Epilog
Kryss betrachtete die Landkarte, die man
vor ihm entrollt hatte. Die roten Fähnlein überall legten Zeugnis
vom Ausmaß seines Erfolges ab. Das Land des Wassers war fast
vollständig in seiner Hand, und sein Vormarsch schien
unaufhaltsam.
San, auf der anderen Seite des Tisches, sah ihn
zufrieden an. Er saß auf einem Sessel, der fast zu elegant wirkte
für das schlichte Zelt, in dem der König seine Schlachtpläne
ersann, und hielt in der Hand den unvermeidlichen Pokal
Honigwein.
»Du solltest nicht so viel trinken«, sagte
Kryss.
»Ich trinke doch auf deinen Sieg«, erklärte San
mit einem Lächeln. »Und damit auch auf meinen eigenen natürlich«,
fügte er hinzu und nahm einen kräftigen Schluck.
Den Blick starr auf die Karte gerichtet,
antwortete der König nicht.
»Unsere Abmachung hast du doch nicht
vergessen?«
Jetzt hob der Elf den Blick. Die Züge des
Marvashs hatten sich mit einem Mal verzerrt. »Wo ist Amhal?«
»Ich habe ihn losgeschickt, damit er sich um die
Sheireen kümmert, bevor sie uns ernsthaft in die Quere kommen kann.
Im Moment ist sie bloß ein verängstigtes Mädchen, und ich bin mir
sicher, dass er leichtes Spiel mit ihr haben wird. Aber bleiben wir
doch beim Thema«, ließ er sich nicht ablenken.
Kryss hatte es von Anfang an gewusst. San war
nicht seinetwegen hier und würde die Sache der Elfen auch nie
wirklich zu seiner eigenen machen. Da mochte er sich noch so
bemühen, ihn fester an sich zu binden, San würde sich ihm nur so
lange unterstellen, bis er sein Ziel erreicht hatte.
Außerdem ist er einer von denen, dachte er
verächtlich. Doch um seiner Sache zum Sieg zu verhelfen, war es
eben auch notwendig, sich solch unzuverlässiger, heimtückischer
Waffen zu bedienen, wie dieser Mann eine war.
»Wie könnte ich unsere Abmachung
vergessen?«
»Viele Jahre warte ich nun schon, und wie du
weißt, habe ich mich nicht geschont an deiner Seite. Doch darüber
habe ich nie den eigentlichen Grund vergessen, weshalb ich mich auf
all das einlasse.«
Mit einem Seufzer stieß sich Kryss von der Karte
ab, auf die er sich gestützt hatte. »Ich weiß, dass du ein Söldner
bist, aber darauf soll’s mir auch nicht ankommen. Ich sehe dich als
eine Waffe, die sich bislang als sehr schlagkräftig erwiesen
hat.«
»Doch von meiner Entlohnung habe ich noch nichts
gesehen.«
Die Miene des Königs wurde noch ernster. »Ich
habe es dir schon so oft gesagt. Die elfische Magie ist dazu
imstande. Aber du solltest endlich aufhören, mein Wort in Zweifel
zu ziehen.«
»Ich weiß«, murmelte San, wobei er den Blick
abwandte. »Ich weiß.«
Manchmal kann er wie ein kleiner Junge
sein, dachte Kryss. Als sie sich kennengelernt hatten, war San
völlig am Ende gewesen. Viele Jahre war er da schon ziellos durch
die Unerforschten Lande geirrt, besessen von den Dämonen seiner
Vergangenheit, auf der Suche nach etwas, das er mit eigenen Kräften
nicht erreichen konnte. Er, Kryss, hatte seinem Leben einen neuen
Sinn gegeben, hatte ihn zu der unbesiegbaren Waffe geschmiedet, die
ihm jetzt so nützlich war, und ihm als Gegenleistung dafür das
Unmögliche versprochen. Deshalb folgte er ihm immer weiter, deshalb
hatte er ihm auch den anderen Marvash zugeführt: einen Junge so wie
er selbst, gequält von ganz ähnlichen Nöten, die in Kryss’ Augen
einfach nur kindisch waren.
»Du erhältst das, wonach du verlangst, wenn der
Sieg errungen ist in der neuen Welt, die ich meinem Volk schenken
werde. Mach dir klar, dass du das einzige nicht elfische Geschöpf
sein wirst, das sie bewohnen darf. Schon allein das ist eine hohe
Belohnung«, erklärte Kryss, wobei er eine feine Drohung
mitschwingen ließ.
»Es ist nicht das Überleben, auf das ich aus bin.
Ich verlange nur, dass du mir das gibst, was du mir versprochen
hast. Danach mag ich ruhig sterben.«
Der König betrachtete ihn schweigend. »Du wirst
es erhalten, wenn der Kampf gewonnen ist«, wiederholte er noch
einmal in entschlossenem Ton.
San schien sich zu entspannen. »Was schon in
Kürze
der Fall sein wird, wenn man dieser Karte Glauben schenken
kann.«
Kryss warf einen missmutigen Blick auf die
Karte.
San nahm seine Verärgerung wahr. »Was ist denn
los? Hast du nicht den Eindruck, dass alles nach Plan läuft?«
Der Elf legte die Stirn in Falten. »Das Heer der
Besatzer ist dabei, sich neu zu formieren. Bis vor einigen Monaten
noch wirkte es wie ein Leib ohne Kopf. Du hattest hervorragende
Arbeit geleistet, indem du nicht nur den alten König, sondern
gleich auch noch dessen Sohn umbrachtest. Sie waren der Kopf und
das Herz der gegnerischen Streitkräfte, sie hielten die Moral der
Truppen hoch.«
San erkannte sogleich, worauf Kryss hinauswollte.
»Es ist wohl die Königin, die dir Sorgen bereitet?«
Kryss nickte.
»Aber wieso? Das ist doch nur eine alte Frau«,
rief San in verächtlichem Ton. Doch diese jähe Reaktion verriet nur
seine eigene Sorge. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass Dubhe
ein Hindernis für sie darstellte, das sie nicht unterschätzen
durften.
»Die muss weg«, entgegnete der Elfenkönig scharf.
»Ihre Männer haben uns beträchtliche Verluste zugefügt. Sie aus dem
Weg zu räumen, wird unsere nächste Aufgabe sein.«
San beschränkte sich darauf, gleichgültig zu
nicken. »Keine Sorge, die werden wir eher besiegt haben, als du
glaubst.«
Da fuhr Kryss hoch und schlug mit der Faust auf
den Tisch. »Ich will sie nicht einfach besiegen und ihnen ihr Land
entreißen. Ich will sie ausrotten!«, schrie er. »Der
Kampf, den wir hier führen, ist etwas ganz anderes als die Kriege,
die du vielleicht früher erlebt hast. Selbst die grausamen
Schlachten, die ich in der Heimat schlagen musste, um an die Macht
zu gelangen, reichen nicht an ihn heran.«
Einen Moment lang ließ er sich von seinen
Erinnerungen hinreißen. Die Straßen von Orva, seiner Heimatstadt,
voller Soldaten, Leichen überall, die Mauern blutbesudelt. Elfen
gegen Elfen, und schließlich auch sein Vater …
Es war unvermeidlich. Diesen Preis musste ich
zahlen, um mein Volk aus dem Zustand der Erniedrigung
herauszureißen und dorthin zurückzuführen, von wo es einst
vertrieben wurde.
»Das ist ein Vernichtungsfeldzug«, zischte er
schließlich, wobei er jedes einzelne Wort betonte.
So etwas wie Furcht blitzte in Sans Augen auf.
Und das nicht zum ersten Mal. Kryss wusste, dass es ihm gegeben
war, Angst und Schrecken zu verbreiten, und er genoss diese
Wirkung, diese uneingeschränkte Macht, die er über andere
besaß.
»Um solch ein glorreiches Vorhaben erfolgreich zu
Ende zu führen, brauche ich viele Tausend Soldaten, eine
überwältigende, ungefährdete Übermacht.«
»Die besitzt du doch«, antwortete San. »Die
besitzt du doch durch die Seuche, die für dich arbeitet.«
»Ach, die Seuche ist nur der Anfang«, erklärte
Kryss mit einem gemeinen Grinsen. »Glaub mir, das Beste kommt erst
noch.«