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Die Sonne war schon untergegangen und der Berufsverkehr vorüber, als Rapp auf die Chain Bridge einbog und Vollgas gab. Wie eine Rakete schoss sein aufgeladener Volvo S 80 über die niedrige Kettenbrücke. Am anderen Ende bog er nach rechts ab und trat das Gaspedal erneut vollständig durch. Er war für acht Uhr mit seiner Frau im Austin Grill in der Wisconsin Avenue zum Abendessen verabredet und bereits jetzt eine Viertelstunde zu spät. In der Reservoir Road fädelte er sich nach links ein und schoss quer durch den Gegenverkehr in eine Straße, die unmittelbar nordwestlich der Georgetown-Universität in ein ruhiges Wohnviertel führte.

Anna hatte das gemütliche kleine Restaurant ausgesucht, in dem man erstklassige Margaritas und gutes mexikanisches Essen bekam. Rapp bedauerte, dass er keinen Cocktail trinken konnte, da er gleich nach dem Essen zurück nach Langley musste. Sie waren der Antwort auf die Frage, wer der Kontaktmann des saudischen Prinzen sein mochte, in den letzten acht Stunden keinen Schritt näher gekommen.

Kennedy hatte eingewilligt, die Spezialisten der Terrorbekämpfung vom FBI mit hinzuzuziehen, wollte aber Frankreich und Israel lieber nicht auf die Sache ansprechen. Bourne hatte das Foto des Unbekannten mit der Datenbank von Interpol abgeglichen. Um den Leuten dort vorzugaukeln, dass es sich um eine Routineangelegenheit handelte, hatte sie es unter ein halbes Dutzend anderer Gesuchter gemischt. Gegen alle Erwartungen kam nichts dabei heraus. Der Druck, den das Weiße Haus auf die CTC ausübte, war den Ermittlungen nicht förderlich. Rapp war entschlossen, nach Frankreich zu fliegen, falls sie bis zum nächsten Vormittag nicht weitergekommen waren. Er hatte eine Vorstellung davon, wie er das Rätsel lösen konnte, und setzte seine größte Hoffnung auf Prinz Omars persönlichen Diener, den kriecherischen Devon LeClair. Die Briten hatten ihm einen kurzen Lebenslauf des Mannes zukommen lassen, aus dem hervorging, dass er höchstwahrscheinlich Einzelheiten über das ruchlose Treiben des Prinzen wusste. Rapp war bereit, darauf zu wetten, dass er den Mann binnen fünf Minuten zum Reden bringen konnte. Einstweilen hatte er Dumond beauftragt, sich einmal genauer mit dem Franzosen zu beschäftigen.

Er bog nach links in die 37. Straße und bremste, weil einige Schüler die Fahrbahn betont langsam überquerten, dann beschleunigte er bergauf. Knapp eine Minute später bog er nach Süden in die Wisconsin Avenue ein und parkte in der ersten Lücke, die er fand. Als er beim Aussteigen das falsche Bein belastete, zuckte er zusammen. Er warf rasch einen Blick in die Runde, bevor er zum Lokal hinüberging.

Um möglichst wenig aufzufallen, betrat er es mit gesenktem Kopf und hochgeschlagenem Mantelkragen. Er drängte sich an den jungen Leuten vorüber, die die Theke umlagerten. Selbst an einem Dienstagabend war das Lokal brechend voll. Bei jedem Schritt achtete er aufmerksam auf die Gesichter um sich herum und suchte nach verdächtigen Anzeichen in seiner Umgebung. Er strebte der Treppe zur Empore entgegen und humpelte nach oben. In diesem Lokal saßen er und Anna immer oben.

Ganz wie er es ihr beigebracht hatte, hatte sie sich mit dem Rücken zur Wand in eine Ecke gesetzt. Mit einem Lächeln, bei dem auf seinem gebräunten Gesicht zwei Grübchen sichtbar wurden, eilte er auf sie zu.

»Entschuldige, Liebling, dass ich zu spät komme.« Lächelnd bot sie ihm ihren Mund. Da gewöhnlich sie diejenige war, die zu spät kam, durfte sie sich nicht beklagen.

Er küsste sie und zog den Mantel aus, wobei er sorgfältig darauf achtete, das Jackett nicht zu weit offen stehen zu lassen, um niemanden durch den Anblick der Waffe, die er im Schulterholster trug, zu beunruhigen. Er setzte sich neben Anna, sodass beide mit dem Rücken zur Wand saßen. Er nahm ihre Hand und fragte: »Wie war dein Tag?«

Sie trank einen Schluck Wasser. »Ziemlich hektisch. Das Attentat auf den Botschafter hat die Leute ganz schön aufgescheucht.«

»Sprich weiter«, forderte er sie auf.

»Ich habe gehört, dass der Präsident völlig aus dem Häuschen war, als er davon gehört hat.«

Er überlegte einen Augenblick. »Es hat ihn nicht gefreut, davon zu hören, aber ich würde nicht sagen, dass er aus dem Häuschen war.«

Anna war nicht sicher, ob er flunkerte oder die Wahrheit sagte. »Und habt ihr schon eine Vorstellung, wer das war?«

»Wir haben ein paar Spuren.«

»Aber nichts, worüber du reden darfst«, beendete sie den Satz für ihn.

Er lächelte und küsste sie erneut. »Allmählich kommst du dahinter, wie der Hase läuft.«

Sie lachte und sagte: »Noch bin ich mit dir nicht fertig.« Dann fixierte sie ihn mit ihren smaragdgrünen Augen. »Wie es heißt, ist der Präsident der Ansicht, dass die Israelis hinter dem Anschlag stecken.«

Rapp spürte, wie sich sein Innerstes zusammenzog. Solche Gerüchte waren keinesfalls im Interesse des Präsidenten. Gegenwärtig gründete sich jeder gegen Israel gerichtete Verdacht ausschließlich darauf, dass er Ben Freidman nicht über den Weg traute. Die wenigen Hinweise, die sie besaßen, zeigten in eine völlig andere Richtung. Das aber durfte er ihr nicht mitteilen.

»Wir haben im Augenblick kaum etwas in der Hand, aber ich glaube nicht, dass die Israelis dahinter stecken.« Eine Kellnerin trat an den Tisch und stellte eine blauweiß-rot gerührte Margarita auf den Tisch. Sie fragte Rapp nach seinen Wünschen, und so gern er das Gleiche bestellt hätte wie Anna, entschied er sich für eine Flasche Lone-Star-Bier.

Als die Kellnerin fort war, beugte sich Anna vor.

»Und warum glaubst du das?«

Rapps Gesicht verfinsterte sich. »Lass uns doch von was anderem reden. Wie geht es deiner Mutter?«

Anna nippte an ihrem Cocktail. »Du erkundigst dich sonst nie danach, wie es meiner Mutter geht.«

»Das stimmt nicht. Wie geht es ihr also?«

»Gut… und jetzt sag schon, warum du nicht glaubst, dass die Israelis etwas mit der Sache zu tun haben.«

Er stand schon im Begriff, den eisernen Vorhang herunterzulassen, dann aber fiel ihm ein, was ihm das beim vorigen Mal eingetragen hatte. Sie war seine Frau, und solange er keine Einzelheiten verriet, konnte es vermutlich nichts schaden, seine Meinung zu äußern.

»Ich weiß eine Menge über die Israelis. Manchmal spielen sie zwar ein bisschen verrückt, sind aber alles andere als dumm. Vorausgesetzt, es gibt nichts über den Botschafter, wovon wir nicht wissen, kann ich mir nicht denken, welchen Vorteil der Mossad darin hätte sehen sollen, ihn aus dem Weg zu schaffen.«

»Außer sie fühlen sich so isoliert«, sagte Anna, »dass sie keinen anderen Ausweg gesehen haben, als damit die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen.«

Rapp schüttelte den Kopf. »Nicht auf dem Boden der Vereinigten Staaten.«

»Und wenn sie nun den Vereinten Nationen eine lange Nase drehen wollten?« Wieder nahm sie einen kleinen Schluck.

»Hätten sie ihn dann nicht besser im Westjordanland getötet und damit vermieden, ihre einzigen wahren Verbündeten vor den Kopf zu stoßen?«

»Möglicherweise konnten sie dort nicht an ihn heran.« Rapp lachte. Offensichtlich wusste sie nur sehr wenig über die Fähigkeiten des Mossad. »Glaub mir, der Mossad hätte ihn allein im Lauf des vergangenen Jahres ein Dutzend Mal erledigen können.«

»Nun«, begehrte sie ein wenig trotzig auf, »jedenfalls habe ich gehört, der Präsident sei ziemlich sicher, dass es die Israelis waren.«

Er war versucht, ihr zu sagen, dass der Präsident nicht wisse, wovon er rede, doch Diskretion und Loyalität behielten die Oberhand. »In ein paar Tagen werden wir eine ganze Menge mehr wissen, und ich denke, dass wir unsere Vermutungen bis dahin für uns behalten sollten.«

Anna witterte eine Verstimmtheit des Präsidenten gegenüber der CIA. »Das heißt, ihr und der Präsident seid unterschiedlicher Ansicht.«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Du bist schrecklich. Ich habe nie dergleichen gesagt. Du wolltest von deinem Mann seine persönliche Meinung wissen, und die hab ich dir gesagt. Sie hat nicht das Geringste mit der offiziellen Ansicht der CIA oder des Präsidenten zu tun.«

Anna verzog das Gesicht, während sie an ihrem Strohhalm sog. »Das hast du schön gesagt – trotzdem glaube ich dir kein Wort. Ich kann das ja morgen früh als Aufmacher in den Nachrichten bringen.« Sie hielt ihr Glas wie ein Mikrofon vor den Mund und tat so, als spreche sie in die Kamera. »Direkt aus dem Weißen Haus: tiefes Zerwürfnis zwischen Präsident Hayes und der CIA.«

Fast hätte Rapp den Köder geschluckt, hielt sich aber im letzten Augenblick zurück.

»Willst du nicht wissen, wie es meinem Hintern geht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das Leiden hast du ganz allein dir selbst zuzuschreiben. Da kannst du kein Mitleid erwarten.«

Er verzog kläglich das Gesicht. »Mein Arzt hat mir gesagt, dass ich möglicherweise nie wieder Sex haben kann.« Sie gab sich die größte Mühe, nicht zu lächeln.

»Morgen früh hast du die Scheidungspapiere auf deinem Schreibtisch.«

Rapp lachte laut heraus. Es war das erste Mal seit Tagen, und es tat ihm gut. Während er ihr in die Augen sah, wünschte er, nicht zurück ins Büro zu müssen, doch ließ sich daran nichts ändern. Es galt, festzustellen, wer dieser Kerl war, und wenn er es wusste, würde er den Präsidenten um die Erlaubnis zu einem Unternehmen bitten, das eine unübersehbare Warnung an alle sein sollte, die bereit waren, den Terrorismus zu finanzieren. Bestimmt würde der Präsident zögern, ihm zu gestatten, dass er dabei nach eigenem Gutdünken vorging. Gerade deshalb aber musste er umso nachdrücklicher dafür sorgen, dass er nicht nur unwiderlegliche Beweise, sondern auch die Stimme der Vernunft auf seiner Seite hatte.