5
Flucht
Hier könnten wir eine Rast einlegen«, sagte Adhara. Sie waren unterwegs in einem dichten Wald, eben jenem, durch den sie auch damals, nach der Flucht aus dem brennenden Versteck der Erweckten, gekommen war.
Alles wiederholt sich, dachte sie wieder einmal, wie in einem ewigen Kreislauf.
Die beiden Mädchen hatten bereits eine ordentliche Wegstrecke zurückgelegt. Diese ersten Stunden nach ihrem Ausbruch waren entscheidend, denn es würde nicht lange dauern, bis man nach ihnen suchen würde. War der Brand erst einmal gelöscht, würde Dubhe ihnen unverzüglich ihre Leute hinterherhetzen. Aber das war es nicht allein, was ihr Sorgen bereitete.
»Meinst du wirklich? Sollten wir nicht doch lieber noch weiter laufen?«, fragte Amina, obwohl sie erschöpft und abgezehrt aussah. Und sie wirkte nervös. Sie hatten auf dem ganzen Weg kaum ein Wort miteinander gesprochen.
»So kommen wir ohnehin nicht mehr weit«, antwortete Adhara, während sie sich ins Gras fallen ließ. »Ich jedenfalls brauche jetzt etwas Schlaf.«
Amina schien einverstanden, denn sie machte es sich, ohne noch etwas hinzuzufügen, ebenfalls bequem, auf einem Umhang, den sie ihrem Quersack entnahm. Außerdem holte sie noch ein Fläschchen hervor, das eine dunkle Flüssigkeit enthielt. Sofort regte sich etwas in Adharas Gedächtnis. Ein Tarntrank, dachte sie. Sie hasste diese unvermittelten Erinnerungen, weil sie wusste, dass sie keiner wirklichen Erfahrung entsprangen, sondern ihr von den Erweckten wie ein Brandzeichen eingepflanzt worden waren. Diese Kenntnisse sollten die Leere ihrer Existenz füllen.
»Sollen wir uns etwa tarnen?«
»Du weißt, was das ist? Dann stimmt es also gar nicht, dass du dich an nichts erinnern kannst.«
»Nein …, ich meine doch … Ich habe darüber gelesen, du weißt schon, in der Bibliothek«, log sie. »Das ist ein Tarntrank. Die Wirkung hält vierundzwanzig Stunden lang an, ein Schluck reicht dafür schon…«
»Ja, ich dachte, das können wir bestimmt gut gebrauchen. Deshalb hab ich mir das Zeug bei einem Agenten meiner Großmutter besorgt.«
»Schön und gut, aber das sind doch höchstens …«, Adhara maß den Inhalt mit kundigem Blick, »… drei oder vier Schlucke für jeden.«
»Wir nehmen eben nur davon, wenn wir in Gefahr sind oder wenn wir erkannt werden könnten.«
Amina hatte tatsächlich alles bis ins Kleinste geplant und legte in allem einen übertriebenen Eifer an den Tag, der Adhara verdächtig vorkam.
Das Mädchen streckte sich auf ihrem notdürftigen Lager aus. »Wir sollten abwechselnd Wache halten, oder was meinst du?«, schlug sie vor.
In dem wenigen Licht des Vollmonds, das bis zu ihnen unter den Bäumen vordrang, versuchte Adhara, den Gesichtsausdruck der anderen zu deuten. »Was hast du eigentlich vor?«, fragte sie.
»Mit dir gehen«, antwortete Amina, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
Adhara starrte auf ihr Lager aus Farn. Der Wald hatte etwas Gespenstisches. Sie spürte einen Stich im Herzen, das Nachglimmen eines tiefen Gefühls, das nicht erlöschen wollte. »Weißt du denn, was ich vorhabe? Ich werde nach ihm suchen.«
Ihr fehlte der Mut, den Namen auszusprechen. Amhal. Was musste Amina über ihn denken? Schließlich hatte sie mit angesehen, wie dieser Mann ihren Vater getötet hatte und dann mit San geflohen war.
»Gut, da komme ich mit.« Amina hob nur ein wenig den Kopf, um sie anzuschauen. »Macht es dir etwas aus, die erste Wache zu übernehmen?«
Es war offensichtlich, dass sie das Thema wechseln wollte, doch dazu war Adhara nicht bereit. Sie brauchte Klarheit.
»Warum willst du mit mir kommen? Wieso hast du mir zur Flucht verholfen? Und musstest du wirklich gleich das ganze Gebäude in Brand stecken? Schließlich war das dein Zuhause.«
»Das war kein Zuhause mehr. Nichts war mehr so, wie es einmal war«, antwortete Amina knapp. »Ich saß da in meinem Zimmer eingesperrt und konnte mir nur noch durchs Fenster die ausgestorbene Stadt anschauen. Die Einsamkeit war nicht auszuhalten. Und außerdem konnte ich dich doch nicht in dieser schmuddeligen Zelle versauern lassen. Soll ich dir mal was sagen? Die haben mich alle enttäuscht. Theana, die dich einfach gefangen nehmen lässt und im Kerker einsperrt, meine Großmutter, die nichts dagegen unternommen hat, mein Bruder und meine Mutter mit ihrer sinnlosen Trauer. Nein, das ist nicht mehr meine Familie.«
»So was darfst du nicht sagen. Die lieben dich alle, und das weißt du auch.«
»Ich verstehe wirklich nicht, wieso du sie noch verteidigst nach allem, was sie dir angetan haben.«
Adhara stützte ihr Kinn auf die Knie. »Jetzt sag schon: Warum willst du mit mir kommen?«, fragte sie noch einmal. Für sie passte das alles nicht zusammen, hatte etwas Unwirkliches, Absurdes: schon mit der kleinen Prinzessin dort im Wald zu sitzen, wie sie sich gekleidet hatte oder auch mit welcher Selbstverständlichkeit sie sanft über den Dolch an ihrem Gürtel strich.
»Ich bin müde und hab jetzt keine Lust mehr zu reden«, antwortete Amina nur.
Sie zog sich den Umhang über die Schultern, streckte sich zwischen den Farnen aus und drehte Adhara den Rücken zu.
 
Es begann mit einem dumpfen Vibrieren, das von der Brust ausging und ihr die Luft nahm. Immer langsamer schlug ihr Herz, ihre Lunge zog sich zusammen. In panischem Schrecken riss Adhara die Augen auf und hatte das sichere Gefühl, jetzt sterben zu müssen. Wie ein zusammengerolltes Bündel lag Amina vor ihr im trockenen Laub, während sie selbst sich aufgesetzt hatte und mit dem Rücken gegen einen Baumstamm lehnte.
Sie betastete ihre Arme, die Beine, den Oberkörper. Vielleicht war es nur die Erschöpfung, die ihr einen Streich spielte. Um sie herum vertrieb das Morgengrauen schon die Finsternis.
Langsam verschwand der Druck, ihr Atem kam wieder regelmäßiger. Adhara legte sich ins Gras und sog die frische Morgenluft tief in die Lunge ein.
Das konnte nur ein Alptraum gewesen sein. Mehr nicht. Irgendein schrecklicher Traum hatte sie derart in Panik versetzt, dass ihr Körper darauf reagierte. Aber Angst hatte sie immer noch, wahnsinnige Angst. Bis zu diesem Moment hatte sie sich immer auf ihren Körper verlassen können, und so schwach hatte sie sich noch nie gefühlt.
Sie legte die Hände in den Schoß, schluckte und überlegte, ob sie Amina wecken sollte. Da bemerkte sie am Zeigefinger, gleich unterhalb des Nagels, ein winziges, kaum wahrnehmbares Pünktchen von einem tiefen Rot.
 
Adhara beschloss, durch den Wald weiterzuziehen. Sie wusste nur, dass Amhal Richtung Westen geflohen war. Solange sie das Große Land noch nicht verlassen hatten, konnten sie dieser Richtung folgen. Hatten sie ihre Verfolger, die Dubhe und Theana ihnen zweifellos nachsandten, erst einmal weit genug hinter sich gelassen, würden sie Zeit finden, nach genaueren Hinweisen zu Amhals Ziel zu suchen.
Um keine Spuren zu hinterlassen, marschierten sie durch das Flussbett, schweigend, jede in die eigenen Gedanken versunken, aber dennoch in ständiger Alarmbereitschaft. Adhara beschäftigte besonders, wie sich Amina verändert hatte. Sie war nicht mehr das wilde, im Grunde aber traurige kleine Mädchen, das sie damals ins Herz geschlossen hatte. Heute war sie ganz anders und strahlte etwas aus, was Adhara erschreckte.
Aber obwohl es ihr nicht gelang, Amina ein Wort darüber zu entlocken, war sie sich sicher, dass die junge Prinzessin sie nur deshalb begleitete, um an Amhal, dem Mörder ihres Vaters, Rache zu nehmen.
Und wenn sie allein weiterzog? Mit Sicherheit würde Amina das als Verrat an ihrer Freundschaft betrachten, aber tatsächlich würde sie ihr damit das Leben retten. Aber wie sollte sie das anstellen? Sie konnte sie ja nicht einfach den wilden Tieren ausliefern und schlafend allein im Wald zurücklassen. Das war ausgeschlossen.
Und wenn sie mit Amina zurückkehrte, würde das bedeuten, dass sie sich Theana unterwerfen und ihr fortan gehorchen musste.
Dann bleibt mir nichts weiter übrig, als diese Bestimmung als Geweihte hinzunehmen.
Ein Schauder überkam sie. Nein, nein, solch eine Bestimmung gab es doch gar nicht. Fest stand, sie wollte nicht zurück. Und Amina hatte das bei ihren Fluchtplänen einkalkuliert und mit Sicherheit begriffen, was Adhara durch den Kopf ging.
Doch mit einem Mal wurde ihr auch wieder die Ungeheuerlichkeit dessen bewusst, was Amhal getan hatte. Was, wenn es ihr nicht gelingen würde, ihn – sollte sie ihn tatsächlich finden – zur Vernunft zu bringen? War sie nicht schon einmal daran gescheitert?
Vielleicht hätte ich doch im Palast bleiben und mich dem fügen sollen, was eigentlich auf der Hand lag.
Aber das ging nicht, im Namen der Gefühle, die sie so aufwühlten, wegen all dieser Empfindungen, die sie so verwirrten, ihr aber auch deutlich machten, dass sie ein fühlendes Wesen war und nicht das Ergebnis eines Experiments.
Deshalb konnte sie gar nicht anders als weiterzuziehen, mit einem Mädchen an ihrer Seite, das nicht weniger verloren und verwirrt war als sie selbst. Und zu hoffen, dass sie den richtigen Weg finden würden.
 
Sechs Tage lang wanderten sie und schonten sich nicht. Langsam veränderte sich die Landschaft um sie herum, ein Zeichen, dass sie die Grenze zum Land des Windes bereits passiert hatten. Adhara musste wieder daran denken, dass sie genau den gleichen Weg schon einmal zurückgelegt hatte, damals allein, nachdem sie auf dieser Wiese ohne die winzigste Erinnerung aufgewacht war. Nur wurde sie jetzt verfolgt und musste daher noch mehr auf der Hut sein. Da sah sie etwas in einiger Entfernung zwischen den Farnen hervorlugen. Adhara ergriff Aminas Arm und zog sie in die Hocke herunter. »Da ist jemand«, zischte sie.
»Wer?«, hauchte die Prinzessin.
Doch Adhara schüttelte nur den Kopf und zog den Dolch, den sie dem Wachsoldaten bei ihrer Flucht abgenommen hatte. Die Waffe in der Hand zu spüren, gab ihr Sicherheit. »Du bleibst hier«, befahl sie.
Langsam schlich sie durch das Gras näher heran. Nun erkannte sie einen Mann, der mit dem Rücken an einen Felsblock gelehnt in einem kleinen Flussbett lag, die Beine im Wasser, während die Arme schlaff am Körper herunterhingen. Adhara hielt den Atem an. Nur keinen Laut. Zunächst musste sie sich vergewissern, dass ihnen keine Gefahr drohte; erst dann konnte sie Amina nachkommen lassen.
Sie schlich noch ein wenig näher heran, als sie ein Röcheln, ein langgezogenes, leidendes Stöhnen hörte. Der Mann schien verletzt zu sein. Angesichts der Tatsache, dass sie gesucht wurden, wäre es sicher ratsam gewesen, einfach weiterzuziehen und den Mann seinem Schicksal zu überlassen. Doch Adhara gehorchte ihrem Instinkt und schlich sich mit gezücktem Dolch noch näher heran.
Der Mann war schon recht alt und blickte sie jetzt aus matten, erloschenen Augen an. Im Unterleib klaffte eine tiefe Wunde, aus der in dickem Schwall das Blut strömte. Offenbar hatte man ihn beraubt und ihm nur das Hemd aus rauem Leinen gelassen, über dem er gewiss dickere Kleidungsstücke getragen hatte. Räuber. Das sah ganz nach einer Räuberbande aus. Adhara erkannte auf den ersten Blick, dass es für den Mann keine Hoffnung mehr gab. Doch war es ihr unmöglich, ihn einfach so liegen zu lassen.
Angestrengt versuchte sie, sich einen Heilzauber einfallen zu lassen, und sei es auch nur, um seine Schmerzen zu lindern, bis es zu Ende war. Als sich ihre Blicke kreuzten, erkannte sie in den Augen des Mannes ein schmerzerfülltes Flehen, das ihr zu Herzen ging. Er öffnete den Mund, als wollte er ihr etwas sagen, doch kein Laut kam über seine Lippen.
»Ich verstehe nicht …«
Da nahm der Alte ihr den Dolch aus den Händen und hielt ihn an seine Brust. ›Bitte‹, flehte sein stummer Mund.
Und Adhara verstand.
Der Mann deutete eine Art fast zufriedenes Lächeln an. Dann schloss er die Augen, und Adhara tat es ihm nach. Hinsehen konnte sie nicht. Aber mit einer raschen Bewegung versenkte sie die Klinge in der Brust des Mannes und betete dabei, dass es schnell und schmerzlos gehen möge. Nur einmal bäumte sich der Körper auf. Dann war alles still.
Adharas Muskeln entspannten sich, ihre Hand lockerte den Griff. Völlig leer fühlte sie sich. Jetzt erst merkte sie, dass sie die ganze Zeit den Atem angehalten hatte, und Entsetzen überkam sie angesichts dieser wahnsinnig gewordenen Welt und dem, was sie aus den Geschöpfen machte, die sie bewohnten.
»Was ist denn los?«, rief eine hohe Stimme aus einiger Entfernung. Amina. Adhara hatte sie vollkommen vergessen. Sie stemmte sich hoch und versuchte dabei, an dem Mann vorbeizuschauen, den sie gerade getötet hatte. Dann winkte sie die Freundin zu sich. Die tauchte aus dem Wald auf und lief rasch herbei. Als sie vor dem leblos daliegenden Mann stand, fragte sie: »Warum hast du so lange gewartet? Eine Leiche ist doch nicht gefährlich.« Dabei blickte sie Adhara misstrauisch an.
Die brachte es nicht über sich, zu erzählen, was tatsächlich geschehen war. »Ich musste doch sichergehen, dass niemand mehr in der Nähe ist«, erwiderte sie nur. »Schau nicht hin«, fügte sie dann leise hinzu.
»Glaubst du, das waren die Elfen?«
Adhara schüttelte den Kopf. »Nein, Banditen. Sie haben ihn ausgeraubt.« Sie überlegte einen Moment. »Komm, hilf mir mal.«
Den Mann anständig zu beerdigen, kam nicht infrage. Das hätte zu viel Zeit gekostet. Allerdings war das Wasser des Flusses tief genug, so dass sich die Strömung des Leichnams annehmen konnte. Lieber das offene Meer als dieses Ufer hier, wo die Leiche vielleicht von wilden Tieren zerrissen würde, dachte Adhara. Sie griff unter die Achseln des Toten und zog ihn hoch, während Amina bei den Füßen half. Es dauerte eine Weile, bis die Strömung den Leichnam erfasst hatte, dann aber zog sie ihn mit sich, bis er langsam zu einem dunklen Fleck wurde, der dem Saar entgegentrieb, und dann weiter zum Ozean. Gern hätte Adhara noch ein Gebet gesprochen, aber sie hatte keinen Gott, an den sie sich wenden konnte. Nach allem, was sie erlebt hatte, kamen ihr Thenaar oder andere Gottheiten nur noch wie Götzen vor, die die Leute sich ausdachten, um ihr wahnsinniges Treiben auf Erden zu rechtfertigen.
Da passierte es: Ein jäher Schmerz überfiel sie, so heftig, dass es ihr die Brust zerriss. Im seichten Wasser am Ufer sank sie auf die Knie, während sich, von den Händen ausgehend, ein entsetzliches Gefühl in alle Muskeln ausbreitete. Ihr Körper gehorchte, gehörte ihr nicht mehr. So kniete sie einige Augenblicke, ohne zu atmen, da, überzeugt, dass dies ihr Tod sei, ein unerklärlicher, schmerzhafter Tod.
Doch so blitzartig, wie er sie überkommen hatte, verschwand der Anfall auch wieder.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie eine Stimme.
Es dauerte einen Moment, bis sie Amina scharf vor sich sah, die über sie gebeugt dastand. Sie richtete sich ein wenig auf, um sich auf die Fersen zu setzen, und scherte sich nicht darum, dass ihr Hosenboden nass wurde.
»Mir war nur schwindlig. Vielleicht bin ich immer noch etwas geschwächt von der Zeit im Kerker.«
»Meinst du wirklich? Ich hab doch gesehen, wie du zusammengeklappt bist, und…«
»Glaub mir, ich bin in Ordnung … Vielleicht war es auch der Ekel vor der Leiche…«
Als sie aufstand, fiel ihr Blick auf ihre linke Hand. Der Fleck auf dem Finger schien größer geworden zu sein.
»Hast du dich da gestoßen?«, fragte Amina.
»Keine Ahnung …«, antwortete sie nur, obwohl sie mit einem Mal eine dunkle Vorahnung hatte.
Ein lautes Ziepen aus dem dichten Wald ließ sie aufschrecken. Wahrscheinlich ein Vogel, aber vielleicht machte auch jemand einen Vogelruf nach.
Adhara war unruhig. »Komm, wir müssen weiter«, forderte sie die andere auf. Und so machten sie sich wieder auf den Weg.