16
Die tote Stadt
Amhal war soeben aus der Schlacht
zurückgekehrt, sein Beidhänder rot von Blut, die Rüstung ruß- und
schlammverschmiert. In seinen Augen nicht die leiseste Regung. Kalt
und erbarmungslos blickten sie starr vor sich hin, während ihn sein
Adjutant, den Kryss für ihn abgestellt hatte, langsam auszog. San
saß bei ihm im Zelt, mit einem Pokal Rotwein in der Hand. Die Elfen
liebten Rotwein. Bei Orva, in den Hügeln gleich hinter dem Riff,
bauten sie ertragreiche Reben an, aus deren Trauben sie einen
kräftigen, aromatischen Roten gewannen. Den verfeinerten sie mit
Honig und Gewürzen und streckten ihn mit ein wenig Wasser. San war
ganz vernarrt in diesen Wein und liebte es besonders, sich damit
nach der Schlacht den derben Geschmack von Staub und Erde aus dem
Mund zu spülen.
»Nun?«, fragte er, als Amhal alle Teile der Rüstung
abgelegt hatte. Jetzt trug er nur noch seine gewohnte Lederweste,
auf der das blutrot glitzernde Medaillon prangte, das Kryss ihm
geschenkt hatte. »Wie ist es dir ergangen?«
Mit knappen Worten, aber präzise wie immer
erstattete Amhal Bericht. Seit der Elfenkönig seinen Wunsch erfüllt
hatte, war er vollkommen verändert. San fragte sich häufig, was in
seinem Kopf vorging, ob es ihm wirklich gelungen war, sich von
allen Gefühlen zu befreien. Für ihn selbst wäre das undenkbar
gewesen. Die Raserei der Schlacht, die Gier, mit dem Schwert zu
töten und zu verstümmeln, waren für ihn der Lebenssaft, von dem er
sich nährte.
Zerstreut hörte er zu. Amhal war schlicht
unbesiegbar, denn seine Kräfte schienen weiter zugenommen zu haben,
seit er die letzten Skrupel abgelegt hatte.
»Ich bekam es mit einem kleinen Mädchen zu
tun.«
San horchte auf. »Wie? Ein kleines Mädchen?«
Während ihm Amhal von Aminas inbrünstigem Versuch
erzählte, den Vater zu rächen, verzog sich Sans Miene zu einem
amüsierten Lächeln. Er hatte etwas übrig für unbezähmbare
Charaktere und war durchaus bereit zuzugeben, dass der Mut der
kleinen Prinzessin bewundernswert war.
»Und? Hast du sie getötet?«
»Das hätte ich getan, wenn sie nicht
aufgetaucht wäre.«
San spürte, wie ihm ein unangenehmer Schauer über
den Rücken lief. »Von wem sprichst du?«
Fast unmerklich zuckten Amhals Augen, als er den
Namen aussprach. »Adhara.«
San schenkte seinem Wein keine Beachtung mehr,
stellte den Pokal auf dem Boden ab und stand auf. »Erzähl
schon.«
Die ersten Tage nach dem Ritus waren unerträglich.
Bei dem leisesten Anzeichen von Erschöpfung beschäftigte sich
Adrass mit Chandras Gesundheitszustand und fragte sie unablässig,
wie es ihr gehe. Adhara hatte diesen Namen gründlich satt. Und
zudem fühlte sie sich so eigenartig, ganz anders als sonst, so als
sei sie nur noch Gast in ihrem eigenen Körper und dieser mit einem
Mal zu einem labbrigen Kleidungsstück geworden, das ihr nicht mehr
richtig passte. Es stimmte nicht mehr richtig, wie ihre Muskeln
reagierten, eine Art mangelnde Abstimmung zwischen Körper und
Geist, die ihre Bewegungen verlangsamte. Sie hätte Adrass davon
unterrichten müssen, hatte aber keinerlei Lust dazu. Denn sie war
bemüht, den Umgang mit diesem Mann auf ein Mindestmaß zu
beschränken und ihm deutlich zu zeigen, dass sie durch nichts
anderes als die Interessen verbunden waren, die sie zu diesem
bestimmten Zeitpunkt teilten.
»Es geht mir wirklich gut«, sagte sie irgendwann,
wobei sie entnervt seine Hand von ihrer Stirn fortschob.
»Sperr dich doch nicht so. Wenn ich nicht genau
Bescheid weiß, kann ich nicht entscheiden, ob wir schon aufbrechen
können. Du weißt doch, die Zeit drängt.«
»Worauf warten wir dann noch? Ich fühle mich gar
nicht mehr schwach«, antwortete sie mit bemüht überzeugter Stimme.
Es war zwar gelogen, aber sie hatten keine andere Wahl, sie mussten
sich endlich auf den Weg machen.
Adrass blickte sie eine Weile an, packte
schließlich
seine Sachen zusammen und verließ die Höhle. Ein langer,
melodischer Pfiff erklang. Ein Lockruf. Im ersten Moment verstand
Adhara nicht, was es damit auf sich hatte, aber dann tauchte ein
schwarzer Punkt am Horizont auf. Zunächst mochte man ihn für einen
Vogel halten, aber als er näher kam, erkannte sie die schwarzen
Schwingen und den schlanken Leib, der jetzt auf die Ebene
niederschwebte. Ihr Herz machte einen Sprung. Es war Jamila.
Er hat sie zurückgelassen, dachte sie
entrüstet. Für einen Drachenritter gab es eigentlich nicht
Heiligeres als seinen Drachen; ihre Schicksale waren unauflöslich
miteinander verwoben. Nur der Tod und zuweilen noch nicht einmal
dieser konnte sie trennen.
»Ich bin auf den Drachen gestoßen, als ich nach dir
gesucht habe. Der Marvash muss sich von ihm getrennt haben, als er
beschloss, dem Ruf seines Verführers zu folgen«, erklärte
Adrass.
»Soweit ich weiß, sind doch Drachen auf ewig ihrem
Herrn verbunden. Wie hast du es angestellt, dass er dir
gehorcht?«
Adrass lächelte. »Ich bin vielleicht kein
begnadeter Magier, aber um mit dem Geist eines Drachens in Kontakt
zu treten, reichen meine Künste bei weitem aus.«
Er trat an Jamila heran und streichelte ihr über
das Maul. Das Tier schien diese freundliche Geste eher widerwillig
über sich ergehen zu lassen, während seine Augen auf Adhara
gerichtet waren. Im Blick des Drachens schien eine Frage zu stehen.
›Warum?‹
Wenn ich das nur wüsste, Jamila …
»Der Drache wird uns nach Makrat fliegen«, erklärte
Adrass.
»Ist das nicht ein etwas zu auffälliges
Fortbewegungsmittel?«
»Das glaube ich nicht. Die Leute sind alle viel zu
beschäftigt damit, zu kämpfen oder ihr nacktes Leben zu retten. Da
hat niemand Augen für uns. Die Welt ist in Auflösung begriffen,
Chandra, der Krieg und die Seuche zerstören sie Tag für Tag mehr.
Und Schuld ist leider auch dein Versäumnis«, schloss er und sah sie
lange an.
Adhara ballte die Fäuste. Vielleicht hatte er
Recht, aber es ärgerte sie, das gesagt zu bekommen.
Adrass gab Jamila ein Zeichen, und die senkte den
Kopf und ließ ihn aufsteigen. Es dauerte ein wenig, bis er eine
einigermaßen bequeme Sitzposition gefunden hatte. Dann streckte er
eine Hand zu Adhara aus, die ohne große Umstände mit einem Satz
aufsprang.
»Los, beeilen wir uns«, sagte sie, während sie die
Schenkel gegen Jamilas Flanken presste.
»Nichts lieber als das«, antwortete Adrass und
ruckte an den Zügeln, woraufhin der Drache kräftig schnaubte und
die enormen Flügel spreizte. Adhara spürte, wie ihr Magen absackte,
und schon schwebten sie in den Lüften.
Sie rasteten nur, wenn es unbedingt nötig war,
damit Jamila sich nicht überanstrengte. Einmal besuchten sie auch
ein Dorf, um sich dort mit Wasser und frischem Proviant
einzudecken.
»Wir müssen auch an Vorräte für die Bibliothek
denken«, hatte Adrass erklärt.
Adhara stellte keine Fragen. Im Moment blieb ihr
nichts anderes übrig, als diesem Mann zu vertrauen. Wollte sie
gerettet werden, war er der Einzige, auf den sie hoffen
konnte.
Durch die wenigen Pausen brauchten sie nur zehn
Tage, bis Makrat in Sicht kam. Von oben sah die Aufgetauchte Welt
so aus wie immer. Die Wälder um die Stadt schienen unberührt, der
Fluss schlängelte sich unverdrossen durch die Ebene, und die
goldenen Kuppeln glänzten im flammend roten Licht des
Sonnenuntergangs. Vielleicht, dachte Adhara, hatte die Seuche
dieses so friedlich daliegende Land doch noch verschont, vielleicht
war tatsächlich alles heil und unversehrt, wie es den Anschein
hatte. Aber das war Unsinn. Alles hatte sich verändert. Nicht
zuletzt sie selbst. Und Amhal? Den Luxus, in dieser Beziehung noch
Hoffnung zu hegen, konnte sie sich nicht erlauben.
Auf einer Lichtung in einem still daliegenden Wald
landeten sie.
»Von hier aus gehen wir besser zu Fuß weiter«,
erklärte Adrass. »Jamila würde uns jetzt nur aufhalten.«
Adhara nickte und tätschelte dem Drachen das Maul.
Jamila würde ihr fehlen, aber sie mussten rasch weiter. Denn sie
war sich darüber im Klaren, dass sich ihr Körper, wenn auch nicht
mehr so schnell wie vorher, unaufhörlich weiter zersetzte.
Sie aßen etwas und machten sich dann wieder auf den
Weg. Schweigend folgten sie der Straße, die immer die
Hauptverbindung nach Makrat gewesen war. Sie war breit und im
letzten Abschnitt mit großen Marmorplatten gepflastert. Aber sie
war menschenleer. Nichts war
mehr von den Scharen Verzweifelter zu sehen, die einmal hier
gelagert hatten. Adhara erinnerte sich noch gut daran, wie sie vor
einiger Zeit, als sie die Stadt Richtung Damilar verließ, von ihnen
bedrängt worden war. Auch deren Zelte waren alle verschwunden, so
als habe ein Sturm sie hinweggefegt. Stattdessen erblickten sie in
einiger Entfernung, knapp unterhalb der Zinnen der
Befestigungsanlage, in regelmäßigen Abständen schwarze Punkte, die
im Wind hin und her schaukelten. Als sie näher kamen, erkannten
sie, dass dort Lanzen zwischen den Mauerritzen staken, auf denen
etwas aufgespießt war.
Adhara überkam ein seltsames Gefühl, und ein
Schauer durchlief sie, der ihr eine Gänsehaut an den Unterarmen
bescherte. Fröstelnd hüllte sie sich fester in ihren Umhang.
»Vielleicht kommen wir gar nicht hinein«, sagte sie
zu Adrass.
Der zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, was hier
los ist. Aber wir müssen auf alles gefasst sein.«
Als sie sich vorsichtig näherten, wurde ein eklig
süßlicher Gestank, der ihnen in der Kehle kratzte, immer stärker.
Bald erkannten sie, welch entsetzliches Schauspiel sich ihnen bot.
Verstümmelte Rümpfe baumelten an den Lanzenstangen, während
Dutzende und Aberdutzende abgeschlagener Köpfe, auf die Spitzen
gespießt, sie von oben her anstarrten.
Adhara spürte, wie ihr die Knie weich wurden, und
konnte kaum noch weitergehen. Selbst Adrass schien bestürzt und
blieb stehen. Die Stadt vor ihnen war in eine gespenstische Stille
getaucht. Sie hörten nur das
Kreischen der Vögel und das Knarzen der Stricke, mit denen man die
Opfer aufgehängt hatte.
Adhara trat einen Schritt zurück und blickte Adrass
entsetzt an.
Der schüttelte den Kopf. »Wir haben keine andere
Wahl. Nur in Makrat finde ich das, was ich brauche, um dich zu
heilen. Wir müssen hinein.«
»Dann lass uns wenigstens warten, bis die Nacht
hereinbricht.«
An jeder Leiche war ein Schild befestigt. Darauf
stand mit krakeliger, fast unleserlicher Handschrift etwas
geschrieben, wahrscheinlich der Grund für die Hinrichtung. Adhara
gelang es, eines zu entziffern: VERLEUMDUNG DES RATS DER
WEISEN.
Von diesem Rat hatte sie noch nie gehört. Der
musste nach ihrem Fortgang aus der Stadt gegründet worden sein.
Über dem Haupttor war immer der Name der Stadt zu lesen gewesen,
eingraviert in eine breite Tafel aus rosafarbenem Marmor. Nun lag
diese Platte zerbrochen am Boden und war durch ein Holzschild
ersetzt worden, auf dem ein anderer Name stand: NEUSTADT.
Adrass und Adhara nahmen ein kärgliches Mahl zu
sich, und als der Mond aufgegangen war, machten sie sich wieder auf
den Weg. Zunächst liefen sie ein Stück an der Stadtmauer entlang.
Zwar sahen sie keine Wachen, doch überall waren die Tore fest
verriegelt. Allerdings waren hier und dort auch Breschen im
Mauerwerk. Es schien sich um Durchlässe zu handeln, die man aus
irgendwelchen Gründen in den Stein geschlagen hatte.
Bei einer etwas breiteren Lücke blieben sie
stehen.
»Ich gehe voran.« Adhara bückte sich, ohne auf
Adrass’ Zustimmung zu warten, und zwängte sich hinein. Nur auf dem
Bauch robbend, während Hände und Füße im Schlamm Halt suchten, kam
sie vorwärts. Sie wusste, dass die Stadtmauer mindestens acht, neun
Ellen breit war, und musste bald gegen ein Erstickungsgefühl
ankämpfen, das sie zu befallen drohte. Irgendwann kam sie nicht
mehr weiter. Ein Hindernis blockierte den Durchgang.
»Was ist los?«, rief Adrass, der noch draußen
stand.
»Der Weg ist versperrt.«
»Lass mich mal machen«, forderte er sie auf.
Sie ließ ihn vorbei, und er kroch hinein. Nur
langsam kam er vorwärts, weil er noch kräftiger gebaut war als sie,
und schien fortwährend irgendwo anzustoßen. Doch nach einer Weile
erkannte Adhara ein schwaches Licht am Ende des Durchschlupfs und
hörte Adrass’ gedämpfte Stimme, die sie aufforderte, nachzukommen.
Das tat sie, und als sie auf der anderen Seite hinausschlüpfte,
spürte sie, wie ihr ein kühler Wind über das Gesicht strich.
»Ein wenig Magie kann nie schaden«, erklärte Adrass
lächelnd, der mit dem Rücken an der Innenseite der Stadtmauer
lehnte. Sie waren drinnen.
Eine unheimliche Stille umgab sie, die nur vom
Rauschen des Windes unterbrochen wurde. Zudem fiel ihnen auf, dass
keines der Fenster um sie herum erhellt war. Die Stadt wirkte wie
ausgestorben.
»Vielleicht sind alle geflohen. Oder tot«, bemerkte
Adhara.
»Nein, irgendjemand muss ja das Tor von innen
verschlossen haben. Und außerdem, denk doch mal an die zur Schau
gestellten Leichen. Manche sahen so aus, als seien sie gerade erst
hingerichtet worden.«
Vorsichtig blickten sie sich um, die Hände an den
Waffen, und schlichen voran. Kaum waren sie in eine Seitenstraße
eingebogen, stießen sie auf die ersten Leichen. Man hatte sie
einfach draußen auf der Straße liegen lassen, anscheinend Opfer der
Seuche. Auf dem Boden erkannten sie geronnenes Blut, und die Körper
waren mit schwarzen Flecken übersät.
Adhara zog Adrass am Arm von ihnen fort. »Halt dich
fern von ihnen, du bist doch nicht immun«, sagte sie. »Weißt du
eigentlich, welche Richtung wir einschlagen müssen?«
Adrass nickte und trat einige Schritte zurück. Er
wirkte mitgenommen. Allerdings musste auch Adhara allen Mut
zusammennehmen, um dem Drang zu widerstehen, auf der Stelle
kehrtzumachen und davonzulaufen.
»Dann weiter.«
So durchquerten sie das Gassenlabyrinth der Stadt.
Überall an den Häuserwänden waren Bekanntmachungen angeschlagen, in
schwarzer Farbe auf Papierbögen geschrieben, die sich bei genauerem
Hinsehen als Buchseiten entpuppten, die man offenbar aus antiken
Folianten gerissen hatte.
VERLASSEN DER HÄUSER NACH SONNENUNTERGANG
VERBOTEN!
SOFORT ÖFFNEN, WENN EIN HÜTER DER WEISHEIT
ANKLOPFT!
TODESSTRAFE FÜR ALLE, DIE DEN TÄGLICHEN WEGZOLL
NICHT ENTRICHTEN!
Versonnen strich Adrass mit den Fingern über eine
solche Seite.
»Komm schon, wir haben keine Zeit, uns darum zu
kümmern«, riss Adhara ihn aus seinen Gedanken.
Er schaute sie aus glasigen Augen an. »Davon
verstehst du nichts … Das ist ein Text aus einem uralten
Zauberbuch. Hier, sieh mal. Ein grundlegendes Werk für unsere
Wissenschaft. Das ist bestimmt fünfhundert Jahre alt! Schau, man
kann es sogar noch lesen: Gelobt sei Shevrar …« Und damit
streichelte er wieder über das Papier, sanft, liebevoll,
ehrfürchtig, wie es typisch sein mochte für einen Mann, der sein
Leben mit Büchern zugebracht hatte.
Da raschelte es hinter ihnen. Adhara fasste den
Erweckten am Arm und zog ihn zu sich heran, dicht an die Mauer.
Auch sie presste sich dagegen. Das Geräusch wurde lauter und bewog
sie, die Hand an ihren Dolch zu legen und sich auf einen Angriff
einzustellen. Da huschte etwas an ihnen vorbei und ließ ihr Herz
einen Moment stillstehen. Eine Ratte. Bloß eine Ratte.
»Lass uns weitergehen, und bleib bitte nicht mehr
an jeder Haustür stehen«, sagte sie, wobei sie sich, einmal lang
ausatmend, wieder entspannte. »Das kommt mir hier alles nicht
geheuer vor.«
Doch eine wirkliche Gefahr konnten beide nicht
erkennen, nur weitere Ratten und Leichen, während sie vorsichtig
weitergingen. Adrass schien verwirrt und schaute sich immer wieder
um, so als suche er nach dem Weg.
»Bist du sicher, dass du weißt, wo wir hin
müssen?«, fragte ihn Adhara irgendwann.
»Natürlich! Nur...«
»Nur was?«
»Ich war erst zweimal in dieser Stadt. Und nur ein
einziges Mal in dieser Bibliothek.«
Adhara packte ihn am Kragen. »Du hast mich
hierhergeschleppt, ohne überhaupt zu wissen, wo wir hin
müssen?«
»Nein, nein. Bevor wir gezwungen wurden, uns in dem
Loch zu verkriechen, wo du zur Welt kamst, mussten wir Erweckten
bei unserem Eintritt in die Sekte alle Wege auswendig lernen, die
zu unseren Kultorten führen. Also zu unseren Gotteshäusern und auch
zu der geheimen Bibliothek. Das war Teil meiner Ausbildung, ein
unverzichtbarer Teil meines Glaubens. Ich weiß also, wohin
wir uns müssen.« Seine Augen funkelten fiebrig.
Einmal mehr verfluchte Adhara ihn, ließ ihn aber
los. »Beweg dich«, setzte sie noch hinzu, da ließ ein schauriges
Röcheln in unmittelbarer Nähe sie zusammenzucken.
Adhara fuhr herum und erblickte einen schwarzen
Schatten, der langsam auf sie zukroch.
»Rettet mich … bringt mich zu einem Priester …«,
hörten sie eine Stimme, rau und von heftigem Husten
unterbrochen.
Da erhellte ein Lichtschein die Gestalt, und sie
erkannten das Gesicht eines Mannes, dessen Hemd zerrissen und von
dem Blut durchtränkt war, das ihm aus Mund und Nase lief. Seine
Miene war voller Verzweiflung, und Adhara konnte den Blick nicht
von ihm abwenden.
Jetzt flackerte noch eine zweite Fackel auf, und aus der Gasse
hörten sie eine Stimme rufen.
»Verdammter Hund, du hast gegen die Ausgangssperre
verstoßen.«
Ein Zischen, der Mann bäumte sich auf, schwankte
und stürzte, von einem Pfeil in die Brust getroffen, nach vorn.
Unwillkürlich sprang Adhara zur Seite, aber Adrass war nicht so
schnell. Der Mann fiel auf ihn, ließ seine blutverschmierten Hände
über Adrass’ Gesicht gleiten, sank zu Boden und tat seinen letzten
Atemzug. Wie versteinert stand Adrass da. Da sirrte es erneut
hinter ihnen, und ein zweiter Pfeil streifte Adharas Schulter. Kurz
stöhnte sie auf und krümmte sich, begriff aber sofort, dass sie
keine Zeit mehr verlieren durften.
»Weg! Weg hier!«, rief sie und zog Adrass mit sich
fort. Sie rannten, so schnell sie konnten, aber sofort hefteten
sich die Männer an ihre Fersen und waren schon dicht hinter ihnen.
Immer mehr schienen es zu werden. Von überall her kamen sie
gelaufen, geschwind und lautlos wie Raubkatzen im Dunkeln auf der
Jagd nach Beute.
Adharas Schulter schmerzte heftig, und als sie
jetzt scharf rechts in eine Gasse einbog, sah sie, dass drei Männer
den Weg versperrten, deren höhnisch grinsende Gesichter vom Licht
der Fackeln erhellt wurden. Sie trugen Rüstungen, die alt und
offenbar nicht für sie gemacht waren. Zwei ihrer Schwerter waren
ramponiert und verrostet, während das dritte in hervorragendem
Zustand war. Auf ihrer Brust prangte, mit schwarzer Farbe
aufgemalt, ein Auge.
Adhara rannte mal hierhin, mal dorthin, merkte
aber,
dass sie eingekreist wurden und bald jeder Fluchtweg versperrt
war. Es würde nicht mehr lange dauern, bis man sie schnappte. Und
was dann?
Da spürte sie einen unbändigen Zorn in sich
aufkommen. Auf Adrass. Wie hatte sie sich bloß diesem Wahnsinnigen
anschließen können? Aber das hatte sie nun davon. Sie war versucht,
ihn wegzustoßen und es auf eigene Faust zu versuchen. Sollte er
doch diesen Bewaffneten in die Hände fallen und abgestochen werden.
Dann würde es wenigstens auch mit seinen religiösen Wahnideen
vorbei sein. Aber das war unmöglich. Wenn einer sie retten konnte,
dann Adrass.
Es geschah, als sie schon jede Hoffnung aufgegeben
hatte. Sie waren gerade wieder um eine Ecke gebogen, da tauchte aus
einem Spalt in einer Wand eine Gestalt mit einem gefleckten Gesicht
vor ihnen auf. Sie sagte nichts, gab ihnen nur ein Zeichen: Kommt!
Adhara zögerte nicht. Der Spalt war so schmal, dass Adrass darin
stecken blieb und sie mit aller Kraft an ihm zerren musste, bis er
vor Schmerz aufschrie. Aber schließlich stürzten sie beide in einen
stinkenden Raum, der völlig im Dunkeln lag. Durch den Spalt konnten
sie aber die Stiefel ihrer Verfolger erkennen, die unschlüssig
stehen geblieben waren.
»Wo sind sie hin?«
»Sind die überhaupt hier lang gelaufen?«
»Sie ist flink auf den Beinen, diese kleine Hure,
aber sie müssen hier in der Gasse sein.«
»Mein Pfeil hat sie getroffen. Das heißt, sie ist
verletzt. Morgen finden wir sie irgendwo zusammengekauert in einer
Ecke liegen, sie und den anderen, der bei ihr
war. Aber kein Wort zu den Männern vom Rat, dass wir sie haben
entwischen lassen. Die Weisen verstehen da keinen Spaß.«
»Ist doch klar«, antworteten die anderen im
Chor.
Mit langsameren Schritten, die über das Pflaster
hallten, gingen sie davon. Erst jetzt schaffte Adhara es, wieder zu
atmen.