15

Keine Ahnung, woran es liegt. Aber Jason und ich haben diese Art Verbundenheit, die stärker ist als jedes andere Gefühl, das ich je hatte. Bei uns passt einfach alles. Ich fühle mich wohl, wenn ich mit ihm zusammen bin. Und wenn wir nicht zusammen sind, kann ich kaum abwarten, ihn wiederzusehen.

Bei ihm fühle ich mich zu Hause.

Die Frage ist nur, ob man mit seinem Seelenverwandten einfach nur befreundet sein kann, obwohl man sich viel mehr wünscht?

Es ist nicht so, dass ich eine bestimmte Sache nennen und sagen könnte: »Aha! Deshalb sind wir seelenverwandt!« Es ist eine Vielzahl von kleinen Dingen. Dinge, die außer uns beiden niemandem etwas bedeuten.

Einmal zum Beispiel, als Jason sich mittags einen Kaffee holte, da war mir die Art und Weise, wie er seine Serviette unter die Kaffeetasse legte, total vertraut. So als würde ich selbst meine Serviette unter meine Tasse legen, ich würde es ganz genau so machen. Dabei hatte ich bisher nie darauf geachtet, wie ich eine Serviette unter eine Tasse legte – bis er es mir vormachte.

Oder vor ein paar Tagen beim Mittagessen, als wir plötzlich anfingen, in Abkü zu sprechen. Wenn man in Abkü spricht, kann man nicht einfach irgendwelche Worte abkürzen, wie es einem gerade einfällt. Es gibt Regeln. Das Verrückte dabei ist, ich kenne die Regeln, ohne sie je gelernt zu haben. Ich könnte sie unmöglich irgendwem erklären. Aber irgendwie kannte Jason sie schon.

Ich habe gerade über meine Note in einer Geschichtsarbeit gejammert und Jason sagte: »Echt läch.«

»Woher kennst du das?«, fragte ich.

»Was?«

»Läch.«

»Kennt das nicht jeder?«

»Glaub ich nicht.«

»Oh. Ja, dann hab ich vermutlich ein ausgeprägtes Abkü-Talent.«

»Du kennst dich mit Abkü aus?!«

»Tun das nicht alle?«

»Alle? Ich dachte, ich hätte es erfunden.«

»Und ich dachte, ich hätte es erfunden.«

Keine Ahnung, woher er solche Sachen kennt. So wie gerade jetzt, als wir gleichzeitig die Glasur von unserem Kuchen gekratzt haben. Dann haben wir mit unseren Gabeln angestoßen. Ich dachte immer, ich wäre die Einzige, die so was macht. Dabei hat Jason, ohne dass ich es wusste, die ganze Zeit schon genau dasselbe gemacht.

Bianca steht vom Goldenen Tisch auf und schaut zu uns herüber. Sie guckt anders als andere Leute. Andere Leute gucken weg, wenn man ihre Blicke erwidert. Andere Leute haben ein Gefühl für Grenzen.

Aber Bianca ist nicht andere Leute.

Mir ist klar, dass sie gleich auf uns zukommen wird. Sie steht aufs Lästern. Und wenn es nichts zu tratschen gibt, dann erfindet sie eben was. Es ist eigentlich echt traurig. Als wir noch irgendwie befreundet waren, war es noch nicht so schlimm. Keine Ahnung, wie Erin es immer noch mit ihr aushält.

»Hey ihr zwei«, sagt Bianca. Sie steht einfach da, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, mit uns zu reden. Wenn wir auf Gesellschaft aus gewesen wären, dann hätten wir uns an einen Tisch mit mehr Leuten gesetzt.

»Hey«, antwortet Jason.

Soll heißen: Was zum Teufel willst du von uns?

»Ja also, Lani«, fährt Bianca fort, »ich habe mich gefragt, ob Erin im Sommer ins Camp fährt.«

Soll heißen: Ich brauchte eine Ausrede, um zu euch zu kommen, und was Besseres ist mir nicht eingefallen.

»Warum sollte sie nicht?«, sage ich.

Soll heißen: Du weißt doch, dass sie ins Camp fährt, weil sie immer ins Camp fährt, warum fragst du also?

»Ich hab es mir schon gedacht, aber meine Cousine überlegt gerade, ob sie nach Vermont ins Camp fahren soll, deshalb hab ich gedacht, sie könnte vielleicht mal mit Erin drüber reden.«

Soll heißen: Warum sitzt du mit Jason zusammen?

»Warum fragst du Erin nicht selbst?«, sage ich.

Soll heißen: Hau ab.

»Mach ich, aber ich dachte, du wüsstest vielleicht auch Bescheid«, sagt Bianca. »Na ja… bis dann!«

»Was sollte das denn?«, fragt Jason.

»Das willst du gar nicht wissen.«

Warum können die Leute uns nicht einfach in Ruhe lassen? Ich merke doch, wie sie uns anstarren. Auch in den Pausen, wenn Jason und ich zusammen durch die Gänge laufen. Keine Ahnung, was sie an uns so faszinierend finden.

»Dieses Geschichtsreferat bringt mich um«, sagt Jason.

»Da sitzt du immer noch dran?« Jason beklagt sich seit Ewigkeiten über dieses Geschichtsreferat. Unglücklicherweise hat er es mit diesem einen Geschichtslehrer zu tun, der sich einen Spaß daraus macht, wahnsinnige Mengen an Hausaufgaben zu verteilen. »Ich dachte, das wäre vorige Woche schon fällig gewesen.«

»Nein, erst in zwei Tagen.«

»Und wie weit bist du?«

»Nicht weit genug. Und ich hab nicht mehr genug Zeit dafür, weil ich noch Nachhilfe habe.«

»Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«

»Was machst du nach der Schule?«

»Nein, ich meine, ich wünschte, ich könnte dir helfen, aber…«

»Mann, ich rede doch von Nachhilfe. Hast du Lust mitzukommen?«

Die Rede ist von den Kindern, denen er manchmal Nachhilfe gibt. Man sieht ihm an, dass er genauso gern mit den Kindern zusammen ist wie Erin, dass er versucht, ihnen beim Lernen zu helfen, und ihnen damit in gewisser Weise auch das Leben erleichtert. Und die Kinder scheinen ihn ebenso zu mögen.

Mir ist ganz schwummrig im Kopf. »Ist heute Dienstag?«, frage ich.

»Ja.«

»Super, dann hab ich kein Schwimmen. Und das One-World-Treffen ist erst Donnerstag.«

»Du bist im Schwimmteam?«

»Nein, eigentlich… ich nehme Unterricht. Im Freizeitcenter.«

»Du nimmst Schwimmunterricht?«

»Genau, wie du weißt, bin ich gerade sechs geworden «

»Ich könnte es dir beibringen.«

»Echt?«

»Na klar. Im Sommer arbeite ich als Rettungsschwimmer.«

»Das wusste ich nicht.«

Wir essen unseren Kuchen.

»Also, du hast kein Schwimmen, weil Dienstag ist…«, sagt Jason.

»Oh, ’tschuldigung… also, ich hab nichts weiter vor.«

»Cool, dann kannst du ja mitkommen zur Nachhilfe.«

Bis zu den Gebäuden der Mittelstufe sind es nur fünf Minuten. Es gibt keinen Grund, nicht mitzugehen. Außer, dass ich Erin nicht das Gefühl geben möchte, mich aufzudrängen. Nachhilfe ist Jasons und ihr gemeinsames Ding.

»Wäre ich nicht eine Art fünftes Rad am Wagen?«, frage ich.

»Kein bisschen.«

»Darfst du denn einfach jemanden mitbringen?«

»Ich wüsste nicht, warum nicht.«

»Vielleicht sollten wir erst Erin fragen. Nur um sicher zu sein, dass es ihr recht ist.«

»Ich frag sie.«

Erin hatte überhaupt nichts dagegen. Also gingen wir alle zusammen nach der Schule hin. Im Mittelstufengebäude gibt es einen extra großen Klassenraum für nachschulische Aktivitäten. Die Schreibtische sind in Zweierreihen und für Gruppenarbeiten angeordnet. Erin stellte mich ein paar Kindern vor, mit denen sie arbeitet. Sie drängten sich bewundernd um sie herum und schrien alle wild durcheinander.

Jason half einer Gruppe bei einem Naturwissenschaftsprojekt und Erin arbeitete mit einem Mädchen. Ich las mit einem Sechstklässler Harriet – Spionage aller Art.

Danach hatte Erin die Idee, Urkunden für die Kinder auszustellen, die die meisten Fortschritte gezeigt hatten. Bei uns gibt es am Ende des Schuljahrs immer eine Preisverleihung, aber in der Mittelstufe gibt es das noch nicht. Jason schlug vor, dass wir die Urkunden bei ihm zu Hause machen sollten.

Auf der Fahrt zu Jason fragt Erin: »Hat es dir Spaß gemacht?«

»Total. Ich find es toll, dass ihr Nachhilfe gebt.«

»Kinder sind die Zukunft«, meint Erin. »Ich möchte dazu beitragen, dass sie nicht ätzend wird.«

Typisch Erin – sie möchte bei allem mitmachen.

Als wir bei Jason ankommen, steigt er gerade aus seinem Jeep. An der Haustür wartet ein niedlicher Hund. Er ist klein und kompakt und hat ein kurzes schwarzes Fell.

Als er Jason sieht, jault er laut auf.

»Hey, Phil«, sagt Jason, »darf ich dir eine neue Freundin vorstellen?«

Erin kennt Phil offensichtlich schon. Sie streichelt ihn und gibt diese Was-bist-du-für-ein-süßer-Hund-Geräusche von sich.

»Was ist das für ein Hund?«, frage ich.

»Eine französische Bulldogge. Sehr vornehm.«

Phil hat große glänzende Augen. Er starrt mich an.

»Du kannst ihn ruhig streicheln«, sagt Jason.

Ich halte Phil die Hand hin, damit er daran schnüffeln kann. Er riecht an meinen Fingern.

»Ich hab Bastelpapier in meinem Zimmer«, sagt Jason. »Kommt mit nach oben.« Er geht vor und nimmt zwei Stufen auf einmal. Wir folgen ihm und Phil wuselt auf seinen kurzen Beinen um unsere.

Das Erste, was ich sehe, ist das Poster. Ein Poster aus einer Sonderauflage Der kleine Prinz. Ich sammle alles vom Kleinen Prinz. Der Fuchs ist meine Lieblingsfigur.

In meinem Zimmer hängt exakt das gleiche Poster. Ich habe es, seit ich vier Jahre alt bin.

»Ich habe genau das gleiche Poster«, sage ich.

»Unmöglich«, erwidert Jason. Er wühlt in einem Stapel Unterlagen auf seinem Schreibtisch.

»Ich sammle alles vom Kleinen Prinz. Das Poster hab ich schon ewig.«

»Ich wette, ich hab meins schon länger.«

»Du hast das gleiche Poster?«, erkundigt sich Erin.

»Das weißt du doch. Warum hast du mir nicht erzählt, dass wir das gleiche Poster haben?«

»Weil ich es nicht gemerkt habe. Ich dachte, es wären einfach nur beides Poster vom Kleinen Prinz.«

»Du hast mein Poster hundertmal gesehen. Wie kannst du nicht merken…«

»Ein Koosh-Ball«, unterbricht mich Jason.

»Hä?«

»Ich wette um einen Koosh-Ball, dass ich mein Poster schon länger habe als du deins.«

»In der Farbe meiner Wahl?«

»Ja.«

»Abgemacht.«

Wir schütteln uns die Hand.

»Also?«, frage ich.

»Ich habe mein Poster…«

»Ja…?«

».…eit ich vier bin.«

»Ich auch!«

»Unmöglich!«

»Sag nicht dauernd unmöglich«, sagt Erin. Und fährt dann weniger barsch fort: »Wo ist das Bastelpapier?«

Jason hat nicht einfach irgendein Der-Kleine-Prinz-Poster. Er hat haargenau das gleiche wie ich. Und wir haben diese Poster haargenau zur gleichen Zeit bekommen. So was kann doch kein Zufall sein.

Jason ist ein Seelenverwandter, der mein Leben schon die ganze Zeit begleitet hat, ohne dass ich es wusste. Wir sind all die Jahre zusammen zur Schule gegangen, aber wir haben bis jetzt gebraucht, um die Wahrheit zu erkennen. Hat uns also das Schicksal mithilfe von Erin zusammengeführt? Oder hätten wir uns auf jeden Fall gefunden?

Als ob das wichtig wäre. Weil es ja nicht nur um uns beide geht. Und das ist der Grund, warum ich all das ignorieren muss. Obwohl mir klar ist, dass nie wieder etwas so intensiv sein wird.

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