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Das jährliche Drachenfestival gehört mit zu den schönsten Ereignissen im Frühjahr. Außerdem ist in dieser Zeit großartig: das Ende des Schuljahres in weniger als zwei Monaten und das Wetter, das langsam wärmer wird.
Für das Drachenfestival gibt es bestimmte Regeln.
Nicht, dass ich jemals darauf geachtet hätte. Normalerweise sehe ich mir nur die supertollen Drachen an und such mir einen aus, dessen Flug ich dann verfolge. Dieses Jahr gehe ich zusammen mit Erin und Jason hin. Jason nimmt mit seinem Drachen am Wettbewerb teil. Er hat ihn selbst gemacht.
Das ist eine der Regeln, die in der Broschüre stehen, die ich gerade zum ersten Mal durchlese. Um an dem Wettbewerb teilnehmen zu können, muss der Drachen entweder selbst gemacht oder von jemand anderem von Hand gebaut worden sein. Viele Leute bringen nur so aus Spaß einen Drachen mit, aber wenn er nicht selbst gemacht ist, darf man nicht teilnehmen. Eine weitere Regel besagt, dass der Drachen nicht mehr als zweieinhalb Kilo wiegen darf. Dabei sehen einige so schwer aus, dass ich kaum glauben kann, dass sie unterhalb dieser Grenze liegen.
Folgende Kategorien werden bewertet:
- größter Drachen
- kleinster Drachen
- ungewöhnlichster Drachen
- Drachen-Wettlauf über fünfzig Meter
- Flug im höchsten Winkel
- stärkster Zug
- gleichmäßigster Flug
Der Park füllt sich mit Wettbewerbsteilnehmern und ihren Gästen. Wohin man auch schaut, überall schweben bunte Drachen in der frischen Brise. Ein paar davon sind echt kunstvoll gestaltet. Manche sehen aus wie Drachen, andere wie Schmetterlinge und wieder andere sind schneckenförmig gedreht. Das Ganze ist total beeindruckend.
Ich breite meine Decke unter einem Baum aus. Erin gibt mir meine Wasserflasche aus der Kühltasche. Ich habe immer eine Flasche aus rostfreiem Stahl dabei, weil ich so viel Wasser trinke. Limonade rühre ich nie an. Von Limonade kriegt man Darmfäule. Und die will ich nicht.
Jason steht auf der anderen Seite der Wiese und hält nach uns Ausschau. Ich winke ihm zu. Er sieht uns, lächelt und kommt zu uns herüber. An seinem Hemd steckt die Teilnehmernummer 15.
»Blöd, dass ich als Erwachsener eingestuft bin«, sagt er. In der Broschüre steht, dass jeder über sechzehn als Erwachsener gilt. »Den Kindern hätte ich’s gezeigt.«
»Alle wissen doch, was für ein Drachenprofi du bist«, sagt Erin. »Deshalb haben sie dich zu den Erwachsenen gesteckt. Den Kindern hättest du viel zu viel Angst gemacht.«
Sie springt auf und schlingt die Arme um Jason, der ihre Umarmung erwidert.
Jasons Drache hat tolle Farben und Muster und sieht aus wie die riesige Schlinge eines Lassos. Ich würde schrecklich gern wissen, wie er ihn gemacht hat.
»Warum hat dein Drachen eigentlich diese Form?«, frage ich.
»Hauptsächlich aus aerodynamischen Gründen. Aber das ist eine lange, langweilige Geschichte, auf die ich nicht näher eingehen werde.«
»Hey«, sagt Erin. »Die Geschichte kenne ich überhaupt nicht.«
»Weil sie so lang und so langweilig ist.«
»Und in welcher Kategorie nimmst du teil?«, erkundige ich mich.
»Fünfzig-Meter-Wettlauf und Flug im höchsten Winkel.«
»Aha.« Ich nicke, als wüsste ich, was »Flug im höchsten Winkel« genau bedeutet. In der Broschüre wurde es nicht erklärt.
Jason legt seinen Drachen vorsichtig auf die Wiese. Dann wühlt er in der Kühltasche herum. »Gibt es auch Traubenschorle?«
»Tut mir leid«, antwortet Erin. »Es gab keine.«
Stattdessen nimmt er sich ein Wasser. Erin cremt sich mit Sunblocker ein, obwohl es erst April ist und noch nicht besonders heiß. Letztes Jahr haben wir auf die harte Tour erlebt, wie wichtig Sunblocker ist. An einem Tag wie heute – kühl und teilweise bewölkt. Erin hatte nicht im Traum an Sonnencreme gedacht. Am nächsten Tag in der Schule waren ihre Arme so rot, dass sie alle Hummerärmchen nannten. Es war ihr total peinlich. Meine Haut ist von Natur aus dunkler, als hätte ich eine Art Dauerbräune. Deshalb sah man es mir nicht an, dass auch ich ein bisschen Sonnenbrand hatte.
Jason setzt sich zu uns auf die Decke.
»Was genau bedeutet ›höchster Winkel‹ eigentlich?«, will ich wissen.
»Du bleibst an einer Stelle stehen. Und dann geht es darum, wie steil der Drache über deinem Kopf aufsteigt.«
»Oh! Cool!«
»Wir stehen dann alle nebeneinander und die Jury misst den Winkel, den der Drachen mit dem Horizont bildet.«
»An den Fünfzig-Meter-Wettlauf kann ich mich noch vom letzten Jahr erinnern«, sagt Erin. »Da muss man den Drachen, während man rennt, in der Luft halten, stimmt’s?«
»Genau.« Jason sieht mich an. »Warst du letztes Jahr auch dabei?«
»Ich komme jedes Jahr. Ich liebe Drachen.«
»Echt?«
»Drachen sind super. Ich steh auch auf Heißluftballons.«
»Bist du jemals mitgefahren?«
»Nein. Aber wusstest du, dass sie manchmal in der Nähe von Smoke Rise landen?«
»Wahnsinn. Hab ich dort nie gesehen, dabei bin ich schon so oft da gewesen.«
»Jedes Mal wenn ich als kleines Kind einen Heißluftballon gesehen habe, sind meine Mom und ich ihm mit dem Auto hinterhergefahren und haben zugesehen, wie er gelandet ist.«
»Deine Mom scheint echt cool zu sein.«
»Hey, Erin!« Ein Junge kommt auf uns zugerannt. Er sieht aus, als wäre er in der fünften oder sechsten Klasse. »Ich wusste nicht, dass du auch kommst.«
»Wo sollte ich sonst wohl sein?« Erin beugt sich zu dem lachenden Jungen hinunter und umarmt ihn. Wie alle Kinder, die Erin kennen, freut er sich total, sie zu sehen. Sie hat schon die halbe Stadt gebabysittet. »Chris«, sagt sie, »du kennst doch Jason, oder?«
»Na klar«, antwortet Chris. »Hey.«
»Hey«, sagt Jason. Er bekommt keine Umarmung.
»Und das ist meine Freundin Lani«, sagt Erin. »Ich gebe Chris Nachhilfestunden«, erklärt sie mir.
Zusammen mit Jason hat Erin gerade angefangen, in der Mittelstufe Nachhilfeunterricht zu geben. Jason macht das schon seit letztem Jahr und hat Erin immer wieder vorgeschwärmt, wie viel Spaß ihr das machen würde. Das war keine Frage. Sie stieg nur nicht sofort als Nachhilfelehrerin ein, weil sie überlegen musste, wie es noch in ihren Stundenplan passte. Erst recht, seit sie immer mehr Zeit mit Jason in ihrem Stundenplan unterbringen muss.
»Wie geht es mit Mathe voran?«, fragt Erin.
»Überhaupt nicht«, erwidert Chris. »Der Matheteil meines Gehirns funktioniert einfach nicht.«
»Tut er wohl. Ich helf dir noch ein bisschen. Du wirst schon sehen.«
»Hoffentlich hast du recht.«
»Und wo ist deine Familie?«, fragt Erin.
Chris zeigt auf einen Trupp kleiner Kinder. Seine Mom ist gleichzeitig damit beschäftigt, ein schreiendes Baby zu trösten, zwei kleine Jungs davon abzuhalten, sich gegenseitig umzubringen, und einem Mädchen eine Schleife ins Haar zu binden.
»Ich glaube, deine Mom könnte Hilfe gebrauchen«, sagt Erin. »Wir sehen uns Donnerstag, okay?«
»Okay!«, antwortet Chris. »Tschüss, Erin!« Und dann läuft er zu seiner Mom.
»Ich hol mir ein Eis«, sagt Erin. »Wollt ihr auch?«
»Ich grad nicht«, entgegnet Jason.
»Ich aber«, sage ich.
»Kirsch?«, fragt Erin.
»Na sicher.«
Und dann sind wir beide allein.
Jason kratzt sich am Knie. »Sind noch Äpfel da?«
»Ähm«, ich gucke in die Kühltasche. »Einer ist noch da.«
»Kann ich den haben?«
»Das ist meiner.«
»Deiner?«
»Ja. Hab ich vor ungefähr einer Stunde verkündet. Hast mich wohl nicht gehört.«
»Tja, Pech gehabt.«
»Tja, Pech gehabt.«
»Dann knobeln wir. Schere-Stein-Papier.«
»Du fängst an.«
Wir machen eine Faust. Jason beginnt: »Schere-Stein-Papier!«
Ich mache die Schere und er Papier.
»Ooh«, sage ich. »Schon wieder Pech gehabt.«
»Man muss zwei von drei Malen gewinnen.«
»Das hättest du eher sagen müssen.«
»Ich sage es jetzt.«
»Jetzt gilt das nicht mehr. Man muss es vorher sagen.«
»Sagt wer?«
»Das sind die Regeln. Kennst du die Regeln nicht?«
»Ha!«, erwidert Jason. »Ich bin die Regeln.«
Wir trinken aus unseren Flaschen.
»Wann hast du Geburtstag?«, frage ich.
»Erster Oktober.«
Na klar, Jason ist eine Waage. Charmant, umgänglich,
entspannt und idealistisch. Alles typische Waage-Eigenschaften. Ich hatte gehofft, sein Sternzeichen würde zu Stier passen und nicht zu Löwe. Aber wie interessant: Eigentlich passt er zu keiner von uns beiden.
Okay und wieso denke ich überhaupt darüber nach? Wir sind doch nur Freunde. Ich freue mich für Erin. Alles ist gut.
»Warum fragst du?«, erkundigt sich Jason.
»Nur so. Ich hab bald Geburtstag, deshalb…«
Die Sonne scheint Jason so in die Augen, dass ich ihn kaum ansehen kann. Seine Augen sind von einem unglaublichen Blaugrün.
Hör. Auf. Hinzusehen.
Jason fragt: »Wo ist eigentlich Blake?«
»Er findet Drachen nicht so spannend wie ich.«
Jason nickt so nachdenklich, wie ich es schon ein paarmal bei ihm beobachtet habe. Als wolle er sagen: Nicht jeder Mensch findet Drachen spannend. Unfassbar. »Dann ist er also zu Hause?«
»Keine Ahnung. Ich glaube schon.«
Jason trinkt einen Schluck Wasser. »Find ich cool, dass ihr zu den Paaren gehört, die nicht alles gemeinsam machen müssen.«
Oh mein Gott. Jason hält Blake für meinen Freund? Wo hat er das denn her?
»Blake ist nicht mein Freund«, sage ich.
»Nicht?«
»Nein.« Ich würde es gern erklären. Aber das geht natürlich nicht.
»Oh.« Jason lächelt. Und trinkt noch einen Schluck, damit ich es nicht sehen kann.
Eins weiß ich über Jungs. Wenn sie fragen, ob man einen Freund hat (oder behaupten, man hätte einen, damit man es entweder bestätigt oder verneint), haben sie eindeutig Interesse an einem und wollen herausfinden, ob man gerade Single ist oder nicht. Aber es ist vollkommen undenkbar, dass Jason an mir interessiert ist. Er steht auf Erin. Erin und ich sind so verschieden, dass er unmöglich auf uns beide stehen kann. Außerdem, wenn er was von mir wollte, hätte er mich doch um ein Date gebeten.
Oder nicht?