53

Noch nie im Leben hatte sich Premierminister Goldberg so bedrängt gefühlt. Das war schlimmer als damals im Jom-Kippur-Krieg, als er den Auftrag hatte, seine Stellung zu halten, bis ein Gegenangriff geführt werden konnte. Pausenlos waren syrische Streitkräfte von allen Seiten gegen ihn angestürmt und hatten seine Stellung beschossen, bis ihm das Blut aus den Ohren strömte. Drei Tage und Nächte hatte er ohne Schlaf ausgehalten, während er mit seinen Männern in einem blutigen Gefecht um die Golanhöhen gegen eine zahlenmäßig weit überlegene syrische Streitmacht gekämpft hatte. Als endlich der Gegenangriff erfolgte, hatte das israelische Heer die Syrer nicht nur bis hinter die Grenze zurückgeworfen, sondern war bis in Sichtweite von Damaskus vorgerückt.

Dann waren die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion eingeschritten und hatten die Krieg führenden Mächte zu trennen versucht, wie kleine Kinder, die sich auf dem Spielplatz prügelten. Nie würde Goldberg die Lektion des Jahres 1973 vergessen, die da lautete: Trau deinen arabischen Nachbarn nie über den Weg. Sie hatten am höchsten Feiertag des Landes angegriffen, dem Tag, an dem die Juden in den Synagogen beten. Drei Tage lang hatten sie unerbittlich auf das israelische Volk eingeschlagen. Als es dann den Streitkräften der Überfallenen gelungen war, sich zu formieren und die Ägypter wie auch die Syrer über die Grenzen zurückzutreiben, hatten diese lauthals nach einem Eingreifen der Völkergemeinschaft verlangt. Als genügte es nicht, dass sie erst einen heimtückischen Angriff geführt und dann um Frieden gewinselt hatten, wollten sie auch noch das inzwischen von Israel besetzte Land zurück, obwohl tausende von Israelis in diesem Krieg den Tod gefunden hatten.

Unter dem Druck eines drohenden Ölembargos durch die arabischen Länder hatten die Vereinigten Staaten Israel gezwungen, sich nicht nur zurückzuziehen, sondern auch einen großen Teil der eroberten Gebiete zurückzugeben. Niemanden schien es zu interessieren, dass nicht sie den Krieg vom Zaun gebrochen hatten. Wie oft musste die Welt noch sehen, dass man den Arabern nicht trauen konnte? Es enttäuschte Goldberg unendlich, dass sich die politische Führung der europäischen Länder weigerte, die Dinge realistisch zu betrachten. Ihn betrübte zutiefst, dass sie Israel trotz allem, was die Juden auf jenem verfluchten Kontinent erlitten hatten, nicht zu Hilfe kamen. Er wollte für sein Volk nichts als ein Land, in dem die Menschen sicher leben konnten. Und als wäre es nicht schon schlimm genug, dass er es mit zum Selbstmord entschlossenen Palästinensern und heuchlerischen Staatsoberhäuptern zu tun hatte, machten ihm jetzt auch noch Abweichler in seiner eigenen Regierung zu schaffen.

Er war ermattet. Die Jahre, die er im Kampf an der Spitze verbracht hatte, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Allmählich schwand seine Energie dahin. Wenn sich die Dinge im gleichen Tempo wie bisher weiterentwickelten, bestand die Möglichkeit, dass er die Woche nicht ohne ein Misstrauensvotum überstehen würde. Erst hatten sich die Vereinten Nationen und eine ganze Anzahl seiner Kabinettsmitglieder über den Vorfall von Hebron entrüstet, und jetzt war der palästinensische UN-Botschafter mitten in New York erschossen worden.

Als ihn einer seiner Berater beim Frühstück von dem Attentat in Kenntnis gesetzt hatte, war er im tiefsten Inneren von verzweifelter Angst erfasst worden. Unwillkürlich hatte er an seinen alten Freund Ben Freidman denken müssen, der an der Spitze des Mossad stand. Den ganzen Tag schon hatte er sich die Frage gestellt, ob ihm zuzutrauen sei, dass er ein solch verhängnisvolles Unternehmen auf eigene Faust durchführte, und sie insgeheim mit einem rückhaltlosen Ja beantwortet. Das hatte sein Unbehagen angesichts der bevorstehenden Sitzung noch gesteigert. Könnte man die Sache doch einfach der Vergessenheit anheim stellen! Angesichts des unaufhörlichen Blutvergießens zwischen Palästinensern und Israelis würde es nicht einmal besonders lange dauern, bis niemand mehr davon sprach, doch wie die Dinge lagen, würde sich die Situation in den nächsten ein, zwei Monaten mit Sicherheit eher noch verschärfen. In Amerika war es noch früh am Morgen, aber bestimmt würde ihn im Laufe des Tages Präsident Hayes oder eher noch die Außenministerin anrufen und von ihm hören wollen, dass Israel mit diesem brutalen Anschlag nichts zu tun hatte.

Am liebsten hätte Goldberg den Kopf in den Sand gesteckt, doch entsprach ein solch törichtes Verhalten in keiner Weise seinem Wesen. Erst musste er von Freidman die Wahrheit in Erfahrung bringen, danach konnte er entscheiden, was er den Amerikanern sagen würde. Verzweifelt fuhr er sich mit der Hand durch das schüttere weiße Haar und sah auf die Wanduhr. Gleich halb drei. Freidman hatte sich verspätet. Das überraschte ihn nicht – der Geheimdienstchef kam und ging, wie es ihm beliebte.

Wenige Minuten später trat Freidman schließlich ein. Mit seinem weiten, kurzärmeligen weißen Hemd und einer Freizeithose stach er deutlich von Goldberg ab, der einen untadeligen Anzug trug. Wie immer hing Freidmans Hemd hinten ein wenig aus der Hose. Es sollte den Revolver vom Kaliber .38 verdecken, den er in einem Gürtelholster am Hosenbund trug. Die Unruhe des Premierministers war unübersehbar. Selbstverständlich war Freidman über den Mord an Botschafter Ali im Bilde, und ihm war klar, dass alle Welt in ihm den Hauptverdächtigen sah.

Langsam ließ er sich in einen der beiden Sessel sinken, die vor dem Schreibtisch standen. Auf den gequälten Gesichtsausdruck seines Freundes anspielend, sagte er: »David, du siehst nicht gut aus.«

Goldberg schüttelte den Kopf so heftig, dass seine Hängebacken zitterten. »Wundert dich das? Ich kämpfe hier den Kampf meines Lebens.«

Freidman sah darin eine typische Übertreibung des Politikers, der die Fähigkeit verloren hat, Ereignisse richtig einzuordnen. Mit einer Stimme, in der nicht der geringste Anflug von Mitgefühl lag, sagte er: »Die Sache ist doch völlig belanglos.«

Goldberg hob die Augen unter schweren Lidern und musterte den überheblichen Direktor des Mossad aufmerksam. Dabei stieg allmählich Zorn in ihm auf.

»Vielleicht hast du es noch nicht gemerkt, Ben, aber in letzter Zeit zerfällt mein Kabinett buchstäblich. Die UNO verlangt lautstark die Entsendung von Inspektoren nach Hebron, und nach dem gestrigen Attentat in New York wird sie bestimmt eine entsprechende Resolution fassen.«

»Dann sag denen einfach, dass sie sich die in den Hintern stecken sollen…«

Goldberg ließ die Faust auf den Tisch donnern und schnitt ihm das Wort ab. »Das kann ich nicht«, schrie er ihn an, »weil ich dann nicht mehr Premierminister bin! Man wird mich lange vor dem Eintreffen des ersten Inspektors aus dem Amt vertrieben haben, und das habe ich dir zu verdanken!«

»Du übertreibst«, gab Freidman zurück und schüttelte angewidert den Kopf.

»Absolut nicht«, fuhr ihn Goldberg an. »Du hast mich mit deinem Übereifer in Hebron ganz übel hineingeritten.«

»Du bist der Letzte, der mir Übereifer vorwerfen darf. Schließlich hat man dich nur gewählt, weil das Volk jemanden haben wollte, der übereifrig ist.«

»Es gab keinen Grund, das ganze Stadtviertel in Schutt und Asche zu legen«, stieß Goldman hervor.

»O doch!«, schrie Freidman zurück. »Hast du etwa vergessen, wie es uns mit Falid Al-Din ergangen ist? Wir haben eine Rakete direkt auf seinen Wagen abgefeuert, und er ist ohne den kleinsten Kratzer davongekommen. Dieser Fehler sollte uns nicht noch einmal unterlaufen.«

»Und deshalb hast du gleich ein ganzes Stadtviertel in Trümmer gelegt.«

»Jawohl, das habe ich! Wir befinden uns im Krieg!« Mit einem Seufzer der Verzweiflung stieß Goldberg durch zusammengebissene Zähne hervor: »Das weiß ich selbst. Wir müssen aber auch anderes im Auge behalten.«

»Zum Beispiel?«

»Unsere Verbündeten.«

»Meinst du etwa die, die über Dresden und Tokio Brandbomben und über Hiroshima und Nagasaki Atombomben abgeworfen haben?« Vollständig von der Rechtmäßigkeit seiner Position überzeugt, sah Freidman den Premier offen an. Sie hatten diese Diskussion schon oft geführt und waren im Grunde einer Meinung. »Krieg ist widerlich, aber mitunter rettet man auf die Dauer gesehen mehr Leben dadurch, dass man brutaler vorgeht als der Gegner. Der Teufel soll die Völkergemeinschaft holen. Das Beste wäre es, sämtliche Palästinenser aus den besetzten Gebieten zu vertreiben und sie erst wieder zurückkehren zu lassen, wenn alle arabischen Staaten einen Friedensvertrag unterzeichnet haben.«

Der Premierminister schüttelte den Kopf. »Du weißt sehr wohl, dass das nicht geht. Für ein solches Vorgehen fehlt der politische Wille.«

»Warum versuchen wir nicht festzustellen, ob er doch da ist?«

Goldberg ärgerte sich, dass er sich so weit von dem Punkt hatte weglocken lassen, um den es ging. Wieder einmal hatte Freidman gezeigt, dass er vor nichts zurückschreckte, wenn es galt, seinen Willen durchzusetzen. Womöglich, ging es Goldberg durch den Kopf, bringt er es mit seiner Heimtücke sogar fertig, mich in eine Position zu drängen, in der ich keine andere Wahl habe, als loszuschlagen. Er sah Freidman durchdringend an und überlegte, wie weit er gehen würde, um seine Ziele zu erreichen. Mit Sicherheit sehr weit, das war ihm klar.

»Sieh mir in die Augen, und sag mir, welche Rolle du beim Tod des palästinensischen Botschafters gespielt hast.«

Ben Freidman zählte nicht zu den Menschen, die schnell beleidigt sind. Als hätte man ihn gefragt, was er zu Mittag gegessen hatte, gab er zurück: »Nicht die Allergeringste.«

Goldberg suchte nach einem Hinweis darauf, dass er log, begriff aber nach einer oder zwei Sekunden, dass dieser Versuch aussichtslos war. Er hatte schon viel zu oft miterlebt, wie dieser Mann log, und das mit einer solchen Seelenruhe, als wenn er die Wahrheit sagte.

»Hatte der Mossad bei Botschafter Alis Tod die Finger im Spiel?«

Freidman schüttelte den Kopf. »Schon möglich, dass ich verrückt bin, David, aber ich bin nicht dämlich. Warum sollte ich den Mann ausgerechnet in Amerika umbringen lassen?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mir tut es nicht im Geringsten leid, dass er tot ist. Dieser als Diplomat verkleidete Dreigroschenhalunke hat sich fast jeden Monat in Ramallah aufgehalten. Falls ich seinen Tod gewünscht hätte, wäre das auf sehr viel einfachere Weise zu bewerkstelligen gewesen, die weit weniger Aufsehen erregt hätte.«

Diese Worte bewirkten bei Goldberg das genaue Gegenteil dessen, was Freidman erwartet hatte. Gerade das Argument, mit dem er sich verteidigte, lieferte dem Premier einen Grund anzunehmen, dass er geglaubt haben konnte, mit der Ermordung des palästinensischen UN-Botschafters durchzukommen. Jeder klar Denkende würde zu dem Ergebnis gelangen, dass der Direktor des Mossad es auf keinen Fall darauf anlegen würde, die Amerikaner vor den Kopf zu stoßen, wenn er die Möglichkeit hatte, den Botschafter einfach dann umbringen zu lassen, wenn er sich im Westjordanland aufhielt. Jetzt machte sich Goldberg erst recht Sorgen. Ob einer seiner engsten Berater hinter den Kulissen daran arbeitete, einen Flächenbrand auszulösen?

Freidman merkte, dass Goldberg seine Unschuldsbeteuerung nicht glaubte, und sagte in schmeichlerischem Ton: »Ich versichere dir, David, dass ich völlig schuldlos bin. Ich habe bereits mit der Direktorin der CIA gesprochen. Sie vermutet, dass die Sache etwas mit einem Geschäft zu tun haben könnte, das schief gelaufen ist.« Zwar verdrehte er mit dieser Behauptung die Wahrheit ein wenig, hielt das aber in dieser Situation für gerechtfertigt.

Goldberg sah ihn misstrauisch an. »Und was für ein Geschäft soll das gewesen sein?«

»Es ist bekannt, dass Ali seine Hände von Zeit zu Zeit im Waffenhandel hatte.«

»Im Waffenhandel?«

»Ja.« Erfreut sah Freidman, dass Goldberg Hoffnung zu schöpfen schien.

»Und du sagst, die Amerikaner wussten davon?«

»Ja, wie im Übrigen auch die Geheimdienste der Franzosen, der Briten, Deutschen und Russen.«

»Ich möchte gern so bald wie möglich die Akte über Ali sehen und alles an die Amerikaner weiterleiten, was wir über ihn wissen.«

»Ist bereits in Arbeit.«

Der Premierminister fühlte sich ein wenig besser. Doch war da nach wie vor die Katastrophe von Hebron.

»Angenommen, uns gelingt der Nachweis, dass wir nichts mit Alis Tod zu tun haben, bleibt immer noch die Sache mit Hebron. Bestimmt ist es zu spät, die Folgen abzuwenden, denn angesichts der gegenwärtigen politischen Stimmung wird die UNO mit Sicherheit spätestens morgen für die Entsendung von Inspektoren stimmen.«

»Sorg dafür, dass die Amerikaner das hinauszögern.«

»Damit brauchen wir nicht zu rechnen. Nicht jetzt.«

»Dann lass die Inspektoren einfach nicht ins Land.« Diese Möglichkeit hatte Goldberg bereits selbst erwogen und mit seinen engsten politischen Beratern darüber gesprochen. Niedergeschlagen erklärte er: »Das wäre gleichbedeutend mit politischem Selbstmord. Mein Kabinett würde mich fallen lassen, und ich hätte binnen vierundzwanzig Stunden ein Misstrauensvotum am Hals.«

Zwar wusste Freidman, dass Goldberg damit Recht hatte, doch war er nicht bereit, so rasch klein beizugeben. Schweigend saßen die beiden Männer da und überlegten, ob es einen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation gab. Gerade als Freidman in Gedanken an seinem Vorschlag feilte, drang von draußen ein gedämpftes Grollen herein. Sie sprangen auf und stürzten ans Fenster. Im selben Augenblick hörte man in der Ferne eine weitere Explosion. Unglücklicherweise war ihnen das Geräusch nur allzu vertraut.

Schon wenige Minuten später gingen die ersten Berichte ein. Drei Selbstmordattentäter hatten sich im Abstand von wenigen Minuten in die Luft gejagt, zwei in Westjerusalem und einer in Tel Aviv. Noch war die Zahl der Toten nicht bekannt, doch fürchtete man das Schlimmste. Spezialeinheiten waren in Marsch gesetzt worden, die sich bemühten, dafür zu sorgen, dass es zu keinen weiteren Explosionen kam. Die Märtyrerbrigaden waren auf eine neue heimtückische Variante verfallen, die darin bestand, dass ein zweiter Sprengsatz etwas später als der erste gezündet wurde und die Menschen tötete, die herbeigeeilt kamen, um den Opfern Erste Hilfe zu leisten.

Freidman fasste Goldberg am Arm und führte ihn in eine Ecke, wo ihn seine Berater nicht hören konnten.

»Das ist deine Chance.«

»Wie das?«

»Schick die Armee ins Westjordanland und verhäng über Hebron eine Ausgangssperre. Sorg dafür, dass das ganze Gelände abgeriegelt wird, und überlass mir den Rest. Bis die UN-Inspektoren eintreffen, wird es reichlich Beweise für die Existenz einer Sprengsatzfabrikation geben. Dann kannst du auf einen Schlag die Kritiker im Kabinett zum Schweigen bringen und die Vereinten Nationen beschwichtigen.«

Goldberg dachte kurz über den Vorschlag nach und nickte dann bedächtig. Es war seine einzige Möglichkeit. Es herrschte Krieg, und in einem Krieg war fast immer die Wahrheit das erste Opfer.