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Der Ritus
Adrass hatte eine Reihe kleiner Gefäße und ein verblichenes Stück Pergament aus seinem Quersack hervorgeholt und kniete nun mit konzentrierter Miene vor ihr.
»Wo hast du das ganze Zeug eigentlich her?«, fragte Adhara mit trockener Kehle.
Er schrak auf. »Wir befinden uns im Krieg, und da ist es nicht schwer, organisches Material zu finden.«
»Es stammt also von Leichen?«
»Und wenn es so wäre? Du selbst bist eine Leiche, ich weiß nicht, was daran schlimm sein soll.«
Unwillkürlich warf Adhara einen Blick auf den Verband um ihre Hand. »Ich möchte nicht vom Tod anderer profitieren, damit ich leben kann«, erklärte sie.
Adrass hielt einen Moment in seinem Tun inne und blickte ihr fest in die Augen. »Aber du willst leben. Und du musst leben. So verlangt es deine Bestimmung, jenes Schicksal, für das du geschaffen wurdest. Ich versichere dir, du wirst keinen Frieden finden, bis du nicht das erfüllt hast, was dir aufgetragen ist. Und außerdem war es schon immer so, seit Anbeginn der Zeiten. Die einen sterben, damit andere leben können.«
Adhara erwiderte nichts, beobachtete nur, wie er weiter den Ritus vorbereitete, und fragte sich dabei, ob er ähnlich vorgegangen war, als er sie erschaffen hatte.
»So, wir können beginnen«, verkündete er dann.
Adhara spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. »Was muss ich tun?«
»Der Zauber wird anstrengend für dich. Danach wirst du dich sehr mitgenommen fühlen und lange schlafen. Deswegen streckst du dich am besten gleich auf dem Rücken aus.«
Sie gehorchte, wobei sich ihr Körper schwer wie Blei anfühlte. Adrass hatte für ihr Vorhaben einen geschützten Ort ausgesucht. Es handelte sich um eine Grotte mit einem niedrigen Eingang, deren Innenraum aber immerhin so bequem war, dass man sich leicht gebückt in ihr bewegen konnte. Adharas Blick war jetzt auf die moosüberzogene Decke über ihr gerichtet, die ihr bedrohlich tief zu sein schien, so als könne sie jeden Moment einstürzen und sie unter sich zermalmen. Jetzt spannte sich etwas um ihre Handgelenke. Sie blickte an sich hinunter und sah Adrass mit einigen Lederriemen herumhantieren. Das war zu viel. Sie schnellte hoch, packte ihn am Hals und schleuderte ihn gegen die Felswand.
»Was hast du vor?«, knurrte sie.
Die Augen des Mannes hatten sich angstvoll geweitet. »Es ist nur zu deinem Besten«, stammelte er und setzte dann, als er seine Fassung zurückgewonnen hatte, hinzu: »Du musst völlig stillhalten während des Ritus. Und wenn wir uns nicht beeilen, ist es um dich geschehen. Dann zerfällt dein Körper. Und überleg doch mal: Nach all dem, was ich auf mich genommen habe, würde ich da meine eigene Schöpfung vernichten wollen?«
Einige Augenblicke schauten sie sich nur an. Dann lockerte Adhara den Griff. Was Adrass sagte, leuchtete ihr ein: Sie war das Ergebnis jahrelanger Forschungsarbeit. Adrass würde niemals zulassen, dass ihr etwas geschah.
»Aber du weißt schon, was du tust?«
»Ja, ganz sicher«, antwortete er, wobei er entschlossen nickte.
Adhara legte sich wieder hin und leistete keinen Widerstand mehr. Sie ließ zu, dass der Mann sie an Händen und Füßen fesselte, woraufhin das Gelenk an der wunden Hand zu kribbeln begann. Bis dorthin hatten sich die Flecken zwar noch nicht ausgebreitet. Aber das wird nicht mehr lange dauern, dachte sie voller Entsetzen.
Endlich war er mit den Vorbereitungen fertig und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte ein magisches Feuer entfacht, das die Temperatur in der Höhle rasch hatte ansteigen lassen. Jetzt musste er sich konzentrieren, Ruhe bewahren. Einen Fehler durfte er sich nicht erlauben. Er schloss die Augen und dachte an die Worte seines Meisters.
Weder Seele noch Geist finden sich in solchen Körpern. Fahrt ihre Formen nach, und ihr werdet darin nichts anderes als eure Mission erkennen. Diese Geschöpfe sind Waffen, um die Welt zu retten, die in eure Hände gelegt wurden zu einem höheren Ziel.
Es waren Worte, die alle Erweckten verinnerlicht hatten. Adrass strich mit den Fingern über Adharas Körper und erkannte dabei nur noch Chandras Gestalt wieder, das Fleisch, aus dem Sheireen entstehen sollte. Jetzt fühlte er sich bereit.
Er warf die Essenzen ins Feuer, woraufhin augenblicklich ein dichter, aromatischer Rauch aufstieg. Als alles verbrannt war, schob er mit einem Löffel die Asche zusammen und füllte sie in ein Säckchen. Mit Bedacht hielt er es vom Gesicht fern und träufelte nun einige Tropfen einer dunklen Flüssigkeit darüber. Dann wandte er sich seinem Geschöpf zu.
Adhara spürte jede einzelne Körperfaser zittern. Entsetzen hatte sie gepackt, denn nun begann sie sich zu erinnern. An die überall in ihrem Fleisch steckenden Nadeln, an die Schmerzen, unter denen die magischen Ströme von Adrass’ Händen in ihren Körper hinübergeflossen waren. Unwillkürlich spannte sie ihre Armmuskeln an, und das wahnsinnige Verlangen, freizukommen, wurde noch stärker, unbeherrschbar.
»Ganz ruhig bleiben, du wirst gleich einschlafen und nichts mehr spüren«, sagte Adrass in sachlichem Ton, dem jedes Mitleid fehlte.
Er legte ihr das Säckchen auf den Mund und presste es ihr fest gegen die Lippen. Eine Träne rann Adhara über das Gesicht, dann wurde alles schwarz, und der Ritus begann.
 
Adrass betrachtete den schlafenden Körper, und eine Spur Wehmut kam in ihm auf. Es war, als tauche er noch einmal in jene Zeit ein, als er sie geschaffen hatte, eine ruhmreiche Phase in seinem sonst unauffälligen, bedeutungslosen Leben. Damals war er nicht allein, sondern wurde von der Kraft einer ganzen Sekte gestützt, die ihm ein Ziel vorgab, an das zu glauben sich lohnte.
Er entspannte sich wieder, während er die Instrumente neben sich zurechtlegte. Als er aus dem Refugium der Erweckten so eilig fliehen musste, hatte er nicht mehr alle seine Werkzeuge, aber doch eine ganze Reihe davon zusammenraffen können. Und die würden ihm jetzt wohl reichen. Sie waren eingeschwärzt von dem Feuer, das San gelegt hatte, doch im Schein der magischen Flammen funkelten sie auch noch rot von Blut.
Als Erstes nahm er eine dünne gläserne Kanüle mit einer metallenen Spitze zur Hand. Damit saugte er eine durchsichtige Flüssigkeit aus einem Fläschchen und spritzte sie in Adharas Hals. Langsam drang die Elfenlymphe in ihren Körper ein, löste aber nicht mehr als ein leichtes Zucken der Glieder aus. Nun war das Nymphenblut an der Reihe, das er in die pulsierende Schlagader injizierte. Er hatte es sich unterwegs besorgt, als er zufällig der Ermordung einer unschuldigen Nymphe durch zwei Wanderer beiwohnte. Weil Nymphen sehr schnell verwesten, sich in klares Wasser auflösten, das augenblicklich im Erdboden versickerte, hatte er schnell handeln müssen. Aber er war geschickt genug gewesen und hatte sich einen ordentlichen Vorrat zulegen können. Dieses Mal reagierte Adharas Körper mit heftigen Krämpfen, so dass Adrass gezwungen war, ihn mit beiden Armen festzuhalten, während das Blut durch das Netz der Adern strömte und sie bläulich aufleuchten ließ. Als sich die Krämpfe gelegt hatten, griff er zu dem Gefäß neben sich und holte ein Stück Menschenfleisch hervor.
Es hatte ihm den Magen umgedreht, als er die Leiche hatte sezieren müssen. In den Laboren der Sekte war das noch anders gewesen. Kühl, mit chirurgischer Abgeklärtheit hatten die Erweckten dort ihre Arbeit verrichtet, während man sich im Krieg kaum dem Grauen angesichts aufgerissener Leiber und abgetrennter Gliedmaßen entziehen konnte.
Er setzte Chandras Körper auf, so dass sie nun mit dem Rücken an der Felswand lehnte. Dann griff er zu einigen Kräutern und führte sie ihr unter der Nase entlang. Da öffnete sie die Augen. Leere Augen, denen jeder Ausdruck fehlte, die Augen, in die er über Monate während seiner Experimente geblickt hatte.
»Gut gemacht«, lobte er sie, obwohl sie nicht bei sich war. Aber es gehörte zur Konditionierung und war notwendig, damit sie ihm widerstandslos gehorchte.
Dann fütterte er sie mit dem Fleisch, Stückchen für Stückchen, indem er ihr bei jedem Bissen den Hals massierte, um sie schlucken zu lassen. Als der Behälter leer war, umfasste er ihre Schultern und legte sie wieder hin. Nun blieben nur noch die Zauber zu vollführen. Dabei handelte es sich um die gleichen Formeln, wie sie diese Verräterin Theana in ihrer Heilkunst praktizierte, nur waren sie für seine Zwecke an die Rituale der Schwarzen Magie angepasst worden.
Er sammelte sich einen Moment und griff dann zu einer Feder, die er in eine schwarze Flüssigkeit tauchte. Danach setzte er die Spitze an Chandras Unterleib an und begann, ihr verschlungene Symbole in die Haut zu ritzen, die sich aber, während er die Formeln sprach, sofort wieder schloss. Da kam Bewegung in Chandras Körper, sie schüttelte sich, und ein unterdrücktes Stöhnen kam ihr über die Lippen. Sie litt, aber das Schlimmste stand ihr erst noch bevor.
 
Das Nichts belebte sich. Jene Erscheinungen, die Adhara zunächst, während Adrass sie in Schlaf versetzte, nur undeutlich gespürt hatte, nahmen Gestalt an. Ungeheuer, aus dem Dunkel geboren, bedrängten sie von allen Seiten, stießen an ihr schwaches, schmerzendes Fleisch. Plötzlich wurde es hell. Die Augen aufgerissen, starrte sie zur Höhlendecke, aber sie konnte weder die Pupillen bewegen, noch die Lider schließen. Das Gefühl zu verbrennen überkam sie, doch als sie vor Schmerz heulen wollte, merkte sie, dass ihr nicht einmal mehr der kleinste Muskel gehorchte. Sie war in sich selbst gefangen und konnte nur machtlos ihrer Verwandlung beiwohnen. Der Schmerz, den die unzähligen, ihre Glieder pressenden Finger hervorriefen, beherrschte sie immer mehr. Und da erinnerte sie sich. Es war wie eine Rückkehr in die Vergangenheit, in jene übelriechende Zelle, wo Adrass sie geschaffen hatte. Es war die Erinnerung an jenen ersten Atemzug, der ihre Lunge fast zerrissen hätte, an jenes Feuer, das ihr Fleisch erhitzte, ohne es zu verbrennen, an das Blut, das wie kochende Lava durch ihre Adern strömte und ihren Körper wie mit einer zähen Masse ausfüllte, ohne dass sie sich hätte dagegen wehren können. Und an diesen Mann neben ihr, dessen Atemzüge ihr wohlvertraut waren. Adrass war bei ihr und besaß die Macht, zu entscheiden, ob das, was sie war, leben oder sterben sollte. Denn Chandra nahm nun Gestalt an, während Adhara ins Nichts hinüberglitt, um ihr den Platz frei zu machen.
Eine Ewigkeit dauerte die Prozedur, dann endlich erlosch das Licht, und alles wurde finster um sie herum. Schatten verschluckten die Erscheinungen, während sich eine dröhnende Stille breitmachte. Sie war nicht mehr Adhara, aber auch nicht Chandra, das Sechste Geschöpf. Nichts war sie, und das war das Schlimmste, das man ihr hatte antun können.
 
Warmes Tageslicht weckte die Feuerkämpferin. Jede einzelne Körperfaser schmerzte und wollte ihr immer noch kaum gehorchen. Adhara schaffte es, sich auf die Seite zu legen und die Beine anzuziehen. Immerhin konnte sie ihn noch spüren, ihren Körper, und mit der Hand fuhr sie seine Formen nach. Es war, als entdecke sie ihn ganz neu. Aber es fehlte nichts. Und geblieben waren auch keine Spuren von dieser Nacht im Zeichen des Wahnsinns und des Feuers.
Ein angenehmer frischer Duft stieg ihr in die Nase, und langsam schlug sie die Augen auf.
»Wie fühlst du dich?« Einen Becher mit dampfender Brühe in den Händen stand Adrass neben ihr.
Seine Anwesenheit brachte sie vollständig in die Wirklichkeit zurück, und sofort krampften sich ihr die Eingeweide zusammen. Es war immer noch alles so wie vorher.
»Du musst etwas essen. Zwei Tage und zwei Nächte hast du geschlafen, und du hattest hohes Fieber. Deswegen fühlst du dich so schwach«, fügte er hinzu, während er ihr dabei half, sich aufzurichten.
»Lass das«, schnaubte Adhara ihn an. Sie wollte es allein schaffen. Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, trank sie mit gierigen Schlucken und stellte fest, dass ihr Peiniger Recht hatte. Sie war ausgehungert – und er in der Lage, alles vorherzusehen, was sie tat.
Als sie den Becher leergetrunken hatte, deutete Adrass auf ihre Hand. »Schau sie dir mal an.«
Die Hand. Der Grund, aus dem sie sich dieser Tortur unterworfen hatte. Zunächst ein flüchtiger Blick, und vor Überraschung entglitt ihr der Becher. Der kleine Finger hatte wieder eine blassrosa Farbe angenommen, sah nicht unbedingt gesund, aber fast normal aus. Sie griff ihn mit den Fingern der anderen Hand und merkte, dass er nicht mehr taub war.
Der Rest allerdings war noch schwarz und schmerzte, aber immerhin, es war ein kleiner Erfolg.
»Wir müssen versuchen, den Krankheitsverlauf möglichst bald ganz zu stoppen. Dann hast du gute Aussichten, deine Hand wieder ganz normal gebrauchen zu können.«
Adhara konnte es immer noch nicht glauben. Sie starrte auf den kleinen Finger und bewegte ihn hin und her, so als habe sie ihn noch nie vorher gesehen. Nun war es wieder ihr Finger.
»Wir müssen nach Makrat aufbrechen, die Zeit drängt.«
In Adharas Blick stand Dankbarkeit, als sie zu ihm aufsah. Doch jedes Zeichen der Anerkennung wich, als das Bild dieses Mannes, der so ruhig mit ihr sprach, von der Erinnerung an den Erweckten überlagert wurde, der über einen so langen Zeitraum mit ihrem Leben herumexperimentiert hatte.
Adhara kauerte sich zusammen, und so lag sie da, die Knie bis ans Kinn angezogen und den Blick starr auf ihren Kerkermeister und Schöpfer gerichtet.
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