22
Chandra oder Adhara?
Es war nicht so leicht, vorwärtszukommen.
Die Zähne dieser Seeschlange waren tief ins Fleisch ihrer Wade
eingedrungen, und jeder Schritt schmerzte höllisch. Obwohl die
Temperaturen dort unten ziemlich hoch waren, fror Adhara und
zitterte.
Ich muss mich beeilen, sonst waren all diese
Mühen vergeblich.
Keuchend und erschöpft traf sie bei Adrass ein.
Sein Zustand hatte sich nicht verändert, seit sie ihn in dieser
Halle zurückgelassen hatte. Röchelnd lag er am Boden, und zwei
Rinnsale Blut liefen ihm aus den Mundwinkeln über das Kinn. Er war
nicht mehr bei Besinnung.
Sofort machte sich Adhara daran, seinen Quersack zu
durchwühlen. Er war vollgestopft mit allen möglichen Tiegeln,
eingewickelten Kräutern und verschiedenen Papieren, aber zum Glück
hatte er die einzelnen Substanzen beschriftet. Adhara versuchte,
ruhiger zu werden und einen klaren Kopf zu bewahren.
Konzentriere dich. Erinnere dich an alles, was
du gelesen hast, sagte sie sich.
Vor allem brauchte sie ein größeres Gefäß, um die
Arznei zusammenzumischen. Sie fand etwas Passendes, und dabei
stießen ihre Finger auf einen ihr bekannten Gegenstand: das
Lederetui mit den Instrumenten, die Adrass bei dem seltsamen Ritus,
mit dem das Absterben ihrer Hand gebremst worden war, benutzt
hatte. Die Erinnerung an die Schmerzen und die grauenhaften
Gefühle, die damit verbunden gewesen waren, ließ sie
erstarren.
Was tust du da? Ist dir nicht klar, wen du da
retten willst?
Sie schüttelte den Kopf. Eine andere Wahl blieb ihr
nicht. Sie gab etwas Wasser aus ihrer Feldflasche in das Gefäß und
begann. Arnika. Hektisch ging sie die Etiketten auf den
Tiegeln und Päckchen durch, fand das Kraut und gab es hinein.
Fingerhut, Sonnentau, Tollkirsche. Sie erinnerte sich, dass
es zur Tollkirsche einen besonderen Hinweis gegeben hatte. Aber wie
lautete der? Die Konzentration fiel ihr schwer wegen der Schmerzen
im Bein und der Nervosität, die sie ergriffen hatte. Und so waren
es die ihr eingepflanzten Kenntnisse, die ihr weiterhalfen.
Tollkirsche war sehr giftig und durfte nur in kleinen Dosen
verwendet werden.
Wie klein?
Sie nahm eine Prise davon, in der Hoffnung, dass es
reichen würde. Aber jetzt kam die wichtigste Ingredienz an die
Reihe. Nymphenblut. In Adrass’ Quersack befand sich ein
Fläschchen mit dieser Beschriftung, doch als sie es hervorholte,
stellte sie entsetzt fest, dass es fast leer war. Bis auf einen
Finger hoch oder wenig mehr. Sie spürte, dass es nicht reichen
würde.
»Verflucht«, knurrte sie und schlug vor Wut mit der
Faust auf den Boden. Was hatte es genutzt, ihr Leben
aufs Spiel zu setzen, wenn es jetzt an dieser Zutat fehlte, die
Adrass wirklich heilen konnte?
Da fiel ihr etwas ein. In allen Einzelheiten hatte
sie wieder die Szene vor Augen, als Amhal ihr in den Finger
gestochen und ihn zusammengepresst hatte, bis ein großer runder
Tropfen Blut hervortrat und ihre Haut benetzte. Auch Amhals Lippen
spürte sie wieder, die Wärme, die sie bei deren Berührung
überkommen hatte.
Du besitzt Nymphenblut.
Einen Moment lang verlor sie sich in dieser
Erinnerung, und es war ein Gefühl wie nach Hause zu kommen. Dann
riss sie sich davon los. Diese Zeiten waren unwiederbringlich
vorbei, und der Amhal von damals lag irgendwo begraben, verschüttet
unter jenem gefühllosen Wesen, das sie vor kurzem fast umgebracht
hätte. Solchen Fantasien nachzuhängen, war jetzt nicht die Zeit.
Sie musste Adrass retten.
Sie warf einen Blick auf ihre Wunde. Das Blut, das
sich dort gesammelt hatte, sollte sie besser nicht verwenden.
Möglicherweise war es verunreinigt vom Speichel dieses Ungeheuers,
und bei einer Reaktion mit dem Mittel wären die Folgen unabsehbar
gewesen.
So zog sie ihren Dolch hervor. Die Klinge funkelte
im matten Schein der Leuchtkugel, die sie hatte entstehen lassen.
Sie wählte den linken Arm mit der befallenen Hand, die mittlerweile
fast völlig taub war. Die Flecken lugten nun unter dem Verband
hervor und zogen sich über das Handgelenk schon ein Stückchen den
Unterarm hinauf. Nur beim verzweifelten Kampf gegen das glitschige
Ungeheuer in der anderen Höhle hatte sie diese Gliedmaße noch
einmal als Waffe einsetzen können.
Sie atmete tief durch, setzte die Klinge an,
presste sie auf die Haut und schnitt hinein. Dann hielt sie den Arm
über das Gefäß mit all den anderen Ingredienzien und ließ das Blut
Tropfen für Tropfen hineinrinnen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel
sie brauchte. Wahrscheinlich eine ganze Menge. Amhal hatte ihr
nämlich gesagt, dass der Nymphenanteil in ihrem Blut gering sei.
Deswegen wartete sie geduldig und versuchte dabei, das
Schwindelgefühl, das sie befiel, in den Griff zu bekommen. Ob das
nicht alles ohnehin schon zu spät war, fragte sie sich. Denn dort
unter der Erde hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren, wie in
einer ewigen, mondlosen Nacht.
Als das Gefäß halb voll war, stellte sie es auf dem
Boden ab und stoppte den Blutfluss mit den Binden, die Adrass für
ihre Hand benutzt hatte. Dort wurden sie nicht mehr gebraucht. Das
Fleisch war tot, und sie spürte es nicht, wenn sie es berührte.
Eine ganze Weile hatte sie sich das Voranschreiten ihrer Krankheit
nicht mehr genauer angeschaut, und jetzt kam sie nicht umhin,
festzustellen, dass sich der Zustand verschlechtert hatte. Die
Adern sahen wie ausgetrocknet aus, die Haut war aufgesprungen, und
die Gelenke und Knochen darunter zeichneten sich erschreckend
deutlich ab. Als sie die Finger zu krümmen versuchte, bewegten sie
sich kaum und schlossen sich erst nach einer Weile mühsam zu einem
schwachen Griff.
Ich habe die Hand verloren, dachte sie
bestürzt. Da wurde sie auf ein tropfendes Geräusch aufmerksam und
stellte fest, dass aus der Wunde immer weiter Blut hervorquoll.
Rasch zog sie den Verband fester an, in der Hoffnung,
es möge reichen, sonst würde sie den Blutfluss vielleicht mit
einem Heilzauber stoppen müssen. Schließlich gab sie noch das
wenige Nymphenblut aus Adrass’ Fläschchen in das Gemisch, und der
Trank war fertig.
Damit näherte sie sich nun dem Körper, der keuchend
am Boden lag, und hob Adrass’ Kopf an. Weich fühlte sich sein
Fleisch an, fast so, als löse es sich langsam auf. Auch die ersten
Flecken waren bereits zu sehen, noch ziemlich hell, aber es würde
nicht lange dauern, bis sie so schwarz wie Ruß geworden
wären.
»Adrass«, sprach sie ihn an. Keine Antwort.
»Adrass, ich brauche deine Mithilfe. Ich bin durch die Hölle
gegangen, um dich zu retten, und ich weiß selbst nicht genau, was
mich dazu getrieben hat. Aber du musst jetzt aufwachen. Sonst kann
ich dich nicht behandeln.«
Adrass bewegte nur leicht den Kopf und schlief
weiter. Da versetzte ihm Adhara ein paar Ohrfeigen.
»Los, komm schon, verflucht, komm zu dir!«
Endlich schlug er die Augen auf. Sie waren
verschleiert, der Blick leer. »Adhara …«, murmelte er mit letzter
Kraft. Es war das erste Mal, dass er sie bei diesem Namen nannte,
und der Klang seiner Stimme ging ihr so durch und durch, dass ihr
ein Lächeln über das Gesicht huschte.
»Hier, du musst das alles trinken. Mach den Mund
auf.«
Sie hielt ihm das Gefäß an die ausgetrockneten
Lippen und neigte es ein wenig. Auch wenn zunächst etwas von der
Flüssigkeit über sein Kinn zu Boden rann, war der Reflex doch
stärker: Langsam begann er zu schlucken.
»Gut so, sehr gut …«, bestärkte sie ihn mit sanfter
Stimme.
Als er ausgetrunken hatte, bettete sie seinen Kopf
wieder auf den Boden und ließ sich selbst erschöpft zurücksinken.
So lag sie da, die Arme aufgestützt, und horchte auf den Schmerz,
der mittlerweile wie ein Keil jeden klaren Gedanken aus ihrem Hirn
vertrieb und dafür sorgte, dass die Umrisse um sie herum
verschwammen. Sie seufzte tief. Jetzt konnte sie nur noch hoffen,
dass ihr Tun Erfolg haben würde. Konnte nur noch beten, wie Adrass
gesagt hätte. Zwei Tage musste sie warten, oder zumindest kam ihr
die Zeitspanne wie zwei Tage vor. Orientieren konnte sie sich nur
an den Bedürfnissen ihres Magens. Sie versuchte, auch Adrass zu
füttern, doch nicht einen Moment kam er zu sich, und so ließ sie
ihn schlafen und hoffte, dass er sich dabei erholte. Die Blutungen
kamen nach einigen Stunden zum Stillstand, was ein sehr
vielversprechendes Zeichen war. Auch das Fieber sank langsam, aber
stetig, und seine Atemzüge wurden regelmäßiger. Es schien ihm
wirklich besserzugehen, und so konnte Adhara daran denken, sich
verstärkt um sich selbst zu kümmern. Besorgniserregend war der Biss
in der Wade. Sie reinigte die Wunde mit Kräutern aus Adrass’
Vorräten und behandelte sie mit ein wenig Magie. Die Wunde am Arm
verheilte gut, und außerdem konnte sie den erzwungenen Aufenthalt
dazu nutzen, neue Kräfte zu sammeln. Um ihren Geist zu
beschäftigen, beschloss sie, sich Lektüre zu suchen und zu lesen.
Sie befanden sich in der Abteilung ERZÄHLUNGEN, die ihr, wie sie
bald feststellte, sehr gut gefielen. Es ging um Kriege – und um
große Helden.
Und immer triumphierte das Gute. Vor Adhara entfaltete sich eine
Welt, wie sie hätte sein müssen, eine Welt, in der das Grauen, von
dem sie auf ihren Wanderungen so viel gesehen hatte, keinen Platz
fand. In gewisser Weise war es tröstlich, in diese fantastischen
Geschehnisse einzutauchen. Zwar mussten sich die Helden alle mit
dem Bösen auseinandersetzen, fanden zum Schluss aber immer ihr
Glück – und alles wurde gut. Es war anders als bei Amhal und ihr
selbst. Sie beide hatten immer geschwankt zwischen Liebe und Streit
und waren durch ein Schicksal auseinandergerissen worden, auf das
sie keinen Einfluss hatten. Und die Feuerkämpferin fragte sich, ob
es eine solche Zeit wohl tatsächlich einmal gegeben hatte, eine
Zeit, in der alles weniger verwickelt war, die Wege immer geradeaus
verliefen und das glückliche Ende schon feststand.
Am dritten Tag schlug Adrass die Augen auf. Er
schaute sich um, und sein Blick fiel auf Adhara.
»Chandra …«, murmelte er.
Adhara schrak auf. »Ich dachte, du würdest mich
jetzt bei meinem richtigen Namen nennen.«
Er schien sie nicht zu verstehen. Offenbar
erinnerte er sich nicht mehr daran, was vorgefallen war. Sie ging
zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Stirn. »Wie fühlst du
dich?«
Adrass zögerte ein wenig, bevor er antworten
konnte.
»Gut … wieso? Wie sollte ich mich denn
fühlen?«
»Wie ein dem Tod Entronnener.«
Sie erzählte ihm, was geschehen war, wobei sie
allerdings die Gefahren, die sie hatte bestehen müssen, um
mit dem Rezept für das Heilmittel zu ihm zurückkehren zu können,
nur knapp streifte. Je länger sie berichtete, desto wacher und
aufmerksamer schien Adrass zu werden. Er wollte sich aufsetzen,
aber es war noch zu früh, denn sofort wurde er blass.
»Leg dich wieder hin. Du bist noch zu schwach. Und
zudem hast du tagelang nichts gegessen.«
Adhara holte aus ihrem Quersack etwas
Trockenfleisch und ein Stück Käse hervor und reichte es ihm.
»Lass doch. Wir sollten sparsam sein mit unserem
Proviant. Sonst kommen wir nicht damit aus«, wehrte er ab.
»Das ist jetzt nicht so wichtig. Du musst essen, um
zu Kräften zu kommen. Außerdem steht es dir zu. Es ist der Anteil,
den du nicht essen konntest, als du so hohes Fieber hattest.«
Adrass kaute langsam und ohne ein Wort zu sagen. Er
schien über etwas nachzudenken. Aber erst, als er seine Mahlzeit
beendet hatte, rückte er mit der Sprache heraus.
»Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich dir
gesagt, du sollst mich zurücklassen«, begann er.
»Das konnte ich nicht. Schließlich bist du der
Einzige, der mich retten kann. Und ich habe deine Hilfe dringend
nötig«, antwortete sie, wobei sie ihm ihre schwarz gefleckte Hand
zeigte. »Es ist nicht besser geworden. Ganz im Gegenteil.«
»Und was ist mit Meriph?«
Adhara zuckte mit den Achseln. »Was soll mit ihm
sein? Ich bin eben bei dir geblieben.«
Adrass legte die Stirn in Falten. »Das hättest du
nicht
tun sollen. Dein Überleben ist das Einzige, was zählt. Das habe
ich dir doch oft genug erklärt. Aber du setzt dein Leben aufs
Spiel, um mich zu retten. Wann willst du endlich begreifen, wie
wichtig du für die Aufgetauchte Welt bist? Aber was ist das
eigentlich für ein Verband um deine Wade?«
Adhara errötete. Nun musste sie ihm die ganze
Wahrheit erzählen.
»Bist du verrückt geworden? Wie konntest du nur so
ein großes Risiko eingehen?«
Adhara war gekränkt. »Du bist gut. Ich habe dir
gerade das Leben gerettet. Eigentlich müsstest du mir dankbar
sein.«
»Dankbar? Wofür? Du hättest mich hier zurücklassen
und deinem Weg folgen müssen!«, schrie Adrass so laut, dass er
einen Hustenanfall bekam und ihm die Luft wegblieb.
Adhara blickte ihn verärgert an. »Soll ich dir mal
sagen, wieso ich es nicht getan habe? Weil ich nicht so bin wie du.
Obwohl du mich immer nur benutzt hast für deine Zwecke, habe ich
nicht die Augen vor deinem Leid verschlossen. Ich habe gesehen, wie
schlecht es dir ging, und in deinen Qualen meinen eigenen Schmerz
wiedererkannt. Mit anderen Worten, du hast mir leidgetan. Personen
sind für mich keine Dinge, die man benutzen und wegwerfen kann, wie
es einem gefällt. Niemals!«
Sie streckte den Arm vor, an dem man das geronnene
Blut von dem Schnitt sah, den sie sich selbst zugefügt hatte. »Ich
habe dir von meinem Blut gegeben, verstehst du? Und ich würde es
wieder tun, verflucht noch mal, ja,
ich würde es wieder tun. Nur seelenlose Objekte gehen
schnurstracks ihren Weg und lassen dabei die Schwachen zurück. Wer
aber eine Seele hat, fühlt mit anderen mit.«
Sie schwieg, atmete nur schwer. Plötzlich war es
ihr unangenehm, dieses aufrichtige, ungenierte Geständnis, und
sogar ihre Tat, die sie fast mit dem Leben bezahlt hätte. Aber es
war die Wahrheit. Alles, was sie gesagt hatte, stimmte. Und sie
überlegte, dass sie zum ersten Mal seit ihrem Erwachen auf der
Wiese etwas getan hatte, das sie als das auszeichnete, was sie
tatsächlich war: ein fühlender Mensch. Ihrem Feind das Leben zu
retten, war paradoxerweise das Beste, was sie je in ihrem Leben
getan hatte.
Adrass wusste nicht, was er antworten sollte. Ein
paarmal machte er den Mund auf, brachte aber nicht das kleinste
Wörtchen heraus. Schließlich schlug er die Augen nieder, legte sich
hin und drehte sich auf die andere Seite.
Du hingegen wirst dich niemals ändern,
dachte Adhara. Sie griff zu einem Buch und ließ ihn allein.
Ein paar Tage mussten sie noch bleiben. Zwar
machte Adrass’ Genesung gute Fortschritte, doch war er immer noch
zu schwach, um wieder loszuziehen. Allerdings hatte es Adhara mit
dem Aufbruch auch nicht besonders eilig, denn sie fragte sich
besorgt, was sie wohl in den untersten Abteilungen der Bibliothek
erwarten würde. Die überschwemmte Halle war vielleicht nur eine
Kostprobe der Gefahren, die dort auf sie lauerten.
Zwei Tage lang wechselten sie kein Wort
miteinander.
Adhara hockte über ihren Büchern, während Adrass eine Reihe von
Schriften studierte, die er gefunden hatte. Sie hatte den Eindruck,
dass die Mauer der Feindseligkeit, die immer zwischen ihnen
gestanden hatte, nun noch höher geworden war.
Erst am Abend vor ihrem Aufbruch, als sie zusammen
ihre karge Mahlzeit einnahmen, gaben sie ihr Schweigen auf.
»Du musst mir unbedingt noch die Rezeptur für die
Arznei aufschreiben, mit der du mich geheilt hast«, sagte Adrass
mit ernster Stimme.
Adhara blickte ihn abweisend an. »Wozu denn? Die
wichtigsten Zutaten habe ich dir doch genannt.«
»Na hör mal. Wir haben ein Mittel gegen die Seuche
entdeckt, und du willst es der Aufgetauchten Welt
vorenthalten?«
Adhara war verblüfft. Sie hätte nicht geglaubt,
dass Adrass sich darum Gedanken machen würde. Bislang war er
dermaßen von seiner Mission eingenommen gewesen, dass es ihn nicht
sonderlich zu interessieren schien, was darum herum vor sich
ging.
»Glaubst du denn, sie wären mir nicht nahegegangen,
all die Toten auf den Straßen, sie hätten mich kaltgelassen, all
die Verzweifelten und Notleidenden, von denen ich umgeben war?«,
fuhr er fort, wobei er sie schwach anlächelte. »Du hast ja keine
Vorstellung, wie ich mich gefühlt habe, als ich die Substanzen
zusammengetragen habe, die ich für deinen Ritus brauchte. Die
Nymphe zum Beispiel war auf offener Straße von Leuten massakriert
worden, die hinter ihrem Blut her waren. Ein entsetzliches
Schauspiel.«
Adhara bemerkte, dass seine Hände leicht zitterten.
Sie senkte den Blick. »Du verstehst es gut, solche Gefühle nicht
durchblicken zu lassen«, bemerkte sie, fast so, als wolle sie sich
entschuldigen.
Er sah ihr fest in die Augen. »Es war das Erste,
was man uns Erweckten beibrachte. Jedes Mitleid mit euch zu
unterdrücken. Man lehrte uns, nur Objekte in euch zu sehen,
Ansammlungen einzelner Glieder, ohne Seele und ohne freien Willen.
Wem diese einfache Übung nicht gelang, der hatte in unserem Kreis
nichts zu suchen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele
schlaflose Nächte ich anfangs verbracht habe. Wie es mir zusetzte,
solch ein Mädchen leiden zu sehen, während ich versuchte, Sheireen
zu erschaffen.«
»Warum bist du überhaupt zu den Erweckten gestoßen?
Wie kamst du dazu, dich mit solchen Leuten zusammenzutun?«, fragte
Adhara.
Adrass schüttelte den Kopf. »Es ging mir um die
Aufgabe. Um die Aufgabe und ein Ziel. Ich war der Letztgeborene
einer Familie von Kriegern. Mein Vater und meine älteren Brüder
hatten es zu Drachenrittern gebracht, meine Schwester zu einer
tüchtigen Magierin. Ich aber zeigte auf keinem dieser Felder ein
besonderes Talent. Die Erfolge meiner Familienmitglieder hemmten
mich, und ich spürte, dass es in meinem Leben nicht vorwärtsging.
In den Augen von Dakara aber, dem Gründer der Erweckten, erkannte
ich eine solche Leidenschaft, etwas so Starkes und Faszinierendes,
dass ich mich ihm anschloss. Als ich ihm das erste Mal begegnete,
sagte er zu mir: ›Thenaar hat eine Aufgabe für dich. Thenaar hat
für alle Gläubigen eine Aufgabe. Du
sollst uns bei der Verwirklichung des kühnsten Planes helfen, den
die Aufgetauchte Welt jemals gesehen hat.‹ Er wollte mich in seinen
Reihen wissen, weil ich mich besser als andere in der Kräuterkunde
auskannte. Zuvor hatte ich mit dieser Gabe nichts anzufangen
gewusst, aber bei diesem Priester war sie nun gefragt und
geschätzt. Ich verstand mich darauf, zu heilen, und mir gelangen
Dinge, die anderen verschlossen blieben. Der Eintritt in die Schar
der Erweckten war der Wendepunkt in meinem Leben: Der Glaube
schenkte mir die Überzeugung, dass mein Leben einen Sinn hatte,
dass auch ich zu etwas Höherem befähigt war. Und dieses Gefühl war
mir bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt gewesen. Es war
aufregend, mich als Teil eines großen Planes fühlen zu dürfen, als
ein Rädchen in einem mächtigen Getriebe, das Geschichte schreiben
sollte. Es war fantastisch. Die Erweckten konnten mir sagen, wozu
ich auf der Welt war, woran ich glauben, wem ich mich unterwerfen
sollte. Für Zweifel war kein Platz mehr in meinem Leben. Alles war
wunderbar klar und festgefügt, eindeutig und vorherbestimmt.«
Adhara, die nur allzu gut wusste, wie quälend es
war, hin und her gerissen zu werden, verstand, was Adrass ihr da
erklärte. »Aber als du dann gesehen hast, wozu man dich zwingen
würde, hättest du auch austreten können. Warum hast du es nicht
getan?«
Adrass lächelte betrübt. »Das war eben der Preis,
den ich für dieses herrliche Gefühl der Sicherheit bezahlen musste.
Und außerdem würdest du dich wundern, wie leicht es gelingt, jedes
Gefühl auszulöschen und im anderen nur noch ein Werkzeug zu sehen,
vor allem
dann, wenn man überzeugt ist, auf der richtigen Seite zu
stehen.«
»Das heißt, es ist dir leichtgefallen, kein Mitleid
mit mir zu haben?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Adrass blickte sie lange, fast verlegen an. »Es war
doch für ein höheres Ziel«, murmelte er dann.
»Und wenn du mich ansahst, während du diese
abscheulichen Dinge mit mir anstelltest, war ich da wirklich nichts
anderes als der Gegenstand eines Experiments für dich?«
Sie sah, dass etwas in seinen Augen aufflackerte,
ein Hauch von Zweifel, etwas, das er lange Zeit nicht mehr
empfunden hatte.
»Du bist meine Schöpfung und damit für mich das
Wichtigste auf der Welt«, erklärte er ausweichend.
Adhara seufzte leise und gab sich mit der Antwort
zufrieden.
Sie kamen überein, am nächsten Tag zu den tieferen
Bereichen der Bibliothek aufzubrechen. Dann legten sie sich
schlafen, doch als das magische Feuer erloschen war, hörte Adhara,
wie ihr Adrass noch etwas im Dunkeln zuflüsterte. »Nein, es ist mir
nicht leichtgefallen, es ist mir überhaupt nicht leichtgefallen,
und auch jetzt ist es alles andere als leicht.« Worte, die Adhara
tief im Herzen berührten und etwas in ihr anstießen. »Danke,
Adhara, dass du mir das Leben gerettet hast«, fügte er noch
hinzu.
Dann wurde es still in der Halle.