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Der Nationale Sicherheitsrat war eine vielschichtige Institution. Im engeren Sinne bestand er aus dem Präsidenten und einer Hand voll hochrangiger Berater, umfasste aber im weiteren Sinne weit mehr Menschen, die im Dienst des Weißen Hauses den Strom der von den verschiedensten Geheimdiensten gesammelten Erkenntnisse an die jeweiligen Ministerien weiterleiteten. Diesem erweiterten Kreis gehörte auch die »Gruppe zur Unterstützung des Kampfes gegen den Terrorismus« an. Wie ihr Name schon sagt, lautete ihr Auftrag, sich mit allem zu beschäftigen, das mit Terrorismus zu tun hatte, und dazu gehörte auch die Entführung der Familie Anderson durch die Abu Sayyaf.
Weil beim ursprünglichen Versuch der Geiselbefreiung im Außenministerium Sicherheitslücken aufgetreten waren, hatte man vor der zweiten Rettungsaktion diese Gruppe nicht informiert. Keiner der an dem erfolgreich verlaufenen Unternehmen Beteiligten hatte wegen dieses absichtlichen Verstoßes gegen die Vorschriften ein schlechtes Gewissen. Washington war eine Stadt, in der es das höchste Zeichen von Macht war, informiert zu sein, und so gab es dort ziemlich viele Menschen, die in ihrem Selbstwertgefühl gekränkt waren. Die Gerüchte über die Gründe für das unorthodoxe Vorgehen verbreiteten sich rasch und wurden so geschickt lanciert, dass jeder, der sich ausgeschlossen fühlte, überzeugt war, dahinter stecke eine Intrige Mitch Rapps.
Aufgrund dieser Gerüchte und des Rufes, den er hatte, schlug ihm eisige Ablehnung entgegen, als er unangekündigt den Besprechungsraum im dritten Stock des Old Executive Building betrat, das dem Westflügel des Weißen Hauses gegenüber auf der anderen Straßenseite liegt, ein architektonisch bemerkenswertes Gebäude, das man als Nervenzentrum der Regierung der Vereinigten Staaten bezeichnen kann. Anwesend waren Vertreter des Verteidigungsministeriums, des FBI, der CIA, des Außenministeriums und der Heimatschutzbehörde. Diese Menschen, die in der Hierarchie lediglich zwei Stufen unterhalb des Präsidenten rangierten, bekamen für ihre unermüdliche Arbeit und die schwere Verantwortung, die sie trugen, nur äußerst wenig öffentliche Anerkennung.
Zwar wusste selbstverständlich jeder der rund ein Dutzend Anwesenden, wer Rapp war, doch hatte keiner mehr als einen flüchtigen Gruß mit ihm gewechselt. Als Einziger kannte ihn Jake Turbes von der CIA näher. Manche achteten ihn, einige sahen auf ihn herab, aber alle miteinander fürchteten ihn, denn dieser Mann hatte das Ohr des Präsidenten und vermochte ihre Karriere zu beenden, wenn er das für richtig hielt. So zuckten alle ein wenig zusammen, als er in den langen, schmalen Raum trat. Indem er stehen blieb, statt sich zu setzen, steigerte er ihre Befürchtungen noch. Unter ihnen befand sich ein kaltblütiger Mörder, der Fragen der nationalen Sicherheit, mit denen sie tagein, tagaus zu tun hatten, auf weitaus wirklichere und endgültigere Weise löste als sie.
Bei solchen Sitzungen ergriff er nur selten das Wort. Ihm genügte das Bewusstsein, dass er auf die Wertschätzung und Dankbarkeit des Präsidenten zählen konnte.
Er stellte sich so, dass er die Ministerialdirektorin Amanda Petry im Auge behielt. Außer ihm hatten nur zwei weitere der im Raum Anwesenden eine Vorstellung davon, was geschehen würde: Don Keane vom FBI und Jake Turbes. Rapp vermied es, Blickkontakt mit ihnen aufzunehmen, und sah stattdessen zur stellvertretenden nationalen Sicherheitsberaterin Patty Hadley hinüber. Er bedeutete ihr durch ein Nicken, dass sie mit der Tagesordnung fortfahren solle.
Mit leicht unbehaglichem Lächeln sagte sie: »Wir haben nur noch auf Sie gewartet«, was den anderen ein gequältes Lachen entlockte.
Rapp gestattete sich ein spöttisches Grinsen. Gegen Hadley hatte er nichts. »Bitte fahren Sie fort.«
»Wir wüssten gern, warum man uns bei dieser Sache im Dunkeln hat tappen lassen.«
Rapp richtete seine Antwort an Hadley. »Es ist entschieden worden, Einzelheiten über diese Unternehmung im allerengsten Kreis zu halten.«
Nach kurzem Überlegen fragte sie: »Und warum?«
»Sagen wir, dass unser vorheriger Rettungsversuch nicht besonders erfolgreich war.«
Nach längerem Schweigen in der Runde meldete sich Steve Gordon zu Wort. Der Koordinator der Terrorismusbekämpfung im Außenministerium war so tief in seinem Stolz gekränkt, dass er glaubte, für die ganze Gruppe sprechen zu müssen. »Ich denke nicht, dass man die hier Anwesenden für den Fehlschlag des ersten Rettungsversuchs verantwortlich machen kann.«
»Wirklich nicht?«
Gordon wirkte ein wenig betroffen. Er nahm allen Mut zusammen und beharrte auf seiner Behauptung.
»Nein.«
»Da wäre ich an Ihrer Stelle nicht so sicher«, sagte Rapp, der mit verschränkten Armen an der Wand lehnte. Unter dem linken Arm hielt er einen roten Aktendeckel.
»Noch Fragen?« Diesmal sah er Amanda Petry an. Sie war einer jener selbstgerechten Menschen, die eine solche Anschuldigung keinesfalls hinnehmen würden, ohne dagegen aufzubegehren.
Sie hielt seinem Blick stand und vermochte den Ausdruck ihrer Verachtung kaum zu zügeln. Die Rolle, die sie bei der Katastrophe der vergangenen Woche gespielt hatte, schien sie vollständig vergessen zu haben. Die sich auf nichts Konkretes gründende Gewissheit, dass die übrigen Ratsmitglieder sie unterstützen würden, gab ihr so viel Selbstsicherheit, dass sie sagte: »Mr. Rapp, möglicherweise halten Sie ja nicht besonders viel von uns. Es wäre aber schön, wenn Sie zumindest zur Kenntnis nehmen könnten, dass uns das Wohl unseres Landes in jeder Hinsicht ebenso am Herzen liegt wie Ihnen und wir unsere Arbeit mit großer Hingabe tun.«
Er sparte sich seinen Ausbruch einstweilen auf. Er genoss seine Rolle. Die Situation gab ihm eine Gelegenheit, jeden daran zu erinnern, welche Trümpfe er in der Hand hielt. Bis zum Wochenende würde ganz Washington wissen, was sich in den nächsten fünf Minuten in diesem Raum abgespielt hatte. Man würde in den Büros darüber tuscheln, und bei jedem Weitererzählen würde die Geschichte mehr aufgebauscht, bis zum Schluss allen klar war, dass man die nationale Sicherheit nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte.
»Was den von Ihnen zuerst genannten Punkt angeht, bin ich mir nicht sicher, ob Ihnen wirklich so viel an unserem Land liegt wie mir, und was den zweiten Punkt angeht, habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass Sie alle sehr hart arbeiten. Das allein aber nützt nichts. Sie befinden sich hier nicht im Vorstand irgendeines Unternehmens, sondern haben die Aufgabe, Ihren Beitrag zur Sicherheit unseres Landes zu leisten. Um es ganz offen zu sagen: Harte Arbeit reicht dafür nicht aus.« Bei diesen Worten sah er Petry unverwandt an.
Ihre Nasenflügel bebten ein wenig, und dann platzte sie heraus: »Das Außenministerium spielt in der Frage der Sicherheit dieses Landes eine äußerst wichtige Rolle, Mr. Rapp, ob Ihnen das passt oder nicht. Damit wir unsere Arbeit tun können, muss man uns über die Dinge auf dem Laufenden halten.«
»Auf dem Laufenden halten«, wiederholte er ihre Worte und wiegte langsam den Kopf, als nehme er sie sehr ernst. »Sagen Sie doch, Ms. Petry, können Sie sich einen einzigen Grund dafür denken, warum die Geiselbefreiung durchgeführt wurde, ohne diesen Ausschuss hier zu Rate zu ziehen?«
»Ich vermute, dass jemand wie Sie dem Präsidenten empfohlen hat, die Sache vor uns geheim zu halten«, gab sie mit herablassender Miene zur Antwort.
»Genauso ist es!«, sagte Rapp mit etwas schärferer Stimme. »Und können Sie mir auch sagen, aus welchem Grund ich dem Präsidenten ein solches Verhalten empfohlen haben könnte?«
Ihr Gesichtsausdruck ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie den Mann hasste, der ihr diese Fragen stellte. »Ich ahne es nicht.«
Rapp öffnete den Aktendeckel, den er unter dem Arm gehalten hatte, und schleuderte zwei Fotos auf den Tisch. Es waren Porträts der beiden toten SEALs. »Haben Sie eine Vorstellung, wer diese beiden Männer sind?«
»Nein«, gab Petry entrüstet zur Antwort.
»Irv McGee und Anthony Mason. Diese beiden Angehörigen der Marine der Vereinigten Staaten sind vorige Woche an einem kleinen Sandstrand auf den Philippinen erschossen worden. Sie waren verheiratet und hinterlassen insgesamt fünf Kinder.« Er ließ die Fotos mitten auf dem Tisch liegen. Keiner der Anwesenden würde je näher an die beiden toten SEALs herankommen, und er wollte sicher sein, dass sie alle deren Gesichter ansahen.
»Ms. Petry, können Sie mir sagen, warum diese beiden Männer umgekommen sind?« Rapp ließ eine Pause eintreten, die gerade lange genug war, um ihm zu zeigen, dass sie darauf nicht antworten würde. »Dann sage ich es Ihnen«, fuhr er mit zorniger Stimme fort. »Jemand in diesem Raum hat sich nicht an die bei solchen Unternehmungen geltenden Sicherheitsvorschriften gehalten, wohl weil dieser Jemand der Ansicht war, dass sie für ihn nicht gelten.« Petry verzog keine Miene, und so fragte Rapp sie: »Sie haben wohl keine Vorstellung von dem, was Sie getan haben?«
Zwar war ihr Gesicht jetzt gerötet, doch schien sie nach wie vor nicht erfasst zu haben, was da geschah. Durchdrungen von der Überzeugung, ihr geschehe Unrecht, sagte sie: »Ich hoffe, dass Sie eine gute Erklärung für Ihr Verhalten haben, Mr. Rapp.«
Jetzt klappte er den roten Aktendeckel auf und nahm die Kopien von Petrys E-Mail an Botschafter Cox heraus. Er warf sie zu den Fotos auf den Tisch und brüllte:
»Der Präsident hat in der vorigen Woche entschieden, dass unsere Botschaft in Manila nicht von der bevorstehenden Geiselbefreiung in Kenntnis gesetzt werden sollte! Darüber haben Sie sich hinweggesetzt und Botschafter Cox eine E-Mail mit Einzelheiten über die Aktion geschickt! Vermutlich sind Sie der Ansicht, dass Sie sich an die bei solchen Einsätzen üblichen Sicherheitsvorschriften nicht zu halten brauchen, weil Sie so hart arbeiten und Ihnen das Wohl dieses Landes so sehr am Herzen liegt!«
Petry sah auf ihre E-Mail. Nach wie vor nicht bereit, ein Fehlverhalten einzugestehen, erklärte sie: »Mir ist nicht klar, in welchem Zusammenhang das mit dem Tod der beiden Männer da stehen soll.«
»Dann erkläre ich es Ihnen!«, wütete Rapp. »Botschafter Cox hat Präsidentin Quirino von dem bevorstehenden Einsatz erzählt, die ihrerseits General Moro ins Bild setzte. Moro aber war ein bezahlter Zuträger der Abu Sayyaf! Hätten Sie getan, was Ihre Pflicht war, würden diese beiden Männer noch leben. Sie mit Ihrer verdammten diplomatischen Hochnäsigkeit haben sie umgebracht, und genau das ist der Grund, warum man diesem Ausschuss nichts von dem neuen Einsatz gesagt hat.«
Mit geballten Fäusten stand Rapp am Ende des langen Konferenztischs. Niemand sagte ein Wort. Amanda Petry saß da, den Blick entsetzt auf die beiden Fotos gerichtet. Sie war nach wie vor nicht bereit zu glauben, dass eine einfache E-Mail den Tod dieser Männer verursacht haben könnte. Rapp wusste, dass manchen in Washington sein Verhalten als unprofessionell und gefühllos galt, aber das war ihm gleichgültig. Seiner Überzeugung nach wäre es gar nicht schlecht, wenn das Gefühl in dieser Stadt, vor allem aber im für die nationale Sicherheit zuständigen Behördenapparat, eine deutlich geringere Rolle spielte.
Er drehte sich um und öffnete die Tür. Zwei FBI- Beamte, die Petry festnehmen sollten, warteten davor. Während er in den Korridor eilte, wandten sich seine Gedanken den beiden toten SEALs zu. Mitgefühl verdienten deren Angehörige, nicht aber Petry.