42

Die meisten Leute glauben, dass am ersten Schultag der Herbst beginnt. Ich glaube das nicht. Ich glaube, der Herbst beginnt erst dann, wenn man es in der Luft spürt. So wie heute. Draußen ist es knackig und kühl.

Jetzt ist es amtlich. Die letzten Tage des Sommers sind endgültig vorüber.

In meinem Zimmer kann ich es höchstens ein paar Minuten lang aushalten. Irgendwie kann ich geschlossene Räume nicht mehr ertragen. Ich brauche weite, offene Flächen, wo ich weit wegrennen kann, wenn mir danach ist. Deshalb mache ich meine Hausaufgaben auf der Veranda, ausgestreckt auf dem Korbsofa mit einer Decke über meinen Knien.

Ich denke darüber nach, wie Blake seinem Vater die Stirn geboten hat. All diese Jahre hat er sich so vor ihm gefürchtet. Gestern hat sich alles verändert.

Blake hat sich seiner größten Angst gestellt. Hätte er seinen Vater nicht konfrontiert, sähe seine Zukunft wahrscheinlich ziemlich anders aus.

Was bedeutet, dass wir zumindest etwas Kontrolle über unser Schicksal haben. Wenn Blake endlich all das sagen konnte, was er so lange mit sich herumgetragen hat, nach so langen Jahren Kummer und Schmerz, dann kann ich es auch. Meine Angst, Erin gegenüberzutreten, ist nichts gegen das, was Blake durchgemacht hat. Aber ich kann mein Schicksal ändern, genau wie Blake es konnte.

Wenn ich will, dass die Dinge sich ändern, dann kann ich nicht einfach rumsitzen und mir wünschen, dass sie sich ändern. Ich muss dafür sorgen, dass sie sich ändern.

Ich springe auf und renne ins Haus. Als ich Erin anrufe, bin ich überrascht, dass sie tatsächlich den Hörer abgenommen hat.

»Wo bist du?«, frage ich.

»Warum?«

»Sag mir einfach, wo du bist.«

»Im Fountain.«

»Triff mich in einer Viertelstunde am Green Pond.«

»Was willst…«

Ich lege auf. So was geht nur, wenn man sich sieht.

Der Green Pond ist zu weit weg, um ihn rechtzeitig mit dem Rad zu erreichen. Natürlich ist Dads Auto nicht da, also muss ich die alte Schaltknüppelmöhre nehmen.

Auf der Fahrt zu meinem Treffen mit Erin werde ich mit jeder Minute wütender. Ich bin so sauer, dass ich sieben Mal den Motor abwürge. Beim letzten Neustart würde ich am liebsten den Schalthebel rausreißen, um ihn gegen die Windschutzscheibe zu knallen.

Als ich ankomme, wartet Erin schon auf mich. Ihr Gesichtsausdruck verrät nichts.

Ich knalle die Autotür. Mit Wucht.

Erin steht am Rand des Sees, in ihrer Hand hält sie Kieselsteine. Vom Auto aus habe ich gesehen, wie sie versucht hat, ein paar von ihnen über das Wasser ditschen zu lassen.

Wir sind beide keine Meisterinnen im Steinehüpfenlassen, aber wir geben nicht auf.

»Warum verhältst du dich immer noch so?«, sage ich.

»Wie, so?«

»Wie jemand, den ich nicht mal kenne.«

Erin lässt die Steine fallen. Sie klopft sich die Hände an ihrer Jeanshose ab. »Bist du nicht diejenige, die mir den Freund ausgespannt hat?«

»Nein. Ich bin erst mit deinem Freund ausgegangen, nachdem er mit dir Schluss gemacht hat. Du solltest aufhören, die Tatsachen zu verdrehen.«

»Du hättest dich überhaupt nicht mit Jason einlassen sollen. Was für eine Freundin bist du eigentlich?«

»Du bist so egoistisch! Die Welt dreht sich nicht nur um dich! Mein Gott! Du… du checkst einfach nicht, wie du andere Leute beeinflusst. Du übernimmst keine Verantwortung für das, was du tust. Es geht immer nur darum, was du willst. Aber weißt du was? Die anderen wollen auch etwas. Es geht nicht immer nur um dich!«

Ich kann nicht glauben, dass ich all das gerade gesagt habe. Ich wollte mich mit Erin treffen, um mich mit ihr zu vertragen, und nicht, um ihre Wut auf mich noch zu vergrößern.

»Ich muss mir das nicht anhören«, sagt Erin. »Ich gehe.«

»Nein!« Ich halte ihren Arm fest.

»Aua!«

»Hör mir zu«, sage ich. »Ich kann mich nicht länger entschuldigen. Ich habe schon gesagt, wie leid es mir tut. Es gibt nichts mehr, was ich machen kann. Ich kann nichts daran ändern, wie die Dinge sind. Und weißt du was? Selbst wenn ich könnte, ich würde es nicht wollen. Es tut mir leid, dass Jason mit dir Schluss gemacht hat. Aber mich von ihm fernzuhalten, hat niemandem geholfen.«

Erin zieht ihren Arm weg.

Aber sie geht nicht.

Sie bleibt.

Erin hat sich die ganze Zeit so verhalten, als wäre ich diejenige, die etwas falsch gemacht hat. Aber was sollte das mit Jasons Mail? Es ist eine Sache, deiner Freundin etwas übel zu nehmen. Und es ist eine komplett andere Sache, den Rest der Welt dazu zu bringen, sie ebenfalls zu hassen.

»Wie konntest du Jasons Mail einfach an alle weiterleiten?«, frage ich.

»Ich weiß, dass das fies war. Ich war nur… so außer mir vor Wut.«

»Es ist nicht fair, dass alle mich hassen.«

»Ich hab’s übertrieben«, sagt Erin. »Es tut mir leid.«

Ich beobachte, wie sie an einem ihrer Ringe dreht. Sie ist nervös, aber versucht, es zu verbergen. Vielleicht ist sie doch nicht so furchtlos, wie ich immer dachte.

Und in diesem Moment wird mir klar, wie sehr ich sie vermisse. Ich vermisse sie einfach so schrecklich.

Meine Kehle schnürt sich zu. Meine Augen füllen sich mit Tränen.

»Wie lange wirst du noch zulassen, dass diese Sache zwischen uns steht?«, frage ich. »Schon bevor es losging, haben wir uns voneinander entfernt. Ich weiß, dass du es auch gefühlt hast.«

Plötzlich fängt Erin an zu weinen.

»Diese Webseite war ein Fehler«, sagt sie. »Das hätte nicht geschehen dürfen.«

»Hast du damit angefangen?«

»Nein. Aber ich weiß, wer es war. Ich hab sie dazu angestiftet.«

»Wer war es?«

»Das tut nichts zur Sache.«

Eine Welle der Erschöpfung überflutet mich. Meine ganze Wut ist verdampft und ich fühle mich schlaff wie eine welke Blume.

Erin sagt: »Ich bin dir nicht gerne böse.«

»Ich habe dir nicht gerne wehgetan.«

»Ich weiß.«

»Wirklich?«

»Ja. Ich meine, es ist mir klar, dass du das nie wolltest, aber dadurch tut es nicht weniger weh.«

»Es tut mir alles wirklich, wirklich leid.«

»Ich hab gehört, was gestern passiert ist.«

»Daran war nur Jason schuld! Ich hab ihm gesagt, dass ich nicht mit ihm reden will oder…«

»Ich weiß«, fällt mir Erin ins Wort. »Die Sache ist nur die, dass ich nicht weiß, ob es fair ist.«

»Was meinst du?«

»Du willst mit ihm zusammen sein. Und er will offensichtlich mit dir zusammen sein. Also ist es nicht richtig, wenn ich euch voneinander fernhalte.«

»Es…«

»Vielleicht werdet ihr nicht für immer zusammen sein oder wie auch immer, aber ich möchte nicht daran schuld sein, dass ihr nie zusammen sein konntet.«

»Du hasst mich nicht mehr?«

Auf Erins Gesicht erscheint ein winziges Lächeln. Es ist das erste Mal, dass ich sie lächeln sehe, seit diese ganze Katastrophe angefangen hat.

»Ich kann dich nicht hassen, Lani. Uns verbindet zu viel miteinander.«

Dieser Bund, den Erin und ich geschlossen haben, sollte bedeuten, dass wir für immer Freundinnen sein werden. Dass nichts auf der Welt jemals zwischen uns kommen kann. Jetzt frage ich mich, ob dieser Bund stark genug ist. Vielleicht haben wir uns so weit voneinander entfremdet, dass der Unfall nicht mehr ausreicht. Vielleicht ist der Rest, der uns verbindet, nicht genug. Ich bin nicht sicher, ob unsere Freundschaft stark genug ist, das nächste Jahr zu überleben, wenn wir aufs College gehen.

Aber.

Wir kennen uns auf eine Weise, wie niemand sonst uns kennt. Wir teilen eine Vergangenheit, die uns für immer verbindet. Ich habe noch Hoffnung für uns.

Hoffen ist alles, was ich tun kann.

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