12
Ein ungewöhnliches Bündnis
Ruckartig richtete Adhara sich auf und legte schützend die linke Hand vor das Gesicht, während ihre rechte zum Schwert fuhr. Vielleicht war es noch nicht zu spät, und sie konnte Amina noch retten.
Doch ihre Hand griff ins Leere, und die Nacht war längst vorüber. Mit ihrem dünnen Arm schaffte sie es kaum, ihre Augen gegen das durchdringende, grelle Licht abzuschirmen. Wo war sie?
Die morgendlichen Sonnenstrahlen zwangen sie, die Lider halb geschlossen zu halten. Als sie aufzustehen versuchte, versagten ihre Muskeln den Dienst. Wie sie feststellte, lag sie, die Ellbogen in trockenes Laub gestützt, auf einem weichen Lager unter einer bis über die Taille hochgezogenen Decke.
Was war nur geschehen? Sie erinnerte sich noch sehr genau an den Angriff auf das Lager, und wie Amhal das Schwert erhoben hatte, um Amina zu erschlagen, so als kenne er sie nicht. Und sie wusste auch noch, wie sie, obwohl sie sich so schlecht fühlte, dazwischengegangen war und zu kämpfen versucht hatte. Aber dieses Erwachen ? Mitten im Wald. Allein. Auf der Suche nach irgendwelchen Hinweisen, schaute sie an sich hinunter. Ihre linke Hand, die diese rätselhafte Krankheit schwarz gefärbt hatte, war verbunden und schmerzte nur leicht.
»Gut, du bist wach …«
Diese Stimme. Ein Schauer durchlief sie, und unwillkürlich wollte sie aufspringen und auf den Mann einschlagen, von dem sie kam. Doch als sie es versuchte, packte eine entsetzliche Übelkeit sie an der Kehle und brachte sie ins Wanken. Er hatte sich nicht sehr verändert, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten: unverkennbar die Augen in diesem verblichenen Blau und dieser wallende Bart. Nur etwas müder sah er aus, abgemagert und verdreckt, so als habe er eine lange Wanderung durch das Grauen dieser wahnsinnig gewordenen Welt hinter sich.
Adrass führte die Hand zu einer Falte seines zerrissenen Gewandes. »Suchst du das hier?«, fragte er, wobei er einen Dolch hervorzog und zwischen zwei Fingern am Heft hochhielt.
Adhara bleckte die Zähne.
»Du müsstest doch mittlerweile wissen, dass nicht ich dein Feind bin, Chandra.«
Chandra. Die Sechste. Dieser Name wie für ein nummeriertes Tier, den ihr Schöpfer sich für sie hatte einfallen lassen.
»Nenn mich nicht so. Ich heiße Adhara.«
Adrass lächelte nachsichtig und reichte ihr dann einen Becher mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. »Ich habe dir etwas Ambrosia besorgt. Wusstest du, dass man hier in der Gegend einen Vater des Waldes findet?«
»Von dir nehme ich gar nichts an. Ich bin zwar unbewaffnet, aber du solltest am besten wissen, dass auch meine Hände tödlich sein können.« Und sie hätte sie tatsächlich eingesetzt, wäre er so weit gegangen, sich ihr zu nähern. Sie hätte ihn umgebracht und ihm alles heimgezahlt.
Seelenruhig stellte Adrass den Becher vor ihr auf dem Boden ab, setzte sich dann und schlug die Beine übereinander. An der Seite trug er ein altes Schwert. Adhara ging im Geist mögliche Fluchtwege durch, nur für den Fall, dass er noch irgendwelche magische Teufeleien in der Hinterhand hatte, um sie festzuhalten.
»Ich habe dir gestern Abend das Leben gerettet. Ein wenig Dankbarkeit hätte ich da schon verdient.«
Schlagartig ging Adhara auf, dass sie allein war.
»Was hast du mit der Prinzessin gemacht?«, schrie sie.
»Die ist in guten Händen«, antwortete Adrass gelassen.
»Das glaube ich dir nicht.«
»Hast du wirklich solch eine schlechte Meinung von mir? Glaubst du wirklich, ich würde ein kleines Mädchen einfach ihrem Schicksal überlassen? Würde zulassen, dass ein Ungeheuer wie der Marvash sie tötet?«
»Warum nicht? Schließlich hast du auch meinen Leichnam geschändet. Hast ihn ausgegraben und zusammen mit deinen Gleichgesinnten Gott gespielt, um mich zu einer Waffe zu schmieden.« Adhara spürte, dass der Hass sie wie ein warmer Strom durchflutete.
»Beruhige dich«, wies Adrass sie kühl zurecht, »ich kann dir alles erklären.«
Das Gefühl, ihm hilflos ausgeliefert zu sein, machte sie fast wahnsinnig. Sie blickte auf ihren Verband. Zweifellos war er es gewesen, der sie versorgt hatte. Vielleicht wusste er auch, was mit ihrer Hand geschehen war und wie man sie behandeln konnte. Dies war von ungeheurer Wichtigkeit für sie. Sie hockte sich auf die Fersen, aber ohne den Blick zu senken. »Sprich«, sagte sie. Und aus ihrer Stimme war ein drohender Unterton herauszuhören.
 
Adrass geizte nicht mit Einzelheiten. Er erzählte von seiner langen Wanderung, wie er das Kriegsgebiet durchquert hatte, von den unzähligen Situationen, in denen er um sein Leben fürchten musste. Doch Adhara fühlte sich nicht im mindesten berührt von seiner Geschichte. Wäre er doch auf seiner Wanderung tatsächlich gestorben. Das wäre besser gewesen. Ein Hund weniger, der hinter ihr her war.
»Theana hat dir sicher bewiesen, wer du bist?«, fragte er schließlich.
Mit einem Mal überfielen Adhara wieder die Bilder, wie sie vor der Hohepriesterin gestanden und diese Lanze berührt hatte. Aber für nichts auf der Welt wollte sie ihm die Genugtuung gönnen, zu erfahren, dass sich seine Geschichte bestätigt hatte. »Wenn du glaubst, es hätte sich etwas verändert, so irrst du dich gewaltig«, knurrte sie. »Mag sein, dass ich zu einem ganz bestimmten Zweck geschaffen wurde, aber ich besitze dennoch die Freiheit, meinen eigenen Weg zu gehen. Ich bin mehr als ein bloßes Stück Fleisch. Ich trage einen Namen.«
»Ich verstehe ja, dass du wütend auf mich bist. Aber glaub mir, auch für mich war es entsetzlich, in den Gräbern herumzuwühlen. Nur muss man für die Wahrheit, für ein höheres Gut, auch zu abscheulichen Dingen bereit sein. Und für dich heißt das: Du musst dich zu deiner Bestimmung bekennen.«
Höhnisch lächelnd schüttelte Adhara den Kopf. »Ihr seid wahnsinnig. Wahnsinnige Sadisten, nichts anderes seid ihr. Mit eurem Gott habe ich nichts zu schaffen. Und ich lasse mich auch zu nichts zwingen, was ich nicht gutheißen kann.«
»Die Erweckten gibt es nicht mehr, Chandra. Ich bin der Letzte. Mit mir sterben sie aus. Wenn du magst, kannst du uns hassen, doch du solltest wissen: Dass ich dich wiedergefunden habe, dass ich dich aus größter Gefahr retten konnte, war Thenaars Wille. Du hättest dich diesen Leuten nicht offenbaren dürfen. Denn du bist nicht mehr das Mädchen, das sie verloren haben. Dieses Mädchen ist wirklich tot.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Adhara herausfordernd.
»Ich weiß es, weil ich der Mann bin, der dich geschaffen hat«, antwortete Adrass und blickte sie fest an. »Von der Seele des toten Mädchens ist nichts erhalten geblieben, und ihr Körper beherbergt ausschließlich das, was ich ihm eingegeben habe: magische Kenntnisse, ein bestimmtes Wissen über die Aufgetauchte Welt und die Fähigkeit, zu kämpfen.«
»Das ist die Lüge, die du dir selbst erzählst, um dein abscheuliches Tun zu rechtfertigen. Ich bin ein Mensch, und meine Persönlichkeit ist sehr viel reicher, als du denkst!« Sie schrie fast, auch wenn es sich mehr wie ein verzweifeltes Jammern anhörte.
»Ich glaube eher, dass du es bist, die sich selbst belügt, indem du dir vormachst, dass du mehr als eine bloße Waffe seist.«
Diese Worte trafen sie bis ins Mark. Da fiel ihr wieder ein, wie Kairin und sein Vater sie angeschaut hatten, welche Verachtung in ihren Gesichtern gestanden hatte. Sie biss sich auf die Lippen und ließ erst davon ab, als sie einen metallischen Blutgeschmack auf der Zunge spürte.
»Erzähl weiter«, forderte sie ihn auf.
In der Absicht, sie zu befreien, wenn es dunkel würde, hatte Adrass sich in der Nähe des Lagers versteckt. Doch als die Elfen angriffen, hatte er rasch seinen Plan ändern müssen. In der allgemeinen Verwirrung war er suchend durch das Lager gerannt und hatte sie plötzlich dem Marvash gegenüberstehen sehen.
»Mir war sofort klar, in welcher Gefahr du schwebtest. In deiner Verfassung konntest du einen Kampf unmöglich gewinnen, und ich bin weiß Gott kein Mann, der dem Marvash mit dem Schwert in der Hand gewachsen wäre. Daher bediente ich mich eines Zaubers, eines jener Zauber, die du auch kennst.«
Adhara erinnerte sich undeutlich an den silbernen Blitz, an das Dunkel, das sie eingehüllt hatte. »Eine Translation …«, murmelte sie.
»Richtig. Es war wohl gerade mal eine Meile, aber das reichte, um dich den Klauen des Zerstörers zu entreißen. Natürlich bedeutete das eine enorme Anstrengung für mich, die mich an den Rand meiner Kräfte brachte.«
»Und was ist mit Amina?«
»Die war bei uns. Als wir erst einmal in Sicherheit waren, ließ ich sie bei einem Militärlager nicht weit von hier zurück. Sie war bewusstlos, aber ich habe dafür gesorgt, dass man sie finden wird.«
Adharas Herz begann schneller zu schlagen. Die Prinzessin, ihre einzige Freundin, war allein und wehrlos an der Front, in nächster Nähe des Feindes, zurückgeblieben. Wer beschützte sie jetzt? »Du hättest sie mitnehmen müssen. Sie war doch verletzt. Wie konntest du das tun?«
»Beruhige dich … Ich habe sogar noch gesehen, wie Soldaten sie fanden und forttrugen. Es wird ihr also nichts geschehen«, erklärte er. »Ich weiß doch, wer sie ist, und ob du es glaubst oder nicht, ich bin kein Ungeheuer«, fügte er gekränkt hinzu.
Adhara atmete tief durch. Ob Amina wirklich in Sicherheit war? Sie wusste nicht, was sie denken sollte. »Beweis mir, dass du die Wahrheit sagst.«
»Beweise habe ich nicht. Ich kann dir nur mein Wort geben.«
Das hatte sie befürchtet. Sie schloss die Augen.
Amina …
»Seit wann fühlst du dich krank?«, wechselte Adrass das Thema, wobei er auf ihre Hand deutete.
»Woher weißt du davon?«
»Ich habe es dir angesehen, vor allem deiner Hand.«
»Vielleicht ist das ein Fluch, den du dir hast einfallen lassen, um mich zu dieser Mission zu zwingen«, antwortete sie verbittert.
»Du fantasierst.«
»Sag mir die Wahrheit.«
»Dann sperr dich nicht. Also, seit wann fühlst du dich krank?« Seine Stimme klang hart.
Adhara schluckte. Die Angst vor dem, was diese rätselhafte Erkrankung mit ihr trieb, war stärker als alles andere. Deshalb erzählte sie ihm alles, und es war, als befreie sie sich von einer schweren Last.
Bevor er antwortete, schien Adrass seine Worte einige Augenblicke abzuwägen. Fast befangen wirkte er, als er zu ihr blickte.
»Ich hatte dir ja bereits erklärt, wie ich dich ins Leben zurückgeführt habe, und dass meine Geschichte stimmt, hast du selbst erlebt im Kreis jener Menschen, die deinen Leib schon kannten, als ihm noch eine Seele innewohnte. Um nun Sheireen schaffen zu können, waren eine Reihe auch abartiger magischer Formeln notwendig. Mit anderen Worten, wir Erweckte bedienten uns der Schwarzen Magie, die gegen die natürlichen Prinzipien der Schöpfung verstößt. Aber glaub mir, es gab keine andere Möglichkeit, einen Retter für die Aufgetauchte Welt entstehen zu lassen. Doch der Preis, den wir für dieses Tun zu entrichten hatten, war hoch: Wir verloren unsere Seelen.«
Seine Stimme klang jetzt aufrichtig betrübt, und zum ersten Mal dachte Adhara, dass sie vielleicht nicht das einzige Opfer dieses finsteren, wahnsinnigen Planes war.
»Einen Körper ins Leben zurückzuholen und ihn nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, bedeutet, die vorgegebene Ordnung der Dinge auf den Kopf zu stellen. Und wenn das geschehen ist, versucht die Schöpfung auf irgendeine Weise, in die richtigen Bahnen zurückzufinden.«
»Und was bedeutet das jetzt?«, fragte Adhara mit kaum noch vernehmlicher Stimme. Und da sie die Erklärung fürchtete, die sie vielleicht hören würde, begann sie zu schnaufen, so als bekäme sie nicht genug Luft.
»Es ist ähnlich wie bei der Änderung eines Flusslaufs. Man baut Dämme und Deiche und zwingt das Wasser auf diese Weise in eine Richtung, die es normalerweise niemals eingeschlagen hätte. Aber der Fluss wehrt sich, und bei erstbester Gelegenheit überspült er die Dämme, reißt die Deiche nieder und zerstört alles, was sich ihm in den Weg stellt.«
Die Andeutung einer entsetzlichen Vorstellung blitzte in Adharas Geist auf. Ihr Mund wurde trocken, und ihre Gedanken rasten, während sich die fehlenden Mosaik-steinchen eines Bildes einzufügen begannen, das sie bereits zu kennen spürte.
»Es war hochmütig, zu glauben, diese sakrosankte Grenze ungestraft verletzen zu können. Vielleicht haben wir auch einen Fehler gemacht, fest steht jedenfalls, dass sich dein Körper zersetzt, weil es ihn danach drängt, zu jenem Zustand zurückzukehren, aus dem wir ihn gerissen haben.«
Mit dem Gewicht von Felsblöcken trafen sie diese Worte, und Adhara überkam das entsetzliche Gefühl völliger Machtlosigkeit. Wie immer waren es andere, Menschen oder Umstände, die über ihr Leben entschieden. Und sie folgte nur einem von außen vorgezeichneten Weg. Aus dem Nichts hatte man sie geschaffen, und ins Nichts würde sie schon bald zurückkehren. Ihr Blick fiel auf die bandagierte Hand, und da merkte sie, dass sie die Finger kaum noch bewegen konnte.
»Wie wird das sein?«, fragte sie bestürzt.
Adrass blickte sie verständnislos an.
»Wie wird das sein, auf diese Weise zu sterben?«
»Du bist die Sheireen, ich kann dich unmöglich sterben lassen«, rief er, während er sich zu ihr vorlehnte.
Eine solche Entschlossenheit lag in seinen Augen, dass Adhara fast versucht war, Hoffnung zu schöpfen.
»Ich habe es schon geahnt, bevor ich dich wiedergesehen habe. Denn mir war klargeworden, welch große Fehler uns bei deiner Erschaffung unterlaufen sind. Deshalb habe ich auch, während ich in den vergangenen Monaten nach dir suchte, bereits daran gearbeitet, sie zu beheben. Und ich bin jetzt sicher, dass ich dich retten kann«, erklärte Adrass völlig überzeugt. »Und zwar wird es darum gehen, die ganze Prozedur zu wiederholen, aber in kleinerem Maßstab«, fuhr er fort. »Dazu brauchen wir Nymphenblut, Reste von Menschenfleisch und Elfenlymphe. Alles Dinge, die im Krieg leicht zu beschaffen sind.«
Und wieder wird der Tod Voraussetzung meines Lebens sein, dachte Adhara. Damit sie leben konnte, mussten andere sterben. Der Gedanke ließ sie erschaudern, und ihr eigener Körper kam ihr wie etwas Fremdes vor, das nur Leid hervorrief.
»Und was ist mit meiner Hand? Werde ich sie verlieren?«, fragte sie leise.
»Ich weiß es nicht. Was ich vorhabe, kann den Prozess verlangsamen, aber leider nicht aufhalten. Es wird den Schmerz lindern, und die Anfälle, unter denen du leidest, werden verschwinden. Aber dass dein Körper sich weiter wehrt, ist unvermeidlich.«
»Und wozu ist das Ganze dann nütze? Sterben werde ich so oder so!«
»Wir gewinnen Zeit, Zeit, in der es vielleicht gelingen wird, ein wirksameres Heilmittel zu finden.«
Adhara blickte Adrass verwirrt an. Gerade noch hätte sie ihn, ohne lange darüber nachzudenken, töten können. Aber jetzt fühlte sie sich vollkommen von ihm abhängig. Adrass war der Einzige, dem es vielleicht gelingen konnte, sie zu retten.
»Ich bin nur ein mittelmäßiger Zauberer, der nicht alle Formeln kennt. Und dass ich Sheireen schaffen konnte, geschah nur durch Thenaars Willen. Aber ich weiß, wo wir die Antworten finden können, nach denen wir suchen. Es handelt sich um einen sagenhaften Ort, der früher einmal zum Reich der Elfen gehörte. Eine verschollene Bibliothek unter der Stadt Makrat, tief im Innern der Erde.«
Allein schon die Erwähnung dieses Namens jagte Adhara einen Schauer über den Rücken. Denn die Stadt war tief im Chaos versunken, nachdem der König der Seuche zum Opfer gefallen war.
»Ein sagenhafter Ort, meinst du? Das heißt also, du weißt gar nicht, ob es diese Bibliothek wirklich gibt oder überhaupt je gegeben hat?«, warf sie ein.
»Doch, ich weiß es. Ich war nämlich dort. Einige meiner Mitbrüder haben den Ort zufällig entdeckt. Eine halb zerstörte, mysteriöse Bibliothek mit einer unglaublichen Sammlung von Pergamentrollen, Folianten und antiken Zauberbüchern. Sie ist noch gar nicht ganz erforscht. Jedenfalls stammen von dort die Kenntnisse, die es mir ermöglichten, dich zu erschaffen. Und dort werden wir auch die Formel finden, die dir das Leben retten kann – da bin ich mir sicher.«
Adhara kam das letzte Bild, das sie sich von Makrat bewahrt hatte, in den Sinn: eine Heerschar Verzweifelter, die sich draußen vor der Stadtmauer drängten, während sich in der Stadt die Menschen voller Angst und Misstrauen voneinander abschotteten. Fast zwei Monate war sie nicht mehr dort gewesen, und in diesem Zeitraum konnte alles Mögliche geschehen sein. »Die Seuche hatte damals schon auf den Palast übergegriffen. Heute wird sicher die ganze Stadt befallen sein. Das heißt, für dich ist es dort gefährlich. Denn du bist nicht immun«, bemerkte sie.
»Mein Gott wird mich beschützen.«
Adhara schaute ihn nachdenklich an. Der Mann war ein Fanatiker. Aber ihr Schicksal lag nun einmal in seinen Händen. Mit ihm hatte alles seinen Anfang genommen. Nie hätte sie geglaubt, dass ihre Flucht einmal solch eine Wendung nehmen würde. Doch was sollte sie tun? Wenn sie sich ihm nicht anschloss, stand ihr mit Sicherheit ein schrecklicher Tod bevor. Sie hatte keine andere Wahl.
»Was verlangst du als Gegenleistung?«, fragte sie mit schwacher Stimme.
»Ich möchte nur, dass du am Leben bleibst.«
»Damit ich die Aufgabe erfüllen kann, die du mir zugedacht hast, nicht wahr? Damit ich meine Pflicht tue und Marvash töte, Amhal also, den einzigen Menschen, den ich je geliebt habe«, rief sie. Sie hatte zu weinen begonnen, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht.
Es entstand ein kurzes Schweigen.
»Ja«, antwortete Adrass dann.
Adhara blickte zur Sonne, die durch die Baumkronen über ihr strahlte, und spürte, wie der kalte Winterwind über ihre Haut streichelte und ihr die Tränen trocknete. So aussichtslos ihre Lage auch sein mochte, war sie noch nicht dazu bereit, dies alles aufzugeben. Das Leben.
»Ich bleibe so lange bei dir, bis du mich gerettet hast. Danach folge ich meinem eigenen Weg.«
Wie auch immer der aussehen mag, fügte sie in Gedanken hinzu.
Adrass nickte.
Das Abkommen war besiegelt. Adhara streckte sich auf ihrem Lager aus. Nun beginnt also noch einmal alles von vorn, dachte sie. Doch dies rief nur Zweifel und Ängste in ihr wach.
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