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Rapp gefiel nicht, was er hörte. Ihm war es immer wichtig, Risiken möglichst gering zu halten. Zwar ging er Gefahren keinesfalls aus dem Weg, doch bemühte er sich bei seinen Unternehmungen stets, die Erfolgsaussichten so günstig wie möglich zu gestalten. Die größte Sorge bereiteten ihm Dinge, auf die er keinen Einfluss hatte, wie zum Beispiel das Wetter. Gerade war vom Kommandanten der Belleau Wood die Mitteilung gekommen, dass sich die Wetterlage verschlechterte. Da die Windböen inzwischen Geschwindigkeiten von über hundert Kilometern pro Stunde erreichten, waren alle Flugbewegungen ausgesetzt, bis das Geschwader die andere Seite der Insel erreicht hatte.
Dennoch, versicherte er Rapp, würden sie und die Geiseln auf jeden Fall herausgeholt, denn die Piloten wüssten auch bei solchen Bedingungen, was sie zu tun hatten. Es könne nur sein, dass der Flug ein wenig unangenehm würde. All das trug in keiner Weise dazu bei, Rapps Sorgen zu zerstreuen. Große Worte und Draufgängertum waren eine Sache, die Wirklichkeit aber eine völlig andere. Waren die Forester unterstellten Hubschrauberpiloten wirklich imstande, sie unter diesen Umständen heil herauszuholen? Nach den Worten des Kommandanten waren sie das, aber bestand nicht auch die Möglichkeit eines Absturzes? Unbedingt. Hubschrauberflüge im Dunkeln waren sogar bei günstiger Witterung heikel, wenn aber noch stürmischer Wind, Regen und hügeliges Gelände hinzukamen, waren alle Zutaten für eine Katastrophe beisammen.
Gegen Foresters Behauptung von der Fähigkeit seiner Piloten setzte der CIA-Spezialist für Terrorbekämpfung ihm bekannte statistische Angaben: In den vergangenen zwanzig Jahren waren mehr Angehörige von Spezialeinheiten der Vereinigten Staaten bei Hubschrauberunfällen umgekommen als bei allen anderen Pannen und Unglücksfällen zusammen.
Rapp, Coleman und Jackson hatten unter einem dicht belaubten mächtigen Baum Zuflucht gesucht, der ihnen einen gewissen Schutz gewährte. Rapp legte die Hand auf sein Lippenmikrofon und sah zu Coleman hinüber.
»Was die Sache mit dem Hubschrauber angeht, hab ich kein gutes Gefühl«, raunte er. Der Ausdruck auf Colemans Gesicht zeigte ihm, dass dieser seine Sorge teilte.
»Ich bin auch nicht scharf darauf. Aber welche andere Möglichkeit haben wir? Willst du abwarten, bis das Unwetter vorbei ist, und das Lager erst kurz vor Morgengrauen stürmen?«
Auch diese Vorstellung sagte Rapp nicht sonderlich zu. »Nein, gewartet wird nicht. Jetzt ist der richtige Augenblick.«
»Wir haben eine ganze Menge Sprengstoff mitgebracht«, sagte Jackson. »Wir könnten versuchen, die Landefläche noch mehr zu vergrößern.«
»Das könnte sinnvoll sein«, räumte Rapp ein. »Aber mir behagt der Gedanke nicht, bei dem Wetter mit einem Hubschrauber rausgeholt zu werden.«
»Und wenn wir zurück ans Meer gehen?«, schlug Coleman vor.
»Das kann nur klappen, wenn uns niemand verfolgt.« Jackson wies über die Schulter zum Lager der Abu Sayyaf. »Sollten die es schaffen, einen Funkspruch abzusetzen, dass man sie angegriffen hat, könnte man uns den Weg abschneiden. Außerdem würden wir dann trotzdem einen Hubschrauber brauchen.«
»Nicht unbedingt«, sagte Coleman. Den Daumen auf dem Sendeknopf seines Funkgeräts, fragte er: »Wie ist die See in Lee unserer Insel hier?«
Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam, weil der Kommandant bei einem der Schiffe, die dem seinen voraus waren, hatte rückfragen müssen. »Im Augenblick gibt es eine Dünung von drei Metern Höhe.«
Coleman kannte die Antwort auf die nächste Frage, stellte sie aber trotzdem. »Wäre es schwierig, Mark-V- Boote zu Wasser zu bringen?«
»Nein. Ich kann das Schiff in den Wind drehen, dann geht das ohne weiteres.«
»Was meinst du?« Coleman sah zu Rapp hin. »Wenn alles glatt geht, können wir dem Kommandanten sagen, er soll die Schnellboote zu Wasser lassen. Wir brauchen mindestens eine Stunde, bis wir da sind. Das genügt, um die Boote auszusetzen, die uns dann an Bord nehmen können. Die haben so wenig Tiefgang, dass sie bis ans Ufer fahren können; wir steigen einfach ein und fahren zur Belleau Wood.«
»Und falls wir auf Widerstand stoßen«, fügte Rapp hinzu, »oder Grund zu der Vermutung haben, dass die Tangos ihre Kameraden alarmiert haben, lassen wir den Hubschrauber kommen.«
»Genau«, bekräftigte Coleman.
Rapp sah zu Jackson hin. »Was meinen Sie?«
»Guter Gedanke. Das gibt uns Flexibilität.«
»In Ordnung.« Coleman war ebenfalls erleichtert. Er hob das abhörsichere Sendegerät an den Mund und sagte: »Wir stellen uns die Sache wie folgt vor…«
Während Coleman mit dem Kommandanten der Belleau Wood über die Einzelheiten sprach, nutzte Rapp die Gelegenheit, Jackson eine persönliche Frage zu stellen, die sich nicht länger hinausschieben ließ, zumal es denkbar war, dass es unter bestimmten Umständen länger dauern konnte, bis sie eine Möglichkeit hatten, die Insel zu verlassen.
Er sah dem Jüngeren offen in die Augen. »Haben Sie je an Kampfhandlungen teilgenommen?«
Jackson zögerte kurz, als habe er auf die Frage gewartet, und sagte schließlich: »Nein.«
»Das ist nicht weiter schlimm«, gab Rapp zurück.
»Jeder muss irgendwann mal anfangen. Wie viele von Ihren Männern haben Kampfeinsätze hinter sich?« Jackson überlegte einen Moment. »Fünf von den dreiundzwanzig«, sagte er schließlich.
Das war nicht unbedingt das, was Rapp hatte hören wollen. In Gedanken begann er, die Männer herumzuschieben wie Figuren auf einem Schachbrett. Hacketts Erfahrung war zu wertvoll, ihn konnte er nicht für den Feuerschutz abstellen. Seine zielsichere Hand wurde dort benötigt, wo es darauf ankam, und aus dem gleichen Grund wäre es auch schön, Coleman an seiner Seite zu wissen. Der einzige Haken an der Sache war, dass Coleman unbedingt in einer Position sein musste, die es ihm gestattete, den Überblick zu behalten.
Coleman beendete das Gespräch mit Forester, und Rapp teilte ihm seine Besorgnis mit. Bevor dieser im Einzelnen darüber nachdachte, bat er Jackson, seine Männer zu einer letzten Lagebesprechung herbeizuholen.
Jackson kehrte zurück, und einer nach dem anderen tauchten seine Männer im Unterholz auf. Als alle versammelt waren, begannen Coleman und Jackson, ihnen das Unternehmen in allen Einzelheiten darzulegen. Es wurden nur wenige Fragen gestellt. Jeder wusste, worauf es ankam. Verschiedene Eventualitäten wurden angesprochen, und zum letzten Mal wurde genau festgelegt, aufweiche Weise dafür zu sorgen war, dass die Geiseln nicht in die Schusslinie gerieten, was mit ihnen zu geschehen hatte und dass sie so bald wie möglich in Sicherheit gebracht werden sollten.
Dann machte Coleman unmissverständlich klar, dass es sich um mehr als eine bloße Geiselbefreiung handelte. Er erklärte den Männern, dass sie möglichst viele Feinde ausschalten mussten, wenn sie lebend zum Schiff zurückkehren wollten. Sie waren zahlenmäßig unterlegen und konnten verwundeten Gegnern keine Hilfe leisten.
Coleman beorderte eine Gruppe nach der anderen an ihre Ausgangsposition und wies den Männern, die Feuerschutz geben sollten, ihre Stellung zu. Als alles bereit war, gab er den Befehl zum Aufbruch. Rapp führte den Trupp an. Sie robbten aus ihrer hoch gelegenen Stellung zum rauschenden Bach hinunter. Bevor es angefangen hatte zu regnen, war es möglich gewesen, mit einem großen Schritt hinüberzusetzen, jetzt aber war es ein hüfttiefer reißender Fluss, den man mit großer Achtsamkeit durchqueren musste.
Trotz der schweren Regentropfen, die auf die dicken Blätter fielen und viele Geräusche übertönten, bewegten sich die Männer mit größter Vorsicht. Der Boden war so glatt, dass sie Befehl hatten, nicht zu gehen, sondern zu kriechen, damit niemand ausglitt, in den Bach stürzte und auf diese Weise die Terroristen auf sie aufmerksam machte. Jackson und zehn seiner Männer folgten Rapp. Die übrigen zwölf SEALs, die nicht für den Feuerschutz eingeteilt waren, arbeiteten sich an den Flanken voran, um das Lager in die Zange zu nehmen. Entsprechend Wickers Erkundungsbericht hatten sechs Mann bereits am westlichen und sechs weitere am östlichen Rand des Lagers Stellung bezogen. Diese zwei Gruppen sollten die beiden Hauptwege im Auge behalten, die ins Lager führten, und die vier Hütten angreifen, sobald der Befehl dazu kam.
Jeder der an dem Unternehmen beteiligten neunundzwanzig Männer war genauestens über dessen vollständigen Umfang instruiert worden. Das war äußerst wichtig, nicht nur damit jeder imstande war, den Platz eines anderen einzunehmen, falls dieser fiel, sondern auch, damit jeder wusste, wo sich die anderen jeweils befanden. Bei einer so gewaltigen Feuerkraft, die auf eine vergleichsweise winzige Fläche konzentriert war, musste jeder genau wissen, wo sich Freund und Feind befand, um nicht aus Versehen auf die eigenen Leute zu schießen.
Am weit über seine Ufer getretenen Bach wartete Rapp, bis er hörte, dass die beiden Gruppen an den Flanken ihre Position erreicht hatten. Unter der Krempe seines Dschungelhuts blickte er über das reißende Gewässer zum Lager hinüber. Die Stelle war so günstig, dass er ohne sein Nachtsicht-Zielfernrohr in eine der Hütten hineinsehen konnte. Die Männer schienen im Licht der unter der Decke hängenden Laterne in irgendein Spiel vertieft. Gerade jetzt schrie wohl einer die anderen wütend an, was diese mit dröhnendem Lachen quittierten. Bei diesem Anblick kam Rapp unwillkürlich der Gedanke, dass die Disziplin bei diesen Leuten sehr zu wünschen übrig ließ. Wenn man das bedachte, war es mehr als ärgerlich, dass man die Andersens nicht längst befreit hatte.
Während er wartete, wandten sich seine Gedanken einen Augenblick lang Anna zu. Er wagte sich nicht auszumalen, was sie tun würde, wenn sie wüsste, was er da trieb. Vermutlich hatte sie allen Grund, ihn für verantwortungslos und auch für unaufrichtig zu halten. Er beschloss, diesen Gedanken nicht weiterzuverfolgen, jedenfalls nicht jetzt. Vorwürfe und Unschuldsbeteuerungen konnten warten, bis er wieder in Washington war.
Unaufhörlich stellte Anna Fragen. Sie hatte einen unersättlichen Drang, Dinge in Erfahrung zu bringen, und je nachdrücklicher man ihr sagte, dass etwas nicht wichtig sei, desto wichtiger wurde es ihr. Selbstverständlich kam ihr das bei ihrem Beruf als Journalistin zustatten, aber in ihrer privaten Beziehung sollte man wohl besser ein aufmerksames Auge darauf haben. Sie war sehr leidenschaftlich und tat nichts halbherzig. Wenn eine Sache es wert war, getan zu werden, war sie es auch wert, gründlich getan zu werden – das war ihr Motto. In dieser Hinsicht unterschied sie sich nicht sonderlich von ihm, nur erledigte er seine Aufgaben eher analytisch und gelassen, während sie stets voller Begeisterung auf ihr Ziel zusteuerte.
Colemans Stimme in seinem Ohrhörer holte ihn in die Wirklichkeit zurück. »Einsatzkommandos drei und vier sind eingetroffen, Mitch. Sag Bescheid, wenn du so weit bist.«
Er umschloss seine schallgedämpfte MP-5 mit beiden Armen und schob sich weit vorgebeugt in das dahinschießende Gewässer. Die Strömung war stärker als erwartet. Er hoffte, dass ihm das Wasser nicht weiter als bis zur Hüfte ging, weil die Durchquerung sonst schwieriger werden konnte, als sie angenommen hatten. Schritt für Schritt ertastete er den Boden und suchte sich sorgfältig den Weg, bereit, jeden Augenblick unterzutauchen, falls sich jemand im Eingang eines der beiden Zelte zeigte.
Glücklicherweise reichte ihm das Wasser nirgendwo höher als bis zur Mitte der Oberschenkel. Solange niemand den Boden unter den Füßen verlor, würde die Durchquerung des Bachs keine Schwierigkeiten bereiten. Am gegenüberliegenden Ufer robbte er den mit Gras bewachsenen Hang empor und suchte sich, keine zehn Meter vom Zelt der Geiseln entfernt, eine Stelle, von der aus er bei Bedarf Feuerschutz geben konnte. Mit einem Handzeichen bedeutete er Jackson, dass er die beiden anderen Gruppen in Marsch setzen könne.
Diesen Einfall hatte Jackson gehabt. Der ursprüngliche Plan hatte vorgesehen, dass Rapp allein hinübergehen und versuchen sollte, nah genug an das Zelt der Geiseln heranzukommen, um feststellen zu können, wo sie sich aufhielten. Zwar vermuteten sie, dass sie sich in die hinterste Ecke drängen würden, doch wäre es besser, genau zu wissen, wo sie waren.
Immer wieder übten SEALs in eigens dafür hergerichteten Schießständen das Vorgehen bei Geiselbefreiungen. Vor allem ging es dabei um das Aufsprengen von Türen oder Fenstern, und mitunter mussten sie sogar durch eine Wand eindringen. Unerlässlich war, dass man schon in der ersten Sekunde wusste, wo sich Geiseln und Terroristen befanden, um Letztere sofort zu erschießen.
Jackson hatte angeregt, erst die beiden anderen Gruppen ans andere Ufer zu bringen, bevor sich Rapp ein Bild machte. Auf diese Weise wären sie, falls etwas nicht nach Plan verlief, in einer weit besseren Ausgangsposition, um ihr Unternehmen zum glücklichen Ende zu bringen. Da niemand ohne die Andersons zurückkehren wollte, hatte Jackson darauf gedrängt, dass sie alle verfügbaren Kräfte einsetzten.
Ein Blick über die Schulter zeigte Rapp, dass Jackson das Ufer erreicht hatte und dem nächsten Zeichen machte, ihm zu folgen. Während Rapp auf Jackson wartete, ließ ihn ein Lichtblitz links von sich zusammenzucken. Er erstarrte. Dann sah er, dass ein Mann die Zeltbahn am Eingang beiseite geschlagen hatte, um sich zu erleichtern.
Rapp machte sich nicht die Mühe, seine Waffe auf ihn zu richten. Mit Sicherheit hatte ihn Wicker längst im Visier. Er sah über die Schulter: Jacksons Männer, die sich in der Mitte des reißenden Baches duckten, waren kaum zu sehen.
Da es unaufhörlich regnete, brauchte er nicht zu befürchten, dass ihn jemand hörte, und so flüsterte er in sein Mikrofon: »Kein Grund zur Aufregung. Der Bursche kann höchstens fünf oder sechs Meter weit sehen.« Dennoch stießen alle einen Seufzer der Erleichterung aus, als er fertig war und den Zelteingang wieder schloss. Bald waren alle Männer angekommen und nahmen Stellungen ein, aus denen sie eingreifen konnten, falls man Rapp entdeckte.
Von seinem nur sechzig Meter entfernten Posten, der etwas höher lag als das Lager, hatte Coleman einen ungehinderten Überblick. Mit angehaltenem Atem hatte er zugesehen, wie erst Rapp und dann die anderen den reißenden Bach überquerten. Von den beiden an den Flanken postierten Gruppen war nichts zu sehen, da sie sich durch den dichten Dschungel voranarbeiten mussten. Wicker hatte das Gelände bereits erkundet und berichtet, dass es keinerlei Sprengfallen gebe. Als alle bereit waren, meldete sich Coleman bei Rapp.
»Mitch, wenn du so weit bist, sieh dich rasch um und verschwinde dann wieder. Lieutenant, machen Sie sich für die Conga bereit.« Damit war eine Art des Eindringens in besetzte Gebäude gemeint, auf die sich die SEALs spezialisiert hatten. Inzwischen war es das klassische Verfahren bei einer Geiselbefreiung. Um ein Gebäude zu stürmen, bildeten die Männer eine Reihe, als wollten sie eine Conga tanzen. Sobald sie sich im Inneren des Gebäudes befanden, scherte jeder zweite aus der Reihe aus, sodass alle einen Überblick hatten und der ganze Raum im Schussfeld lag, ohne dass sich die Männer gegenseitig behinderten.
Rapp teilte Coleman seinen Aufbruch im Flüsterton mit. Zentimeter für Zentimeter schob er sich durch das Gras auf das Zelt zu. Auf der mehr oder weniger freien Fläche, auf der er sich jetzt befand, boten ihm nur noch die Dunkelheit und der Regen Schutz, und so bewegte er sich möglichst rasch. Nachdem er einen schlammigen Pfad überquert hatte, befand er sich an einem leichten Grashang. Jetzt musste er unbedingt darauf achten, jederzeit freies Schussfeld zu haben. Aus dem nur noch drei Meter entfernten Zelt hörte er Stimmen. Kurz darauf befand er sich im Bereich der Zeltpfähle und schob sich vorsichtig weiter dem hinteren Ende entgegen, wo sie die Andersons vermuteten.
An einer Stelle, wo die grüne Zeltbahn dicht über dem Boden endete, drang ein schmaler Lichtschimmer hervor. Statt hindurchzuspähen, legte er sich so hin, dass er hören konnte, was gesagt wurde.
So laut trommelte der Regen auf seinen Hut, das Zelt und den Boden, dass er die Stimmen der Terroristen kaum unterscheiden konnte, die sich in ihrer Muttersprache unterhielten. Die Stimmen am anderen Ende des Zelts waren für ihn deutlicher zu hören. Durch den Spalt am Boden fielen Schatten. Befriedigt von der Erkenntnis, dass sie richtig gelegen hatten, schob er sich rückwärts durch Gras und Schlamm weiter.
Bevor er unter dem Rand des Zelts hindurchspähte, warf er einen kurzen Blick auf seine MP-5. Mit dem Nachtsicht-Zielfernrohr und dem langen, dreißig Schuss fassenden Magazin an der Unterseite war sie ziemlich sperrig. Falls er schießen musste, konnte es schwierig werden, sie unter der Zeltbahn durchzuschieben. Daher legte er sie vor sich auf den Boden und griff nach seiner ebenfalls schallgedämpften 9-mm-Beretta. Er zog sie geräuschlos aus dem Hüftholster und nahm sie in die linke Hand. Im Unterschied zu dem, was man im Kino sieht, brauchte er weder eine Kugel in die Kammer zu laden noch den Sicherungshebel umzulegen. Bei einem Einsatz waren seine Waffen jederzeit feuerbereit.
Er lauschte noch einmal, hörte aber nichts. Falls sich die Geiseln dort befanden, wo er sie vermutete, gaben sie keinerlei Geräusch von sich. Eine Hand vor das Mikrofon gelegt, flüsterte er: »Ich sehe jetzt nach. Haltet euch bereit.«
Er drehte sich auf den Rücken und legte sich so, dass er nach oben spähen konnte, wenn er die Zeltbahn mit der rechten Hand ein wenig beiseite zog. Auf diese Weise behielt er die Linke frei für den Fall, dass er sie brauchte. Da sein Kopf fast auf der Erde lag, sah er lediglich die verfaulten Bretter des Zeltbodens.
Vorsichtig hob er die Zeltbahn weiter an. Zuerst nur zwei, drei Zentimeter, obwohl er sicher war, dass Wind und Regen jedes andere Geräusch überdeckten. Diesmal sah er unmittelbar vor sich einen schmutzigen Fuß. Da sich nicht feststellen ließ, ob er einer Geisel oder einem Terroristen gehörte, hob er das Tuch noch ein Stück weiter und zog es ein wenig beiseite. Diesmal belohnte ihn der Anblick einer mit Schmutz bedeckten und von Insektenstichen übersäten unbehaarten Wade sowie der eines Fußes, der so klein war, dass er nur einem Kind gehören konnte.
Erwartungsvoll hob er die Zeltbahn noch ein Stück weiter. Wie in den anderen Unterkünften hing lediglich eine einzelne Laterne von der Decke. In ihrem trüben Licht sah er zwei der Kinder und den Rücken der Mutter, alle drei leicht an ihren roten Haaren zu erkennen. Er sah weiter um sich, weil er wissen wollte, wo sich der Vater und das dritte Kind befanden. Wenn sie genau wussten, wo sich jeder aufhielt, war die Sache viel einfacher.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Zelts glaubte er das Bein des Vaters erkennen zu können. Als er die Zeltbahn noch ein wenig mehr beiseite zog und den Kopf hob, um einen besseren Überblick zu haben, starrte ihn mit einem Mal ein Paar weit aufgerissene Augen an. Da geschah es.