn angeheuert?«

»Ich würde sagen, teils, teils.«

Kennedy wusste nicht, ob Freidmans Kontaktmann für das Puzzle wichtig war oder nicht, aber Eingebung und Erfahrung rieten ihr, noch ein wenig weiterzuforschen. »Ben, wenn Sie wollen, dass ich den Präsidenten dazu bringe, von seiner Forderung Abstand zu nehmen, ist es unerlässlich, dass Sie Jake Turbes alles schicken, was Sie über diesen Palästinenser haben, und zwar sofort.« Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, fügte sie hinzu: »Der Präsident befindet sich gerade in einer Besprechung mit der Außenministerin. Es geht um die Frage, auf welche Weise sie der UNO die Beweise für die Bombardierung Hebrons zur Kenntnis bringen wollen.«

Freidman überlegte, warum Kennedy diese Angaben über seinen palästinensischen Zuträger haben wollte. Da Jabril Khatabi mit all den anderen Terroristen umgekommen war, sah er keinen Grund, ihr die verschlüsselten Unterlagen vorzuenthalten, die sie über ihn besaßen. Doch sein Instinkt sagte ihm, dass mehr dahinter stecken musste, als sie ihm gesagt hatte. Andererseits würde es Israel sehr schaden, falls man der UNO die Wahrheit über Hebron mitteilte. Nachdem er gut zehn Sekunden lang überlegt hatte und ihm nichts Besseres einfiel, sagte er zu, ihr die Unterlagen zu schicken.