4
Der Prinz
Reglos betrachtete Dubhe das, was vom Schlafzimmer ihrer Enkeltochter übrig war. Möbel gab es nicht mehr, nur noch vom Feuer geschwärzte Wände und einen ätzenden Rauchgestank, der in der Kehle kratzte.
»O nein, nein, nein …«, jammerte Fea, die neben ihr stand. »Wer hätte denn so etwas für möglich gehalten?«
Die Ärmste. Sie ist gar nicht mehr ganz bei sich, dachte Dubhe. Aber wer könnte es ihr verdenken? Ein weiterer Schicksalsschlag nach der Ermordung ihres Gemahls.
Sie ballte die Fäuste. Wer war aus der königlichen Familie überhaupt noch übrig geblieben?
»Wir werden sie finden«, sagte sie knapp, blickte der Schwiegertochter in die Augen und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Auch meine Männer werden sich an ihre Fersen heften. Und die von Adhara.«
Dass dieser Brand nur ein Ablenkungsmanöver war, um Adhara zu befreien, war ihr sofort klar gewesen. Und damit war nicht nur die Prinzessin verschwunden, sondern auch die einzige Waffe verlorengegangen, die, nach Theanas Worten, den Vormarsch der Elfen vielleicht aufhalten konnte.
Allerdings hatte Dubhe weder mit solchen Prophezeiungen, noch mit Religionen überhaupt jemals etwas anfangen können. Die ganze Sache mit der angeblich Geweihten hielt sie für reines Wunschdenken, die letzte Hoffnung für ein Volk, das alle realistischen Hoffnungen verloren hatte. Aber schon Theana hatte sie gesagt, was sie gerade auch Fea versichert hatte: »Ich werde sie dir wiederbringen. Wie du weißt, sind meine Leute gewiefte Spürhunde.«
Sicheren Schritts bewegte sie sich durch die vom Feuer heimgesuchten Flure des Palastes. Die Flammen hatten besonders im dritten Stockwerk gewütet, aber keinen übermäßig großen Schaden angerichtet.
So gelangte sie in ihr Arbeitszimmer, einen schmucklosen Raum, von dem aus sie das zerfallende Königreich zu regieren versuchte. Unverzüglich rief sie einen ihrer bewährtesten Männer zu sich.
»Du weißt, was gestern Abend geschehen ist …«, begann sie.
»Ja, Majestät.« Ohne aufzusehen, kniete der Mann vor ihr. Alle, die Dubhe in den zurückliegenden Jahrzehnten in ihre persönliche Agentenmiliz aufgenommen hatte, waren ihr vorbehaltlos ergeben und brachten ihr blindes Vertrauen und unbedingten Gehorsam entgegen.
»Ich möchte, dass ihr mir die beiden schleunigst zurückbringt. Die Prinzessin und die Gefangene. Lasst nichts unversucht. Ich muss nicht betonen, dass ihnen kein Haar gekrümmt werden darf. Auch nicht der Gefangenen der Hohepriesterin.«
»Wie stark soll die Suchmannschaft sein, Hoheit?«
Das war das Problem. Denn Dubhes Agenten waren fast alle im Kriegsgebiet eingesetzt. Auch von den Soldaten waren nur wenige im Palast geblieben. Bei normaler Stärke der Wachmannschaften hätte Amina ihren Plan nicht in die Tat umsetzen können.
»Beziehe einige Männer an der Front in die Suche mit ein. Aber ohne die Einheiten allzu sehr zu schwächen. Und schließe dich ihnen an.«
»Zu Befehl, Majestät.«
Der Mann führte die geballte Faust zur Brust, bedachte seine Herrin mit einem entschlossenen Blick und verließ den Raum, wobei er die Tür hinter sich schloss.
Dubhe seufzte. Stück für Stück war ihr Leben in Scherben gefallen, und was sie jetzt noch aufrechterhielt, war nur flammender Zorn. Ihn im Zaum zu halten, schaffte sie nur, wenn sie öffentlich auftrat und Entscheidungen zu treffen hatte. Denn ihr Geist war noch so wach wie immer, und ihre äußere Erscheinung verriet nichts von dem Tumult, der in ihr tobte. Doch wenn sie allein war und nur Stille den Raum erfüllte, konnte sie nicht mehr an sich halten und schrie hinaus, was in ihr loderte.
Auch jetzt schloss sie die Augen und ließ zu, dass ihr der Zorn durch die Adern strömte und sich zu einem verzweifelten, fruchtlosen Wutausbruch steigerte, der sie völlig erschöpfte. Aber etwas anderes war ihr nicht geblieben, als aus tiefstem Herzen zu hassen und nur nach außen eine Ruhe vorzutäuschen, die sie nicht mehr besaß.
Dass ihr Sohn ermordet worden war, hatte sie als Letzte erfahren. In jenen Tagen hatte sie sich im Land des Wassers aufgehalten, wo der Angriff der Elfen gerade begonnen hatte. Eine Blitzattacke, brutal und unerwartet, die ihr Heer nicht nur unvorbereitet, sondern vor allem schon geschwächt getroffen hatte. Durch die Seuche waren die Truppen bereits dezimiert, und überall herrschte Chaos. Ein jeder dachte nur noch daran, seine eigene Haut zu retten, misstraute allen anderen und versuchte, irgendwie zu überleben in dieser wahnsinnig gewordenen Welt.
In den feindlichen Reihen kämpften nicht nur Männer, sondern auch Frauen. Offenbar wollte man auf keinen Arm, der eine Waffe führen konnte, verzichten, um den Sieg zu erringen. Und als wenn das noch nicht gereicht hätte, ritten sie auch noch diese entsetzlichen Bestien, diese Lindwürmer, die geradewegs aus der Hölle entwichen schienen.
Dubhe hatte sich bemüht, die Truppen zu ordnen. Obwohl nicht zum Heerführer geboren, gab sie alles und war immer dort zu finden, wo sie am dringendsten gebraucht wurde. Angetrieben wurde sie dabei auch von dem Verlangen, nach Learcos Tod im Kampf Vergessen zu finden und im Rausch der Schlacht den Geist von aller Grübelei und allem Schmerz zu befreien. Mitten im Gefecht hatte die Meldung sie erreicht.
Neor war tot. War gestorben, ohne die Mutter an seiner Seite. Und in diesem Augenblick hatte sich diese dumpfe Leere, die sie bis dahin empfunden hatte, in jene unbändige Wut verwandelt, die sie bis heute nicht mehr losließ.
Eilig war sie zurückgereist, um an der Bestattung ihres Sohnes teilzunehmen. Und während sein Leichnam vor dem Hintergrund eines fahlen Himmels auf dem Scheiterhaufen verbrannte, war sie völlig betäubt gewesen, wie in Watte gehüllt, die jede Regung dämpfte, jeden Laut, jede Geste. Sie erinnerte sich nur noch, dass jemand sie stützte, dass sie heulte, bis ihr die Kehle brannte. Und danach hatte sie sich für fünf lange Tage in ihrem Zimmer eingeschlossen.
Später erfuhr sie, dass Kalth in dieser Zeit die Regierungsgeschäfte geführt hatte. Ein Junge von noch nicht einmal dreizehn Jahren hatte sie vertreten, hatte ihr den Rücken freigehalten, damit sie sich ganz ihrer Trauer überlassen konnte. Er war eingesprungen, weil die anderen Männer der königlichen Familie tot waren.
Dubhe verscheuchte den Gedanken daran. Sie musste das hinter sich lassen, anderenfalls würde sie an dieser Grübelei zugrunde gehen. In den fünfzig Jahren an Learcos Seite hatte sie gelernt, immer stark zu sein und sich keine Schwächen zu erlauben.
Nur wenn sie mit ihrem Gemahl allein gewesen war, hatte sie sich zugestanden, nicht die unverwundbare Frau zu sein, die alle kannten. Und nun, da Learco tot war, gab es überhaupt keinen Platz mehr für solche Schwächen. Jetzt war es ihre Pflicht, wieder zu sich zu finden, um dem Andenken ihres Mannes und ihres Sohnes gerecht zu werden, mit anderen Worten, um ihr Volk zu führen.
 
Als es an der Tür klopfte, schrak Dubhe auf. Sie lockerte den Griff ihrer Finger, die sich um die Armlehnen des Sessels gekrampft hatten, und atmete tief durch. »Herein!«
Es war einer ihrer Untergebenen. »Majestät, die Versammlung ist bereit.«
Jede Woche erstattete ein anderer General Bericht über die Lage an der Front. Dabei wiesen die verschiedenen Versionen keine großen Unterschiede auf. Wer die Seuche überlebte, brauchte lange, um wieder auf die Beine zu kommen, und währenddessen rückten die feindlichen Heere unaufhaltsam immer weiter vor. Unter diesen Voraussetzungen war es unmöglich, eine Verteidigungslinie aufzubauen, die diesen Namen verdient hätte.
Langsam stemmte Dubhe sich hoch. »Ich komme«, antwortete sie erschöpft.
Was sollte sie diesmal sagen, um die Moral ihrer Leute zu stärken?
Ihre Hand glitt über die rechte Seite ihres Gesichtes. Zwar hatte die Seuche sie befallen, aber nicht umgebracht, und geblieben waren ihr diese großen schwarzen Flecken, die sie daran gemahnten, wie nahe sie dem Tod schon gekommen war. Es war eine Bestimmung all derer, die wieder gesundeten: Auf der Haut trugen sie diese Zeichen der Trauer, Trauer um all jene, die es nicht geschafft hatten.
Als sie den Saal betrat, verneigten sich gleichzeitig gut ein Dutzend Häupter vor ihr, darunter auch Theana, die etwas abseits in einer Ecke saß. Schon seit einiger Zeit nahm sie tatkräftig am Kampf um den Bestand des Reiches teil und war vor allem damit beschäftigt, ein Heilmittel gegen diese unbekannte Krankheit zu finden, die so viele von ihnen hinwegraffte. Auch Kalth war zugegen. Als Dubhe das Ruder der Macht wieder übernommen hatte, hatte sie zu ihm gesagt: »Ich danke dir, du hast viel mehr als deine Pflicht getan. Aber jetzt, da ich mich erholt habe, brauchst du dich mit den Staatsangelegenheiten nicht mehr zu belasten.«
Daraufhin hatte er sie traurig angelächelt. »Das möchte ich aber. Oder soll ich etwa tatenlos mit ansehen, wie das Reich zerfällt, für das mein Vater und mein Großvater gestorben sind? Nein, das könnte ich nicht. Und ich weiß, dass du mich verstehst.«
Seitdem hatte er bei keiner Sitzung des Gemeinsamen Rates gefehlt. Seine Bemerkungen waren wohldurchdacht, seine Kenntnisse der Staatsgeschäfte fundiert. Er zeigte keine Schwächen, argumentierte immer kühl und streng logisch, war stets gefasst, egal wie dramatisch sich die Lage auch darstellte. Manchmal konnte Dubhe es kaum ertragen, ihm ins Gesicht zu schauen. Denn trotz seines noch kindlichen Aussehens erkannte sie darin die Züge seines Vaters: Er war wie Neor.
Jetzt blickte die Regentin die Versammelten eine Weile schweigend an und nahm dann Platz.
Als Erster ergriff einer der Generäle das Wort und entrollte dazu eine mit roten Markierungen versehene Landkarte. Die Skizze der Niederlagen. Die wenigen Siege, die man hatte erringen können, reichten nicht, um den Ansturm der Elfen aufzuhalten, die ihren Feldzug perfekt vorbereitet hatten. Dabei war es weniger eine zahlenmäßige Überlegenheit, die ihnen zu schaffen machte. Denn so viele waren es nicht. Aber sie hatten ihr Heer in kleinere, nur aus einigen Hundert Soldaten bestehende Einheiten aufgeteilt, die wie Guerillatrupps mit Überraschungsangriffen operierten. Durch die Verbreitung der Seuche waren sie immer im Vorteil und schlugen mit präzise kalkulierten Aktionen zu, wie chirurgische Eingriffe, die ihre Gegner an den empfindlichsten Stellen trafen und entscheidend schwächten. Alles sprach dafür, dass sie von einem überragenden Herrscher oder Feldherrn angeführt wurden. Doch den hatte noch keiner von ihnen zu Gesicht bekommen.
»Das war alles«, schloss der General und rollte umgehend die Karte zusammen, als gelte es, all die Zeichen der Niederlagen rasch wieder zu verbergen.
Dubhe seufzte. »Sind die Verstärkungen aus den anderen Ländern eingetroffen?«, fragte sie.
»Nur sehr vereinzelt«, antwortete ein anderer General. Der Versuch, verschiedene Truppenverbände der einzelnen Reiche zusammenzuführen, war gescheitert.
»Leider sind sie alle mehr oder weniger in unserer Lage, Majestät: Die wenigen Soldaten, die zur Verfügung stehen, sind völlig überfordert. Und vor allem fehlt es an der richtigen Koordination.«
»Uns fehlt ein Anführer«, setzte ein jüngerer Offizier hinzu. »Die Generäle reiben sich alle an ihren Fronten auf oder sind durch die Seuche außer Gefecht gesetzt. Und von den Verbliebenen schafft es, mit Verlaub, keiner, das Ruder in die Hand zu nehmen. Was uns fehlt, ist ein großer Feldherr.«
»Wir müssen uns darauf konzentrieren, ihre Befehlshaber auszuschalten. Das ist im Moment der einzige Weg. Und dann warten wir natürlich weiter auf eine Antwort auf unser Hilfsersuchen an die Untergetauchte Welt. Unsere Beziehungen sind gut, eigentlich dürften sie uns ihre Unterstützung nicht verweigern«, erklärte Dubhe, ohne auf die Klage des jungen Offiziers einzugehen.
Ihre Worte vermochten es kaum, die düsteren Mienen um sie herum aufzuhellen.
»Das ist alles«, schloss sie.
Während sich die Teilnehmer auf den Ausgang zubewegten, sah Dubhe in ihre gezeichneten Gesichter und dachte, dass sie etwas anderes noch dringender brauchten als einen großen Feldherrn: Hoffnung. Nur einer blieb noch, stand am gegenüberliegenden Ende Tisches, auch dessen Gesicht blass, die Miene starr. Kalth.
»Auch du kannst gehen«, sagte Dubhe, wobei sie ihn anlächelte.
Doch der Junge rührte sich nicht, stand weiter etwas steif da und ließ die Arme an den Seiten herunterbaumeln. »Hast du eigentlich gehört, was sie gesagt haben?«, fragte er.
Dubhe nickte, während sie sich auf ihrem Stuhl aufrichtete. Den vorwurfsvollen Unterton in der Stimme ihres Enkels hatte sie nicht überhört.
»Sie haben Recht. Uns fehlt ein Anführer«, fuhr Kalth fort. »Und du könntest das sein. Du solltest dich auf den Weg machen, unsere Truppen brauchen dich.«
»Vielleicht. Aber hier werde ich dringender gebraucht, Kalth. Ich sehe es als meine Aufgabe an, bei meinem Volk zu sein, vor allem jetzt, da ich gegen die Seuche immun bin.«
Langsam ging Kalth um den Tisch herum und trat auf sie zu. »Ich weiß nicht, ob das stimmt. Dein Element war doch immer der Kampf. Das ist deine Natur.«
»Das ist lange her. Das Leben verändert einen.«
»Dennoch denke ich, dass du zur Front aufbrechen solltest.«
Nun stand er ihr unmittelbar gegenüber. Dubhe schaffte es nur kurz, seinem Blick standzuhalten. Denn aus Kalths Augen schaute Neor sie an.
»Das Schicksal hat mir das Zepter des Landes der Sonne in die Hand gegeben. Ich muss es gut regieren, denn mit diesem Land steht und fällt die gesamte Aufgetauchte Welt.«
»Und wenn ich das Zepter wieder für dich übernehme? Es wäre ja nicht das erste Mal…«
Dubhe war gerührt. Aber was waren das für Zeiten, in denen sich ein zwölfjähriger Junge zu solch einem Angebot verpflichtet sah?
Sie schüttelte den Kopf. »Schon, aber das waren doch nur wenige Tage. Zudem sollst du dich um dein eigenes Leben kümmern und dich nicht mit Aufgaben belasten, die niemand von dir verlangen kann.«
»Leben nennst du das? Während draußen der Krieg tobt und rasch immer näher rückt, dazu fast ohne Verwandte, nachdem meine Familie mit einem Schlag zerbrochen ist?« Seine Stimme war ein wenig lauter geworden, und Dubhe setzte an, um etwas zu erwidern, aber ihr Enkel ließ sie nicht dazu kommen. »Ich wäre ja nicht allein. Theana und deine zuverlässigsten Ratgeber sind noch hier und würden mich unterstützen. Jedenfalls können wir so nicht weitermachen. Das wäre unser Ruin.«
Die Aussicht lockte, das konnte sie nicht leugnen.
Soldaten in den Kampf zu führen, wieder zum Schwert zu greifen wie damals, als sie, die junge Königin, Learco auf seinen Feldzügen begleitet hatte. Im Grunde wünschte sie sich das seit Neors Tod.
»Auch wenn ich mich dazu entschlösse, könnte ich die fehlende Truppenstärke nicht ausgleichen und auch nicht verhindern, dass die Seuche weiter unsere Reihen lichtet.«
»Gewiss, aber du kannst allen neue Hoffnung schenken.«
»Aber ich bin eine alte Frau«, murmelte Dubhe.
Kalth ballte die Fäuste. »Ich meine es wirklich ernst. Das ist keine Laune von mir. Das Schicksal hat diese Prüfungen für uns vorgesehen, und jeder Einzelne muss sich jetzt fragen, wo er am nützlichsten sein kann. Ich bin ja kein kleines Kind mehr, und dass ich das Land regieren kann, habe ich schon gezeigt. Vielleicht ist es meine Bestimmung, in so jungen Jahren König zu sein, und der muss ich gerecht werden.«
Langsam bewegte er sich zur Tür, mit dem gleichen gelassenen Gang, der für Neor so typisch gewesen war, vor seinem Unfall, als er noch laufen konnte. Dubhe musste die Augen schließen, um das Bild ihres Sohnes zu vertreiben.
So blieb sie allein in der Stille des Saales. Im Herzen das Kampfgeschrei des Krieges, der sie erwartete, eines Krieges, der dabei war, die Träume ihres Gemahls zu zerstören.