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Präsident Hayes saß am Schreibtisch und hielt den Hörer ans Ohr, während seine Berater in Fragen der nationalen Sicherheit auf den Sofas darauf warteten, dass er zu ihnen stieß. Kennedy saß neben Valerie Jones und tat so, als lese sie in einer Akte, in Wahrheit aber lauschte sie aufmerksam auf alles, was der Präsident sagte, oder, genauer, auf alles, was er nicht sagte. Einer der beiden Senatoren des Staates New York, dessen Stimmenmehrheit der Präsident nur mit Mühe bekommen hatte, war am Apparat und verlangte, dass er die Israelis wegen ihres Angriffs auf Hebron nicht unnötig hart anfasste.

Eigentlich hatte Hayes das Gespräch nicht annehmen wollen, aber Jones hatte ihn dazu gedrängt, ja praktisch darauf bestanden. Wenn er zur Wiederwahl kandidiere, seien sie auf den Staat New York angewiesen, so ihre Argumentation. Das war bei weitem nicht der erste Anruf zugunsten Israels, der an jenem Vormittag im Weißen Haus einging. Die mächtigen jüdischen Interessenvertreter waren aufgescheucht und bemühten sich mit allen Kräften zu verhindern, dass bei der für den späten Vormittag vorgesehenen Abstimmung vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen eine für sie katastrophale Entscheidung gefällt wurde. Jedes Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats hatte mindestens zwei Anrufe einflussreicher Persönlichkeiten bekommen. Am heftigsten war die Außenministerin bedrängt worden, aber auch die Büroleiterin Jones und Verteidigungsminister Culbertson hatten zu den Opfern gehört. Selbst bei Kennedy und General Flood waren Interessenvertreter Israels vorstellig geworden.

»Ich werde all diese Punkte in Erwägung ziehen«, sagte der Präsident, den Blick in Leere gerichtet. Er hörte noch einige Sekunden zu und sagte dann mit entschlossener Stimme: »Die Bedeutung der Situation ist mir völlig klar, Senator. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich habe zu tun.« Er warf den Hörer auf die Gabel, erhob sich und sah seine Büroleiterin bedrückt an. »Das war der Letzte. Ich nehme keine weiteren Anrufe an. Die Leute machen sich mehr Sorgen um Israel als um ihr eigenes Land.«

»Was wollte er denn?«, fragte sie.

»In dürren Worten läuft es darauf hinaus: Wenn ich bei der nächsten Wahl die Stimmen des Staates New York haben möchte, soll ich gefälligst dafür sorgen, dass die Entschließung der Franzosen nicht durchkommt.« Er blieb stehen. »Als wäre all das nicht schon schlimm genug, haben die Israelis Panzer nach Hebron in Marsch gesetzt – noch dazu solche aus amerikanischer Produktion.«

»Sir«, begann Jones, »ich denke, wir müssen dafür sorgen, dass die Abstimmung hinausgezögert wird.«

»Bea?« Fragend sah Hayes zu seiner Außenministerin hin.

»Soweit ich gehört habe, sind die Franzosen fest entschlossen, die Sache zur Abstimmung zu bringen. Ganz besonders, seit sie erfahren haben, dass gestern Abend die israelischen Panzer vorgerückt sind.«

»Wir sollten aber die Selbstmordattentäter nicht außer Acht lassen«, warf der Verteidigungsminister ein.

»Damit hat schließlich alles angefangen. Israel hat das Recht, sich zu verteidigen, und wenn die Palästinenser es für richtig halten, ihre Sprengsätze in Wohnvierteln herzustellen, braucht niemand viel Mitleid mit ihnen aufzubringen, wenn so ein Viertel in die Luft geht.«

Ohne auf die Worte ihres Kollegen einzugehen, erklärte die Außenministerin: »Mr. President, ich würde Israel nie das Recht streitig machen, sich zu verteidigen, aber die UN-Vollversammlung hat diesen unaufhörlichen Kreislauf der Gewalt satt. Die Ermordung eines ihrer Mitglieder hat sie auf eine Weise zum Handeln veranlasst, wie ich das noch nie zuvor erlebt habe.«

Culbertson rutschte auf die Sofakante. »Es gibt aber keinerlei Beweise für eine Beteiligung Israels am Attentat auf den Botschafter. Offen gestanden, ist die bloße Annahme, es könnte sich so verhalten, empörend und widersinnig.«

Der Präsident sah zu Kennedy hinüber. Das war der richtige Zeitpunkt, die Anwesenden von dem in Kenntnis zu setzen, was bisher nur wenige wussten. »Irene.«

Kennedy klappte den Aktendeckel zu, der auf ihren Knien lag, und sah zu den beiden Ministern und General Flood hin. Der Präsident hatte ihr genaue Vorgaben gemacht, was sie offenbaren sollte. Auf keinen Fall durfte der geheimnisvolle Unbekannte erwähnt werden, der mit Prinz Omar zusammengetroffen war. Die Briten, die reichlich Material über den Bruder des Kronprinzen zusammengetragen hatten, waren zwar bereit, ihn für geschäftstüchtig oder zumindest gewitzt genug zu halten, dass er sich mit Leuten umgab, die ihn bei seinen geschäftlichen Entscheidungen beraten konnten, doch hielten sie ihn nicht für besonders intelligent. Ursprünglich hatten sie sogar bezweifelt, dass er in irgendeiner Weise an einer so komplizierten Aktion wie der Ermordung eines UN-Botschafters beteiligt gewesen sein könnte. Angesichts dieser Situation hatte Kennedy die Anweisung, sich einstweilen an Tatsachen zu halten.

Mit einer Stimme, die kaum lauter war als ein Flüstern, sagte sie: »In Hebron sind keine Sprengsätze hergestellt worden.«

Die Außenministerin sah sie verblüfft an. »Haben die Israelis das etwa zugegeben?«

»Nein. Sie bleiben nach wie vor bei ihrer Behauptung.«

»Und woher wollen wir das dann wissen?«, fragte Culbertson misstrauisch.

»Wir haben den Angriff über Satelliten beobachtet. Von einer zweiten Explosion kann überhaupt keine Rede sein.«

»Und worauf geht dann die Verwüstung zurück?«, fragte Berg.

»Auf sechzehn von Apache-Hubschraubern abgefeuerte Hellfire-Raketen.«

»Von Apache-Hubschraubern amerikanischer Herkunft abgefeuerte Hellfire-Raketen, die gleichfalls amerikanischer Herkunft waren«, präzisierte der Präsident.

Die Außenministerin begriff als Erste. »Dann sind sie also gestern Abend in Hebron eingerückt, um ihre Spuren zu verwischen?«

»Oder«, meldete sich Kennedy zu Wort, »wie ich Ben Freidman kenne, alles an Ort und Stelle zu schaffen, das als Beleg dafür dienen kann, dass die Israelis von Anfang an die Wahrheit gesagt haben. Damit würden dann die Palästinenser als Lügner dastehen.«

»Vielleicht wollen sie einfach die Märtyrerbrigaden ausräuchern«, gab Culbertson zu bedenken.

»Sicher hat es mit beidem zu tun«, gab ihm Kennedy Recht, »aber gegenwärtig neige ich eher zu der Annahme, dass sie Tatsachen schaffen wollen, die ihre Darstellung bestätigen.«

»Auf jeden Fall haben wir es mit einem Verbündeten zu tun, der uns nicht die Wahrheit sagt«, führte der Präsident die Diskussion auf den Ausgangspunkt zurück.

»Was sagt Freidman zu dem Attentat?«, fragte Berg. Kennedy sah sie an. Da Israels offizielle Erklärung, dass es mit dem Mord an Botschafter Ali nichts zu tun habe, der Außenministerin sehr wohl bekannt war, konnte ihre Frage nur bedeuten, dass sie dem Mossad einen brutalen Mord zutraute, wenn dieser den außenpolitischen Zielen des Landes dienlich zu sein schien.

»Er bestreitet jede Beteiligung.«

Culbertson verzog das Gesicht. »Wenn sie hinsichtlich der Sprengsatzherstellung lügen, heißt das nicht zwangsläufig, dass sie etwas mit dem Attentat zu tun haben.«

»Da bin ich nicht so sicher«, gab Hayes zurück. »Zumindest sehen wir daran, dass wir ihnen nicht trauen dürfen.«

Culbertson wandte sich an Kennedy und fragte zweifelnd: »Sie halten die Israelis doch nicht wirklich einer solchen Unverfrorenheit für fähig, oder?«

Es dauerte eine Weile, bis sich Kennedy gefasst hatte.

»Ich sehe nicht, welchen Vorteil sie davon haben könnten… zumindest nicht hier auf amerikanischem Boden. Andererseits sind mir auch noch nicht alle Fakten bekannt. Wie ich die Dinge sehe, könnte das auf Israels Entschlossenheit hindeuten, das Westjordanland ein für alle Mal zu säubern.«

»Welchen Sinn hätte es in dem Zusammenhang, den Botschafter umzubringen?«, fragte Berg. »Damit hätten sie doch lediglich die gesamte UNO gegen sich aufgebracht.«

Bisher hatte Kennedy es sich aus verschiedenen Gründen versagt, mehr zu sagen, in erster Linie, weil sie nicht bereit war, zu glauben, dass Israel zu einem so rücksichtslosen Vorgehen fähig war. Andererseits hatte ihre angespannte Beziehung zu Freidman und die Erkenntnis, dass die Selbstmordattentäter die Moral der israelischen Bevölkerung allmählich zermürbt hatten, in ihr den Gedanken geweckt, dass sie dazu möglicherweise doch imstande waren.

»Manche denken«, formulierte sie vorsichtig, »dass den Israelis inzwischen ziemlich gleichgültig ist, was man in der UNO über sie denkt.«

Der Präsident, der davon bisher nichts gehört hatte, fragte: »Wie kommen Sie darauf?«

»Es gibt dort Elemente, die der Überzeugung sind, dass Sicherheit und ein dauerhafter Frieden ausschließlich durch einen Angriffskrieg zu erreichen sind, und die Zahl derer nimmt zu, welche die Ansicht vertreten, dass Israel jedes Mal, wenn es seine Sicherheit einer anderen Macht oder einer Organisation anvertraut, dafür büßen muss.«

Die Außenministerin pflichtete ihr bei. »So wie die das sehen, steht ihnen die UNO bestenfalls verständnislos gegenüber, schlimmstenfalls aber offen feindselig.«

Kennedy bestätigte diese Einschätzung. »Mithin hätten sie der Organisation durch die Ermordung ihres palästinensischen Botschafters in New York zu verstehen gegeben, was sie von ihr halten, und zugleich den Palästinensern unmissverständlich klar gemacht, dass sie bereit sind, deren Brutalität mit gleicher Münze heimzuzahlen.«

Culbertson begriff allmählich. »Ach so – weil die Resolutionen der UNO nie durchgesetzt werden, braucht man sich auch nicht die Mühe zu machen, mit ihr gut auszukommen?«

»Genau«, sagte Berg.