14
Der Ritus
Adrass hatte eine Reihe kleiner Gefäße und
ein verblichenes Stück Pergament aus seinem Quersack hervorgeholt
und kniete nun mit konzentrierter Miene vor ihr.
»Wo hast du das ganze Zeug eigentlich her?«, fragte
Adhara mit trockener Kehle.
Er schrak auf. »Wir befinden uns im Krieg, und da
ist es nicht schwer, organisches Material zu finden.«
»Es stammt also von Leichen?«
»Und wenn es so wäre? Du selbst bist eine Leiche,
ich weiß nicht, was daran schlimm sein soll.«
Unwillkürlich warf Adhara einen Blick auf den
Verband um ihre Hand. »Ich möchte nicht vom Tod anderer
profitieren, damit ich leben kann«, erklärte sie.
Adrass hielt einen Moment in seinem Tun inne und
blickte ihr fest in die Augen. »Aber du willst leben. Und du musst
leben. So verlangt es deine Bestimmung, jenes Schicksal, für das du
geschaffen wurdest. Ich versichere dir, du wirst keinen Frieden
finden, bis du nicht das erfüllt hast, was dir aufgetragen ist. Und
außerdem war es
schon immer so, seit Anbeginn der Zeiten. Die einen sterben, damit
andere leben können.«
Adhara erwiderte nichts, beobachtete nur, wie er
weiter den Ritus vorbereitete, und fragte sich dabei, ob er ähnlich
vorgegangen war, als er sie erschaffen hatte.
»So, wir können beginnen«, verkündete er
dann.
Adhara spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. »Was
muss ich tun?«
»Der Zauber wird anstrengend für dich. Danach wirst
du dich sehr mitgenommen fühlen und lange schlafen. Deswegen
streckst du dich am besten gleich auf dem Rücken aus.«
Sie gehorchte, wobei sich ihr Körper schwer wie
Blei anfühlte. Adrass hatte für ihr Vorhaben einen geschützten Ort
ausgesucht. Es handelte sich um eine Grotte mit einem niedrigen
Eingang, deren Innenraum aber immerhin so bequem war, dass man sich
leicht gebückt in ihr bewegen konnte. Adharas Blick war jetzt auf
die moosüberzogene Decke über ihr gerichtet, die ihr bedrohlich
tief zu sein schien, so als könne sie jeden Moment einstürzen und
sie unter sich zermalmen. Jetzt spannte sich etwas um ihre
Handgelenke. Sie blickte an sich hinunter und sah Adrass mit
einigen Lederriemen herumhantieren. Das war zu viel. Sie schnellte
hoch, packte ihn am Hals und schleuderte ihn gegen die
Felswand.
»Was hast du vor?«, knurrte sie.
Die Augen des Mannes hatten sich angstvoll
geweitet. »Es ist nur zu deinem Besten«, stammelte er und setzte
dann, als er seine Fassung zurückgewonnen hatte, hinzu: »Du musst
völlig stillhalten während des
Ritus. Und wenn wir uns nicht beeilen, ist es um dich geschehen.
Dann zerfällt dein Körper. Und überleg doch mal: Nach all dem, was
ich auf mich genommen habe, würde ich da meine eigene Schöpfung
vernichten wollen?«
Einige Augenblicke schauten sie sich nur an. Dann
lockerte Adhara den Griff. Was Adrass sagte, leuchtete ihr ein: Sie
war das Ergebnis jahrelanger Forschungsarbeit. Adrass würde niemals
zulassen, dass ihr etwas geschah.
»Aber du weißt schon, was du tust?«
»Ja, ganz sicher«, antwortete er, wobei er
entschlossen nickte.
Adhara legte sich wieder hin und leistete keinen
Widerstand mehr. Sie ließ zu, dass der Mann sie an Händen und Füßen
fesselte, woraufhin das Gelenk an der wunden Hand zu kribbeln
begann. Bis dorthin hatten sich die Flecken zwar noch nicht
ausgebreitet. Aber das wird nicht mehr lange dauern, dachte
sie voller Entsetzen.
Endlich war er mit den Vorbereitungen fertig und
wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte ein magisches
Feuer entfacht, das die Temperatur in der Höhle rasch hatte
ansteigen lassen. Jetzt musste er sich konzentrieren, Ruhe
bewahren. Einen Fehler durfte er sich nicht erlauben. Er schloss
die Augen und dachte an die Worte seines Meisters.
Weder Seele noch Geist finden sich in solchen
Körpern. Fahrt ihre Formen nach, und ihr werdet darin nichts
anderes als eure Mission erkennen. Diese Geschöpfe sind Waffen, um
die Welt zu retten, die in eure Hände gelegt wurden zu einem
höheren Ziel.
Es waren Worte, die alle Erweckten verinnerlicht
hatten. Adrass strich mit den Fingern über Adharas Körper
und erkannte dabei nur noch Chandras Gestalt wieder, das Fleisch,
aus dem Sheireen entstehen sollte. Jetzt fühlte er sich
bereit.
Er warf die Essenzen ins Feuer, woraufhin
augenblicklich ein dichter, aromatischer Rauch aufstieg. Als alles
verbrannt war, schob er mit einem Löffel die Asche zusammen und
füllte sie in ein Säckchen. Mit Bedacht hielt er es vom Gesicht
fern und träufelte nun einige Tropfen einer dunklen Flüssigkeit
darüber. Dann wandte er sich seinem Geschöpf zu.
Adhara spürte jede einzelne Körperfaser zittern.
Entsetzen hatte sie gepackt, denn nun begann sie sich zu erinnern.
An die überall in ihrem Fleisch steckenden Nadeln, an die
Schmerzen, unter denen die magischen Ströme von Adrass’ Händen in
ihren Körper hinübergeflossen waren. Unwillkürlich spannte sie ihre
Armmuskeln an, und das wahnsinnige Verlangen, freizukommen, wurde
noch stärker, unbeherrschbar.
»Ganz ruhig bleiben, du wirst gleich einschlafen
und nichts mehr spüren«, sagte Adrass in sachlichem Ton, dem jedes
Mitleid fehlte.
Er legte ihr das Säckchen auf den Mund und presste
es ihr fest gegen die Lippen. Eine Träne rann Adhara über das
Gesicht, dann wurde alles schwarz, und der Ritus begann.
Adrass betrachtete den schlafenden Körper, und
eine Spur Wehmut kam in ihm auf. Es war, als tauche er noch einmal
in jene Zeit ein, als er sie geschaffen hatte, eine ruhmreiche
Phase in seinem sonst unauffälligen, bedeutungslosen Leben. Damals
war er nicht allein, sondern
wurde von der Kraft einer ganzen Sekte gestützt, die ihm ein Ziel
vorgab, an das zu glauben sich lohnte.
Er entspannte sich wieder, während er die
Instrumente neben sich zurechtlegte. Als er aus dem Refugium der
Erweckten so eilig fliehen musste, hatte er nicht mehr alle seine
Werkzeuge, aber doch eine ganze Reihe davon zusammenraffen können.
Und die würden ihm jetzt wohl reichen. Sie waren eingeschwärzt von
dem Feuer, das San gelegt hatte, doch im Schein der magischen
Flammen funkelten sie auch noch rot von Blut.
Als Erstes nahm er eine dünne gläserne Kanüle mit
einer metallenen Spitze zur Hand. Damit saugte er eine
durchsichtige Flüssigkeit aus einem Fläschchen und spritzte sie in
Adharas Hals. Langsam drang die Elfenlymphe in ihren Körper ein,
löste aber nicht mehr als ein leichtes Zucken der Glieder aus. Nun
war das Nymphenblut an der Reihe, das er in die pulsierende
Schlagader injizierte. Er hatte es sich unterwegs besorgt, als er
zufällig der Ermordung einer unschuldigen Nymphe durch zwei
Wanderer beiwohnte. Weil Nymphen sehr schnell verwesten, sich in
klares Wasser auflösten, das augenblicklich im Erdboden
versickerte, hatte er schnell handeln müssen. Aber er war geschickt
genug gewesen und hatte sich einen ordentlichen Vorrat zulegen
können. Dieses Mal reagierte Adharas Körper mit heftigen Krämpfen,
so dass Adrass gezwungen war, ihn mit beiden Armen festzuhalten,
während das Blut durch das Netz der Adern strömte und sie bläulich
aufleuchten ließ. Als sich die Krämpfe gelegt hatten, griff er zu
dem Gefäß neben sich und holte ein Stück Menschenfleisch
hervor.
Es hatte ihm den Magen umgedreht, als er die Leiche
hatte sezieren müssen. In den Laboren der Sekte war das noch anders
gewesen. Kühl, mit chirurgischer Abgeklärtheit hatten die Erweckten
dort ihre Arbeit verrichtet, während man sich im Krieg kaum dem
Grauen angesichts aufgerissener Leiber und abgetrennter Gliedmaßen
entziehen konnte.
Er setzte Chandras Körper auf, so dass sie nun mit
dem Rücken an der Felswand lehnte. Dann griff er zu einigen
Kräutern und führte sie ihr unter der Nase entlang. Da öffnete sie
die Augen. Leere Augen, denen jeder Ausdruck fehlte, die Augen, in
die er über Monate während seiner Experimente geblickt hatte.
»Gut gemacht«, lobte er sie, obwohl sie nicht bei
sich war. Aber es gehörte zur Konditionierung und war notwendig,
damit sie ihm widerstandslos gehorchte.
Dann fütterte er sie mit dem Fleisch, Stückchen für
Stückchen, indem er ihr bei jedem Bissen den Hals massierte, um sie
schlucken zu lassen. Als der Behälter leer war, umfasste er ihre
Schultern und legte sie wieder hin. Nun blieben nur noch die Zauber
zu vollführen. Dabei handelte es sich um die gleichen Formeln, wie
sie diese Verräterin Theana in ihrer Heilkunst praktizierte, nur
waren sie für seine Zwecke an die Rituale der Schwarzen Magie
angepasst worden.
Er sammelte sich einen Moment und griff dann zu
einer Feder, die er in eine schwarze Flüssigkeit tauchte. Danach
setzte er die Spitze an Chandras Unterleib an und begann, ihr
verschlungene Symbole in die Haut zu ritzen, die sich aber, während
er die Formeln sprach, sofort wieder schloss. Da kam Bewegung in
Chandras
Körper, sie schüttelte sich, und ein unterdrücktes Stöhnen kam ihr
über die Lippen. Sie litt, aber das Schlimmste stand ihr erst noch
bevor.
Das Nichts belebte sich. Jene Erscheinungen, die
Adhara zunächst, während Adrass sie in Schlaf versetzte, nur
undeutlich gespürt hatte, nahmen Gestalt an. Ungeheuer, aus dem
Dunkel geboren, bedrängten sie von allen Seiten, stießen an ihr
schwaches, schmerzendes Fleisch. Plötzlich wurde es hell. Die Augen
aufgerissen, starrte sie zur Höhlendecke, aber sie konnte weder die
Pupillen bewegen, noch die Lider schließen. Das Gefühl zu
verbrennen überkam sie, doch als sie vor Schmerz heulen wollte,
merkte sie, dass ihr nicht einmal mehr der kleinste Muskel
gehorchte. Sie war in sich selbst gefangen und konnte nur machtlos
ihrer Verwandlung beiwohnen. Der Schmerz, den die unzähligen, ihre
Glieder pressenden Finger hervorriefen, beherrschte sie immer mehr.
Und da erinnerte sie sich. Es war wie eine Rückkehr in die
Vergangenheit, in jene übelriechende Zelle, wo Adrass sie
geschaffen hatte. Es war die Erinnerung an jenen ersten Atemzug,
der ihre Lunge fast zerrissen hätte, an jenes Feuer, das ihr
Fleisch erhitzte, ohne es zu verbrennen, an das Blut, das wie
kochende Lava durch ihre Adern strömte und ihren Körper wie mit
einer zähen Masse ausfüllte, ohne dass sie sich hätte dagegen
wehren können. Und an diesen Mann neben ihr, dessen Atemzüge ihr
wohlvertraut waren. Adrass war bei ihr und besaß die Macht, zu
entscheiden, ob das, was sie war, leben oder sterben sollte. Denn
Chandra nahm nun Gestalt an, während
Adhara ins Nichts hinüberglitt, um ihr den Platz frei zu
machen.
Eine Ewigkeit dauerte die Prozedur, dann endlich
erlosch das Licht, und alles wurde finster um sie herum. Schatten
verschluckten die Erscheinungen, während sich eine dröhnende Stille
breitmachte. Sie war nicht mehr Adhara, aber auch nicht Chandra,
das Sechste Geschöpf. Nichts war sie, und das war das Schlimmste,
das man ihr hatte antun können.
Warmes Tageslicht weckte die Feuerkämpferin. Jede
einzelne Körperfaser schmerzte und wollte ihr immer noch kaum
gehorchen. Adhara schaffte es, sich auf die Seite zu legen und die
Beine anzuziehen. Immerhin konnte sie ihn noch spüren, ihren
Körper, und mit der Hand fuhr sie seine Formen nach. Es war, als
entdecke sie ihn ganz neu. Aber es fehlte nichts. Und geblieben
waren auch keine Spuren von dieser Nacht im Zeichen des Wahnsinns
und des Feuers.
Ein angenehmer frischer Duft stieg ihr in die Nase,
und langsam schlug sie die Augen auf.
»Wie fühlst du dich?« Einen Becher mit dampfender
Brühe in den Händen stand Adrass neben ihr.
Seine Anwesenheit brachte sie vollständig in die
Wirklichkeit zurück, und sofort krampften sich ihr die Eingeweide
zusammen. Es war immer noch alles so wie vorher.
»Du musst etwas essen. Zwei Tage und zwei Nächte
hast du geschlafen, und du hattest hohes Fieber. Deswegen fühlst du
dich so schwach«, fügte er hinzu, während er ihr dabei half, sich
aufzurichten.
»Lass das«, schnaubte Adhara ihn an. Sie wollte es
allein schaffen. Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, trank sie
mit gierigen Schlucken und stellte fest, dass ihr Peiniger Recht
hatte. Sie war ausgehungert – und er in der Lage, alles
vorherzusehen, was sie tat.
Als sie den Becher leergetrunken hatte, deutete
Adrass auf ihre Hand. »Schau sie dir mal an.«
Die Hand. Der Grund, aus dem sie sich dieser Tortur
unterworfen hatte. Zunächst ein flüchtiger Blick, und vor
Überraschung entglitt ihr der Becher. Der kleine Finger hatte
wieder eine blassrosa Farbe angenommen, sah nicht unbedingt gesund,
aber fast normal aus. Sie griff ihn mit den Fingern der anderen
Hand und merkte, dass er nicht mehr taub war.
Der Rest allerdings war noch schwarz und schmerzte,
aber immerhin, es war ein kleiner Erfolg.
»Wir müssen versuchen, den Krankheitsverlauf
möglichst bald ganz zu stoppen. Dann hast du gute Aussichten, deine
Hand wieder ganz normal gebrauchen zu können.«
Adhara konnte es immer noch nicht glauben. Sie
starrte auf den kleinen Finger und bewegte ihn hin und her, so als
habe sie ihn noch nie vorher gesehen. Nun war es wieder ihr
Finger.
»Wir müssen nach Makrat aufbrechen, die Zeit
drängt.«
In Adharas Blick stand Dankbarkeit, als sie zu ihm
aufsah. Doch jedes Zeichen der Anerkennung wich, als das Bild
dieses Mannes, der so ruhig mit ihr sprach, von der Erinnerung an
den Erweckten überlagert wurde, der über
einen so langen Zeitraum mit ihrem Leben herumexperimentiert
hatte.
Adhara kauerte sich zusammen, und so lag sie da,
die Knie bis ans Kinn angezogen und den Blick starr auf ihren
Kerkermeister und Schöpfer gerichtet.