20
Geschöpfe des Abgrunds
Adhara fuhr aus dem Schlaf hoch. Zunächst wusste sie nicht, wo sie sich befand, denn die Dunkelheit war so undurchdringlich, dass sie einen Moment lang glaubte, die Augen noch geschlossen zu haben. Und in diesem Schwarz, das sie umgab, hörte sie nur ein anhaltendes Geräusch, ein kehliges, schweres Atmen wie ein unterdrücktes Röcheln. Es dauerte eine Weile, bis sie ganz bei sich war. Dann entzündete sie rasch eine magische Fackel, in deren Schein nun Adrass auftauchte. Sein Anblick traf sie wie ein Blitzschlag.
Sie richtete sich auf und sah ihn genauer an. Heftige Zuckungen schüttelten seinen Leib, und er rang nach Luft, so als wolle sich seine Lunge nicht mehr füllen. Die Fingernägel seiner Hände, die schlaff am Boden lagen, waren blutunterlaufen.
Adhara wusste sofort Bescheid. Jetzt gab es keine Zweifel mehr: Adrass hatte sich mit der Seuche angesteckt. Eine Weile betrachtete sie ihn reglos, beinahe fasziniert von seinem Leid. Diese Hände, die sie berührt, ja geschaffen und gequält hatten, würden bald selbst im Todeskampf zucken. Eigentlich hätte sie sich freuen müssen, denn schließlich war Adrass ihr Feind, mehr noch, der Feind schlechthin. Aber das gelang ihr nicht. Stattdessen empfand sie ein unterschwelliges Mitleid mit diesem Mann, der dort vor ihr auf dem Boden lag, wobei sie sich selbst über dieses Gefühl ärgerte, das über den rechtmäßigen Wunsch, dass er nicht sterben möge, damit er sie noch retten konnte, hinausging. Sosehr sie ihn auch hassen mochte, sosehr es sie auch drängte, ihn seinem Schicksal zu überlassen, sah sie andererseits in ihm auch eine fühlende Kreatur, die litt, genauso wie sie selbst.
Als Adrass erwachte und langsam die Augen aufschlug, schreckte sie aus ihren Gedanken auf und beugte sich zu ihm hinab.
Einen Moment lang starrte Adrass zur Decke und versuchte dann, sich aufzusetzen.
Mit einer Hand auf seiner Brust hielt sie ihn sanft davon ab. »Bleib liegen. Dir geht’s wirklich nicht gut.«
Unwillkürlich wollte er ihre Hand wegschieben, erstarrte aber einen Moment, weil er seine blutunterlaufenen Nägel sah. Ein leichter Schauer durchfuhr ihn, doch hatte er sich sofort wieder in der Gewalt und versuchte, auf die Beine zu kommen. »Unsinn«, knurrte er.
»Du hast doch deine Fingernägel gesehen und weißt, was das bedeutet.«
Er schaute kurz zu ihr auf, und Adhara meinte, in diesem Blick eine Art Urangst zu erkennen, eben jene, die auch sie damals am Fluss überfallen hatte.
»Wir müssen los, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Nein. Du hast Fieber. So kannst du nicht mehr weiter.«
Adrass tat so, als habe er sie nicht gehört, beugte sich schwerfällig über seinen Quersack, kramte darin herum und holte schließlich ein verschrumpeltes Äpfelchen hervor. »Das können wir uns teilen. Unterwegs.«
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«
»Und ich habe gesagt, wir gehen weiter«, fuhr er sie an.
Adhara war sprachlos. Soll er doch sehen, wie er zurechtkommt, dachte sie verärgert. Soll er doch sterben, wo er will. Verloren ist er auf alle Fälle. Sie nahm den Apfel entgegen, aß die Hälfte und wollte ihm den Rest zuwerfen. Doch er hatte sich schon in Bewegung gesetzt und war ein Stück vorausgegangen.
 
So stiegen sie immer weiter hinab. Wie ein Trichter zog sich die Bibliothek mit jedem Stockwerk enger zusammen, während die Luft wärmer und wärmer wurde. Mittlerweile hörten sie ein seltsames Gluckern, das aus den tiefsten Tiefen der Erde aufstieg und den weiten Raum erfüllte. Die bunten Mosaike der oberen Etagen waren mittlerweile von aufwendigen Stuckaturen abgelöst worden, die zu bedrückend wirkenden Darstellungen von Göttern und Ungeheuern jeder Art verflochten waren. Eine unbekannte und mittlerweile nicht mehr zu entschlüsselnde Welt entfaltete sich vor ihnen. Schimmel überall und Milchgewächse. Von dieser Pflanze hatte Adhara bereits gehört. Im Land der Nacht war sie weit verbreitet als eine der wenigen, die überhaupt dort wachsen konnten. Sie hatte fleischige Blätter von einem düsteren Blau sowie kugelförmige Blütenstände, die, wie von einer inneren Lichtquelle gespeist, bläulich und leicht gespenstisch leuchteten. Die ersten Ranken, die sie sahen, wuchsen noch sehr vereinzelt, und es war verwunderlich, wie sie aus dem Erdboden hatten treiben können. Je tiefer sie aber kamen, desto häufiger wurden sie. Sie zeichneten Muster an die Decke, wanden sich um Säulen, krochen in Schlangenlinien über den Fußboden. Zuweilen konnte Adhara nicht verhindern, dass sie Blüten zertrat, woraufhin ein phosphoreszierender Saft austrat, der an den Tod erinnerte. Sie waren längst nicht mehr in der Abteilung GESCHICHTE, sondern lasen auf den Tafeln über den Eingängen andere Beschriftungen, EPIK, MYTHOLOGIE, HELDENSAGEN … Immer noch ging es weiter hinunter, aber irgendwann war Adrass zu schwach, sein magisches Feuer ausreichend hell glimmen zu lassen. Nun musste Adhara vorausgehen und ihnen den Weg leuchten. Vor ihr lag ein immer noch unendlich langer Gang, während sie hinter sich Adrass’ schleppende Schritte hörte. Da ein Schlag. Adhara fuhr herum und sah, dass er gestürzt war. Verzweifelt suchten seine Hände nach einem Halt, schafften es aber noch nicht einmal, eine Milchgewächsranke fest zu greifen. Doch wo seine Finger abglitten, ließen sie rotes Blut auf dem Blau der Pflanzen zurück.
»Hilf mir«, flehte er, während er kraftlos den Blick hob.
Groß war die Versuchung, diesen Mann dort allein sterben zu lassen, unmöglich aber, ihr nachzugeben. Adhara ließ die Leuchtkugel los, die sie bis zu diesem Moment in der Hand gehalten hatte, so dass sie in der Luft schwebte. Dann fasste sie ihren Begleiter unter und lud ihn sich auf die Schultern. Es geschah zum ersten Mal, dass sie seinen Leib berührte, ohne mit ihm zu kämpfen oder von ihm behandelt zu werden, und sie spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. So merkwürdig, fast unnatürlich kam es ihr vor. Sie trug ihn in eine der seitlich abgehenden Nischen. Auf der Tafel über dem Eingang stand: ERZÄHLUNGEN.
Es handelte sich um einen rechteckigen Raum, der rundum mit Platten aus schwarzem Kristall verkleidet war. Das Licht ihrer Leuchtkugel brach sich in unzähligen Reflexen. Einst mussten die Wände glatt wie Spiegel gewesen sein, und teilweise war der frühere Glanz erhalten geblieben, nur hatte sich der Staub der Jahrhunderte darauf abgelagert. Hier legte Adhara den kranken Adrass zwischen den mit Büchern vollgestopften Regalen nieder.
»Du brauchst Ruhe, um wieder zu Kräften zu kommen. In diesem Zustand kannst du unmöglich weiter«, erklärte sie.
Adrass stöhnte leise, während sie sich nun einen Stofffetzen von ihrem Hemd abriss, den sie mit Wasser aus ihrer Feldflasche tränkte. Es war nicht leicht, dies nur mit einer Hand, der rechten, zu bewerkstelligen. Denn ihre Linke war mittlerweile praktisch taub, und nur mit größter Mühe konnte sie noch ein wenig die Finger bewegen.
Adrass war von ihrer Idee nicht begeistert. »Das Wasser wirst du später noch brauchen …«, murmelte er.
»Aber du brauchst es jetzt«, erwiderte sie.
Sie legte ihm den Lappen auf die Stirn. Sie glühte. Und auch die Blutungen hatten eingesetzt. Adrass’ Mund war rundum rot von Blut. Die Seuche hatte ihn im Griff und schritt rasch voran.
Adhara wusste nicht, wie sie Adrass helfen konnte. Wahrscheinlich gab es tatsächlich keine Behandlung, mit der das Schlimmste zu verhindern war. Wer die Seuche überlebte, hatte zufällig Glück gehabt, aber sie schaffte es im Augenblick nicht, auf dieses Glück zu hoffen.
Viele Stunden wachte sie bei ihm, legte ihm immer wieder den frisch getränkten Lappen auf die Stirn, um das Fieber zu senken. Adrass’ Gesicht sah jetzt noch eingefallener aus, ein eindeutiges Zeichen, dass der Morbus unaufhaltsam seinen Verlauf nahm. Nur das Gluckern des Wassers, das, je tiefer sie kamen, immer deutlicher vernehmbar war, unterbrach die vollkommene Stille in der Bibliothek.
»Zieh weiter … lass mich hier zurück«, röchelte Adrass.
»Du weißt genau, dass ich das nicht kann.«
»Du musst
»Aber du bist der Einzige, der mich retten kann. Das hast du geschworen, und ich will nicht sterben.«
Er öffnete die Augen, die von winzigen Schweißperlen umrandet waren. »Es gibt da einen Mann, nicht hier drinnen … draußen … Mein Meister, bevor ich den Erweckten beitrat.« Er holte tief Luft, hustete, versuchte, zu Stimme zu kommen. »Er … kann dich retten … wenn du ihm das Buch bringst…«
»Und wo finde ich dieses Buch?«
Jetzt wandte Adrass ihr das Gesicht zu und deutete ein Lächeln an. »Wie gesagt … in dem Teil der Bibliothek, den ich nicht kenne. Aber du kannst es schaffen, dorthin zu gelangen …« Er schluckte. »Und wenn du es gefunden hast, mach dich damit auf zu Meriph, dem Eremiten im Land des Feuers. Er … er wird dich retten … an meiner Stelle…«
Er schloss die Augen und schien das Bewusstsein zu verlieren.
Im Dunkel der Halle blieb Adhara allein zurück. Das hieß, auch ohne Adrass konnte es Rettung für sie geben. Sie konnte ihn zurücklassen und dennoch weiterleben. Gewiss, die Hinweise, die er ihr gegeben hatte, waren recht wirr. Aber es müsste möglich sein, diesen Meriph zu finden, es sei denn, die Seuche hatte auch ihn schon hinweggerafft. Aber so viele Möglichkeiten sich anzustecken hatte ein Einsiedler nicht.
Wenn ich ihn zurücklasse, werde ich frei sein können. Von ihm und von der Krankheit. Und niemand kann mir das vorwerfen, nach allem, was er mir angetan hat.
Sie warf einen letzten Blick auf sein Gesicht, das noch bleicher geworden war, auf die zwei dünnen Tränen aus Blut, die ihm aus den Augen und über die Wangen gelaufen waren.
Dann stand sie auf.
Verflucht!
 
Die Feuerkämpferin lief los. Ihre eiligen Schritte hallten von den Wänden wider, während die Milchgewächsblüten unter ihren Füßen zerplatzten und ihr deren scharfer Geruch in die Nase stieg. Einige Male strauchelte sie, fing sich aber immer wieder und lief weiter, vorbei an den Tafeln über den Eingängen, die sie flüchtig las.
POESIE
SAGEN
MÄRCHEN UND FABELN
GÖTTERMYTEN
Medizin oder Heilkunde waren nicht darunter, nichts, was Informationen zu der Krankheit hätte erwarten lassen. Es war alles so verwirrend. Aber da feststand, dass die Elfen die Seuche eingeschleppt hatten, wussten sie sicher auch, wie sie zu behandeln war. Viele gaben den Nymphen die Schuld, nur weil diese sich als immun erwiesen hatten. Es war schwierig, wenn nicht gar unmöglich, in dieser verzweifelten Situation Klarheit zu gewinnen. Irgendwo in dieser grenzenlosen, labyrinthartigen Bibliothek musste jedoch die Antwort zu finden sein. Aber wo nur?
Irgendwann musste sie stehen bleiben, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Die Luft war immer feuchter geworden, und statt der Milchgewächse sah sie nun Stalagmiten und Stalaktiten, die überall hervorragten, schmal und spitz wie Fialen oder kurz und gedrungen wie Baumstümpfe. Manche waren fein wie hauchdünne Schleier, so dass selbst das matte Licht ihrer magischen Kugel sie durchdrang, andere wahre Felskaskaden, die sich ihr drohend in den Weg stellten. Aus allen Ritzen drang Wasser, lief geschwind durch die Rinnen im Fels und plätscherte zu Boden, während das anfängliche Gluckern mittlerweile zu einem Rauschen angeschwollen war, das ihr in den Ohren hallte.
An den Wänden gab es keine Bücher mehr, sondern stattdessen breite, mit Gravuren versehene Marmorplatten. Offenbar war es hier unten schon immer sehr feucht gewesen, weshalb die Elfen ihre ältesten Texte, die noch nicht auf Pergament geschrieben waren, hier untergebracht hatten.
MEDIZIN
Endlich. Sie war angekommen. In aller Eile stürmte sie in den Raum und fand sich in einer natürlichen Grotte wieder, in der Felsformationen das Bild völlig beherrschten. Unmöglich zu sagen, ob diese älter oder jünger als die Konstruktionen der Elfen waren. In diese fantastischen Felsgebilde waren Skulpturen eingefügt, die das Wasser abgeschliffen hatte, so dass sie nur schwer zu deuten waren. Wie aus geschmolzenem Wachs sahen sie aus, die Gesichter waren unkenntlich, die Proportionen verzerrt. Die Halle lag unter dem Niveau des Mittelganges und war halb überflutet. Durch eine breite Öffnung in der Decke, die dort wahrscheinlich durch irgendein Naturereignis eingebrochen war, drang das Wasser ein. Wahrscheinlich hatten die Elfen es einst umgeleitet, doch im Lauf der Jahrhunderte hatte es sich wieder sein ursprüngliches Bett gesucht. Adhara fragte sich allerdings, wie der ganze Rest der gigantischen Bibliothek so trocken sein konnte. Zwar hatte sie eine Reihe von Wasserschäden bemerkt, doch besonders im unteren Teil waren die Bücher so gut erhalten, wie es eigentlich nicht möglich sein konnte. Alles sprach dafür, dass ein Zauber sie schützte. Ohne lange zu überlegen, tauchte Adhara bis zur Brust ins Wasser ein und bewegte sich schwerfällig auf die steinernen Bücherregale zu, wobei sie aufpassen musste, dass die Strömung sie nicht zum Abfluss spülte, einer Öffnung in einer Seitenwand, die alles ansaugte.
Endlich konnte sie die Stelen absuchen, die hier und dort aus dem Wasser ragten. Neugierig zog sie eine Tafel hervor und versuchte zu lesen, was darauf stand. Die Sprache war elfisch, aber dennoch verstand sie jedes Wort. Auch eine Fähigkeit, die ihr Adrass eingegeben hatte.
Um sich nicht zu verzetteln, konzentrierte sie sich ganz auf die Beschriftungen an den Steinregalen. MAGEN. NIEREN. LUNGE. Anatomische Abhandlungen zu den verschiedenen Organen mit zahlreichen Illustrationen. Dort unten lagerte ein enormer Wissensschatz, und um den heben zu dürfen, wäre ein Heilpriester wahrscheinlich sogar zu einem Mord fähig gewesen.
Sie versuchte, ruhig zu bleiben und kühlen Kopf zu bewahren. Wenn sie sich jetzt zu hektischer Anspannung verleiten ließ, würde sie nichts erreichen können.
Als sie die aus dem Wasser ragenden Teile durchgesehen hatte, waren die überspülten an der Reihe. Jetzt wurde es noch schwieriger. Die Strömung war stark, und sobald sie den Kopf untertauchte, wurde er zu einer Seite gezogen. Unter diesen Bedingungen zu lesen, war unmöglich. So beschränkte sie sich darauf, die Beschriftungen der Reihe nach durchzugehen, in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, was sie interessieren konnte. Hin und wieder tauchte sie aus dem Wasser auf, um Luft zu holen, ließ sich dann wieder hinabgleiten und suchte weiter.
Erst beim dritten Regal fand sie den Abschnitt, der Ansteckungskrankheiten gewidmet war. Der Stein war mit Algen überzogen, und an vielen Stellen waren die Inschriften hinweggewaschen worden. Aber sie fand eine Steintafel, die ihr interessant erschien, bekam sie zu packen und tauchte mit ihr auf. Sie las, was darauf stand, und erkannte tatsächlich einige Symptome wieder, die auch gleichzeitig mit dem von der Seuche hervorgerufenen Fieber auftraten. Natürlich konnte sie keineswegs sicher sein, dass es sich tatsächlich um diese jetzt in der Aufgetauchten Welt wütende Epidemie handelte, aber es gab keine andere Spur, der sie hätte folgen können. Es war ihre einzige Hoffnung.
 
Es gilt, frühzeitig einzugreifen, innerhalb der ersten beiden Tage nach der Ansteckung, sonst ist der Tod aufgrund des hohen Blutverlustes fast sicher.
 
Das konnte sie vielleicht noch schaffen. Aber sie musste sich beeilen. So schnell sie konnte, las sie alles durch, versuchte, es sich auswendig zu merken, und hoffte, dass Adrass die angegebenen Zutaten mit sich führte. Was ihren eigenen körperlichen Zerfall betraf, konnte sie nichts finden, was ihr weitergeholfen hätte, aber für Adrass und alle, die von einer Ansteckung bedroht waren, gab es nun vielleicht neue Hoffnung.
 
… Nymphenblut. Die Heilkraft dieses Blutes, so frisch und klar wie Quellwasser, bewirkt, dass das Fieber sinkt und die Blutungen zum Stillstand kommen.
 
Da geschah es, im Bruchteil eines Augenblicks: Etwas packte ihren Knöchel, biss sich dort fest und riss sie um. Adhara tauchte unter und verlor dabei die Orientierung, so dass sie nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Vor Schmerz und Entsetzen zu schreien, war unmöglich, sie spürte nur noch, wie sie weggerissen wurde. Zum Glück war sie geistesgegenwärtig genug, den Dolch zu ziehen, und während sie herumfuhr, erblickte sie etwas Weißliches an ihrem Fuß und stach mit aller Kraft zu. So kam sie frei, tauchte auf, hustete und rang nach Luft, aber sie musste fort, und schon hastete sie durch das Wasser, um so schnell wie möglich den Ausgang zu erreichen. In dieser Grotte hauste irgendein gefräßiges Wesen, über dessen Natur Genaueres herauszufinden ihr der Mut fehlte. Da, wieder ein furchtbarer Schmerz, sie fuhr herum und sah es: Es war eine Art Schlange, mindestens sechs Ellen lang und durchsichtig. Unter der Haut erkannte sie die Umrisse einer langen Gräte, die ein schwaches Licht abgab, und darum herum ein Gewirr ineinander verschlungener Eingeweide. Und dann der Kopf: zwei riesengroße, nun geschlossene Augen über einem gigantischen Kiefer, der sich um ihre Wade geschlossen hatte.
Wieder versuchte Adhara es mit dem Dolch, stach hierhin und dorthin, doch das Ungeheuer war zu flink, schnellte hin und her und verbiss sich dabei immer schmerzhafter in ihrer Wade.
Da holte Adhara tief Luft, tauchte unter und hatte das Ungeheuer jetzt ganz nah vor sich: Es war tatsächlich furchterregend, eine Kreatur, geradewegs der Hölle entsprungen. Adhara hatte keine Ahnung, wie sie in diese Höhle gelangt war und dort überleben konnte. Aber sie verlor keine Zeit damit, sich darüber Gedanken zu machen. Zwei kräftige Hiebe, und sie hatte ihr den Kopf abgeschlagen, der aber, zu ihrem großen Entsetzen, in ihrem Bein fest verbissen blieb. Vor Kälte und Schmerz zitternd, tauchte sie aus dem Wasser auf, versuchte, zu Atem zu kommen und diesen widerlichen Kopf loszuwerden. Doch es gelang ihr nicht.
Da nahm sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Sie blickte auf und sah es weiß und grünlich schimmern. Noch mehr dieser Ungeheuer. Zwei, drei, zehn … Mit denen konnte sie es unmöglich aufnehmen. Sie sprang auf und hetzte humpelnd, in panischem Schrecken, dem Ausgang entgegen. Ihre Lichtkugel, die schon sehr schwach geworden war, erlosch jetzt ganz, und in der Dunkelheit sah sie nur noch das phosphoreszierende Licht dieser monströsen Leiber funkeln, die unaufhaltsam auf sie zuschossen. In höchster Not zog Adhara wieder ihren Dolch und schaffte es sogar, das magische Feuer neu zu entzünden. Schon kam der Höhlenausgang in Sicht, und noch schneller humpelte sie darauf zu. Das Bein schmerzte höllisch bei jedem Schritt, und ihre nassen Kleider, die ihr schwer am Leib hingen, machten sie plump und schwerfällig, während der Strom, der ihre Beine umspülte, immer stärker zu werden schien.
Da waren sie schon, um ihre Beine herum spürte sie die schlängelnden Bewegungen dieser glitschigen Ungeheuer. Sie schlug um sich, ruderte mit den Armen, um schneller vorwärtszukommen, löste dann die Füße vom Boden und schwamm heftig strampelnd auf den Ausgang zu.
Endlich spürte sie unter den Fingern den Stein der Stufen, die sie beim Eintritt genommen hatte, klammerte sich daran fest, stieß sich mit aller Kraft ab und rollte aufs Trockene. So lag sie da, auf dem Rücken, die Arme gespreizt, keuchte und keuchte und wollte gar nicht mehr zu Atem kommen. Erst nach einer ganzen Weile richtete sie sich auf und betrachtete ihr Bein. Der Schlangenkopf hing mit seinem alptraumhaften Maul und den langen, nadelspitzen Zähnen immer noch in der Wade fest. Es ging nicht anders, sie musste diesen Kiefer packen und ihn aus dem Fleisch lösen. Sie schrie vor Schmerz, aber die Operation gelang, und als sie die Wunde betrachtete, fasste sie schon wieder neuen Mut: Sie sah hässlich aus, schien aber nicht gefährlich zu sein. Adrass führte in seinem Quersack sicher etwas mit, womit sie sich behandeln ließ.
Adrass.
In dem elfischen Text stand, dass Eile geboten war. Beim Kampf hatte sie die entsprechende Steinplatte verloren. Aber das war halb so wild. Sie erinnerte sich an alles. Bemüht, das wunde Bein nicht zu belasten, lief sie den Weg zurück, der sie an diesen verfluchten Ort geführt hatte.
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