13
Ein Hoffnungsschimmer
»Die Prinzessin ist verletzt, aber es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Man fand sie nicht weit von dem Vorposten, den die Elfen angegriffen haben. Wahrscheinlich hat sie in dem allgemeinen Getümmel davonlaufen können.«
Während sie den Bericht anhörte, trommelte Theana immer wieder nervös mit den Fingern auf die Armlehne. »Und was ist mit ihr?«, fragte sie schließlich. »Gibt es wirklich keine Spur von ihr?«
Der Glaubensbruder schüttelte den Kopf. »Nein, gar keine. Vielleicht hatten sich ihre Wege schon vorher getrennt, oder…«
Theana wusste, mit welchem Gedanken dieser Satz fortgesetzt werden konnte. Danach hätte sich in jener Nacht Adharas Schicksal erfüllt, und zwar in dem Augenblick, da ihr Amhal gegenübergetreten war. Die Geschichte lehrte, dass in der Aufgetauchten Welt Gut und Böse einander abwechselten, in einem ewigen Kreislauf, wie die zwei Seiten einer Medaille.
Aber in ihrem langen, dem Glauben an Thenaar geweihten Leben hatte sie selbst niemals die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass ihr Gott sich von ihnen abwenden und es zulassen könnte, dass Marvash triumphierte. Das war unvereinbar mit ihrer Vorstellung eines gütigen, gerechten Heilands, der auserwählte Helden zur Erde sandte, um seine Geschöpfe vor der Zerstörung zu bewahren. Es musste noch eine andere Erklärung geben. All das, was jetzt geschah, musste einen Sinn haben, eine Art geheime Bedeutung, die es rechtfertigte, die Hoffnung noch nicht aufzugeben. Nach dem Tod ihres Mannes hatte ihr die Gewissheit, dass es diesen göttlichen Plan gab, die Kraft zum Weitermachen gegeben. Aber nun sah es anders aus. Nun zweifelte sie. Und die bange Frage, ob sie nicht das Pech hatte, in einer unvermeidbar zu Ende gehenden Epoche zu leben, ließ sie taumeln.
»Das ist unmöglich …«, murmelte sie.
»Wir werden weiter nach ihr suchen«, erklärte der junge Mann, der ihre Gedankengänge nicht ahnte. »Sie ist die Geweihte, und Thenaar wird sie zu uns zurückführen.«
»Hoffen wir es, aber wenn ihr sie gefunden habt, so ergreift sie nicht, sondern folgt ihr nur und berichtet mir dann alles, was sie tut. Und erst wenn die Vollversammlung es beschließen sollte, wird sie wieder gefangen genommen«, ordnete die Hohepriesterin an.
Der Jüngling antwortete nicht, schaute sie nur verblüfft an, so als habe er anderslautende Anweisungen erwartet. Und Theana konnte ihn verstehen: Im Grunde widerstrebte es auch ihr, auf Zeit zu spielen, während sich das Schicksal der Aufgetauchten Welt vor ihren Augen vollzog. Untätigkeit ist das Wesen des Glaubens, dachte sie zornig, bereute es jedoch augenblicklich angesichts all dessen, was sie damit infrage stellte. Sie konnte nicht anders handeln. Mit Adharas Gefangennahme hatte sie nichts anderes erreicht, als sie von ihrer Mission abzuhalten, und jeder weitere Fehler hätte fatal sein können.
Sie riss sich aus ihren Gedanken. »Und nun geh«, sagte sie.
Der Jüngling gehorchte, verschwand im Flur und zog die Tür hinter sich zu.
Theana atmete tief durch. Am liebsten wäre sie jetzt allein gewesen, doch gleich nebenan, im Tempel, warteten die Gläubigen auf sie. Seit ihrem Umzug nach Neu-Enawar war jeder einzelne Gottesdienst überfüllt gewesen. Die Angst vor dem Krieg, der von Westen her rasch immer näher rückte, raubte den Leuten den Seelenfrieden, und viele suchten nun ihr Heil im Gebet. Aber nicht nur das. Sie brachten Silber, Gold, sogar ihre eigenen Kinder zur Feier mit, um sie ihrem Gott darzubringen. Zwar bemühte sich Theana, ihnen auseinanderzusetzen, dass dies nicht Thenaars Wille war, doch die Sorge, den nächsten Tag vielleicht nicht mehr zu erleben, hatte zur Folge, dass sich die Hinterzimmer des Tempels mehr und mehr mit Opfergaben füllten für einen Gott, an den wahrscheinlich die meisten bis dahin nie geglaubt hatten.
Es war absurd, aber der Seuche schien das gelungen zu sein, woran sie selbst gescheitert war. Jahrzehntelang hatte sie sich vergeblich bemüht, ihre Religion im Volk zu verankern, und nun hatte eine Epidemie dafür gesorgt, dass die Leute zumindest einen Funken Frömmigkeit in sich entdeckten. Theana freute sich darüber, auch wenn es Verzweiflung war, die dies ausgelöst hatte.
Monatelang forschten sie und die Angehörigen der Ordensgemeinschaft des Blitzes nun schon nach einem Mittel, das der Seuche Einhalt gebieten konnte. Viele von ihnen waren gestorben bei dem Versuch, den Kranken beizustehen und gleichzeitig ihre Symptome zu ergründen. Dann, mehr durch Zufall, hatte es tatsächlich einen kleinen Fortschritt gegeben: Sie hatten erkannt, was der Seuche zugrunde lag. Zu verdanken hatten sie dies Theanas eigener außergewöhnlichen Fähigkeit, noch die kleinsten magischen Schwingungen zu erfassen. Bei einem Mann, der sich gerade angesteckt hatte, war ihr eine schwache, unterschwellige Aura aufgefallen, die nur einen einzigen Schluss zuließ: Diese Seuche ging auf ein Siegel zurück, einen Zauber also, der nur von jenem Magier wieder gebrochen werden konnte, der ihn auch bewirkt hatte. Weil diese ohnehin kaum wahrzunehmende Aura bei den Erkrankten schon nach kürzester Zeit ganz verschwand, war sie erst so spät entdeckt worden war. Unverzüglich hatte sie ihre Mitbrüder angewiesen, alle Bibliotheken nach Erläuterungen zu diesem Siegel zu durchforsten. Vielleicht würden sie auf diese Weise doch eine Möglichkeit finden, mit dem Zauber fertigzuwerden. Sollte die Rettung gelingen, war dies vielleicht der einzige Weg.
Gespenstisch still war es, als Theana langsam durch die Menge der Gläubigen zum Altar schritt. Angesichts der von banger Hoffnung erfüllten Blicke, die sich auf sie richteten, krampfte sich ihr der Magen zusammen. Sie mussten ein Gegenmittel finden. Und zwar schnell.
Dann breitete sie die Arme aus, und der Gottesdienst begann.
 
Als es an der Tür klopfte, half Dalia gerade Theana, das Priestergewand abzulegen.
Verärgert fuhr die junge Frau herum. »Ich habe dir doch ausdrücklich gesagt, dass du warten sollst«, rief sie.
Dennoch öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle erschien ein etwas schmuddelig aussehender Gnom. »Aber ich warte schon seit Stunden«, erklärte er, während er sich unterwürfig verneigte.
»Lass ihn, Dalia«, mischte sich Theana mit einem Lächeln ein, »es macht nichts, er soll ruhig eintreten. Ich komme zurecht, du kannst uns jetzt allein lassen.«
Sie bedeutete dem Gnom, Platz zu nehmen, und der trat nun schüchtern ein und setzte sich auf den Rand eines Stuhles. Er schien darum bemüht, möglichst wenig zu stören, aber es hatte auch etwas eigenartig Schmieriges, wie er sich die Hände rieb. Theana blickte ihn eine Weile an und trat dann auf ihn zu.
»Sprich nur!«
Der Gnom nuschelte etwas, so als wolle es ihm nicht gelingen, einen Anfang zu finden.
»Mein Name ist Uro, und ich bin nicht gekommen, um etwas für mich zu erbitten«, sagte er schließlich und blickte sie ehrfürchtig an, »sondern um Euch etwas zu geben, das Euch sicher wertvolle Hilfe leisten kann.«
»Was meinst du damit?«
Statt einer Antwort kramte er mit schwieligen, verschmutzten Händen in seinen Taschen und holte ein Fläschchen heraus, das eine dunkle Flüssigkeit enthielt. »Damit könnt Ihr die Seuche aufhalten.«
Theana erstarrte. Gewiss war der Gnom nicht der Erste, der behauptete, ein Heilmittel gefunden zu haben. Auf den Straßen wimmelte es von Scharlatanen, die Wunderdinge versprachen und zu atemberaubenden Preisen ihre Wässerchen anboten. Nicht wenige fielen darauf herein, und der Markt blühte. Doch bis zu ihr, der Hohepriesterin, hatte sich noch nie jemand vorgewagt.
»Auch meine Ordensgemeinschaft arbeitet emsig an einem Heilmittel, aber bis jetzt nur mit bescheidenem Erfolg. Wie kommst du zu der Annahme, dass dir gelungen ist, woran wir gescheitert sind?«
»Vielleicht war es nur Glück. Jedenfalls müsst Ihr wissen, dass ich nicht gekommen bin, um meine Entdeckung zu verkaufen und mit dem Leben oder Tod Unschuldiger Geschäfte zu betreiben.«
Sein Auftreten schien auf andere Absichten hinzudeuten, doch diese Worte bewogen Theana immerhin dazu, ihm weitere Fragen zu stellen.
»Bist du ein Priester?«
»Nein, ich habe mit Heilpflanzen gehandelt«, antwortete der Gnom. »Ich besaß einen Laden, bevor dieses Unglück begann, und habe gern ein wenig herumexperimentiert. Viele Mittel habe ich selbst hergestellt, aus Kräutern und natürlich mit einem Schuss Magie.«
»Und wie kamst du auf dieses Mittel hier?«, fragte Theana misstrauisch, wobei sie auf das Fläschchen deutete.
»Nun, auch meine Familie erkrankte, und ich versuchte alles, um sie zu retten, doch keine meiner Mixturen zeigte Wirkung. Meine Angehörigen starben, und auch ich blieb von der Seuche nicht verschont.« Der Gnom knöpfte sein Hemd auf und zeigte Theana einen großen schwarzen Fleck auf der Brust. »Da versuchte ich es mit dem letzten Mittel, das ich noch hergestellt hatte. Und was soll ich Euch sagen? Das Fieber sank und war innerhalb weniger Stunden ganz verschwunden, ebenso wie die Blutungen.«
Ein Verrückter. Das konnte nur ein Verrückter sein, der sich etwas zusammenfantasierte, um auf diese Weise als großer Retter berühmt zu werden.
»Und aus was besteht es?«
Der Gnom zögerte. »Es ist ein Aufguss verschiedener Kräuter«, sagte er dann, »mit einer Prise Roter Fingerhut.«
»Das ist ein starkes Gift.«
»Nicht, wenn man ihm den Saft entzieht.«
Immerhin schien er sich in der Kräuterkunde auszukennen.
»Und was noch?«
»Infiziertes Blut und ein Tropfen Ambrosia. Hier drinnen steckt, was mir von meinen Liebsten geblieben ist«, murmelte der Gnom.
Theana tat der Mann leid, aber wirklich glauben konnte sie ihm nicht. Möglicherweise war er selbst überzeugt, ein wirksames Mittel gefunden zu haben, war tatsächlich aber von ganz allein genesen.
»Ich verstehe Eure Zweifel, aber lasst es doch auf einen Versuch ankommen! Der Tod meiner Angehörigen wird nicht umsonst gewesen sein, wenn dieser Trank in die Seuchengebiete gelangt.«
Der Körper des Gnomen zitterte, und seine glasigen Augen schauten sie flehend an.
»Lass es hier stehen«, antwortete Theana nachsichtig.
Der Gnom kniete nieder und dankte ihr mit Tränen in den Augen. »Ihr gebt mir mein Leben zurück …«
»Lass doch … Ich bitte dich …«, wehrte Theana verlegen ab und versuchte, ihn hochzuziehen.
Doch der Gnom verneigte sich unaufhörlich weiter und stammelte ununterbrochen Dankesworte, und erst nach einer Weile bewegte er sich rückwärts aus dem Raum.
Als sie endlich allein war, betrachtete Theana das Fläschchen auf dem Tisch. Niemandem in der Ordensgemeinschaft war es gelungen, eine Arznei zu finden, und das obwohl sie schon seit Wochen Leichen öffneten und untersuchten, und auch sie selbst sich in dieser grauenhaften Arbeit aufrieb, die etwas Unmoralisches für sie hatte.
Mehr Schaden als die Seuche selbst kann es auch nicht anrichten, sagte sie sich.
Sie öffnete das Fläschchen und schnüffelte daran. Es roch angenehm, frisch und rein, nach Wald. Auch die Farbe wirkte vertrauenerweckend, es war ein sattes Grün, durchsetzt mit schwach glitzernden Blautönen. Es fiel ihr schwer, zu glauben, dass es auch wirkte, aber wenn es sich tatsächlich um ein Gegenmittel handelte, musste sie, trotz der Umstände, dafür sorgen, dass es auch angewandt wurde. Sie trug bereits schwer genug an der Last der vielen Opfer, die die Seuche schon gefordert hatte. Vielleicht hatten die Forscher der Ordensgemeinschaft, die so emsig an einer Lösung arbeiteten, doch irgendetwas Grundlegendes übersehen. Oder sie selbst, die Hohepriesterin, hatte darin versagt, den Brüdern das notwendige Zutrauen zu vermitteln, das für eine erfolgreiche Arbeit unerlässlich war. Nun goss sie einen Teil der Flüssigkeit in ein kleineres Gefäß um und betrachtete diese nachdenklich. Damit würden sie, wenn es funktionierte, vielleicht ein Dutzend Kranke heilen können. Mehr nicht.
Sie läutete, und augenblicklich erschien Dalia auf der Schwelle. »Zu Diensten, Herrin …«, sagte sie, während sie sich verneigte.
»Bring dieses Fläschchen zu Milo. Er soll die Substanz untersuchen. Hiermit aber«, fuhr sie fort und reichte Dalia das andere Gefäß, »sollen unverzüglich einige Kranke behandelt werden. Und vergiss nicht, mich über deren Zustand ständig auf dem Laufenden zu halten.«
Dalia blickte misstrauisch, als sie den Raum verließ. Theana konnte es ihr nicht verdenken. Aber wenn es schiefging, trug sie allein die Verantwortung.
Einen Versuch ist es auf alle Fälle wert, dachte sie mit einem verbitterten Lächeln, und wie noch nie zuvor in ihrem Leben fühlte sie sich fern von Thenaar.