19
Mit zehn Jahren verbrachten Erin und ich einen Sommer im Pfadfindercamp. Ihre Mom holte uns von dort ab. An diesem letzten Tag war plötzlich ein Unwetter aufgezogen. Nur gut, dass wir unsere Zelte und alles andere schon zusammengepackt hatten, bevor es anfing zu schütten.
Die Rückfahrt war echt unheimlich. Durch die Scheiben konnte man kaum etwas sehen. Die Scheibenwischer bewegten sich so schnell über die Scheibe, dass ich sie fast nicht mehr sehen konnte. Sie kämpften wie verrückt gegen den Regen an und versuchten, die Wassermassen beiseitezuschieben.
Wir waren schon fast zu Hause, als Erins Mom sich dicht zur Windschutzscheibe vorbeugte. »Ich kann die Straße nicht mehr erkennen«, sagte sie.
Ich fing an zu weinen. Erin sagte, ich sollte mir keine Sorgen machen. Wir wären bald zu Hause.
»Ich fahr rechts ran«, sagte ihre Mom. »Wir warten, bis das Unwetter vorbei ist.«
Es war völlig sinnlos, den Blinker zu betätigen. Wir hatten keine Ahnung, ob sich vor oder hinter uns irgendwelche anderen Autos befanden. Wohin man auch blickte, man sah nichts als gewaltige Wassermassen. Manchmal konnte man ein verschwommenes Licht aufblitzen sehen, aber immer nur für ein paar Sekunden.
Erins Mom wollte an den rechten Straßenrand fahren, aber man konnte nicht sehen, wo er sich befand. Plötzlich fühlte es sich so an, als ob wir ins Schleudern gerieten. Später erfuhr ich, dass das Aquaplaning war.
Dann gab es einen heftigen Aufprall. So als wären wir mit etwas zusammengestoßen. Ich dachte, wir hätten einen Wagen vor uns gerammt, aber wir bewegten uns weiter. Aber nicht so, als würden wir fahren. Es war eher ein Schaukeln.
»Oh mein Gott!«, kreischte Erin. »Wir sind im See! Mach die Tür auf!«
Ich versuchte, meine Tür zu öffnen. Ich drückte und drückte, aber sie ging nicht auf. Erins auch nicht.
Erins Mom sagte gar nichts. Sie hing über dem Steuerrad und bewegte sich nicht.
»Mom?«, sagte Erin und tippte ihr auf die Schulter. »Mom?«
Das Auto schaukelte vor und zurück. Der Vorderteil kippte nach vorn. Um uns herum rauschte es wie verrückt.
»Versuch, das Fenster aufzumachen!«, schrie Erin mir zu. Sie hörte sich total weit weg an, obwohl sie direkt neben mir saß.
Wir drückten auf die elektrischen Fensterheber. Vergeblich.
Der Vorderteil des Wagens kippte noch ein bisschen weiter nach vorn.
Dann weiß ich nur noch, dass sich der Wagen mit Wasser füllte. Das Armaturenbrett war schon fast überschwemmt.
»Wir ertrinken«, heulte ich. Vor lauter Schluchzen brachte ich die Worte kaum heraus.
Erin versuchte, ihre Mom vom Fahrersitz zu ziehen, schaffte es aber nicht. Sie konnte sie nur so weit zurückziehen, dass sie sich gegen die Scheibe lehnte. Das Wasser überschwemmte ihren Schoß. Der vordere Teil des Wagens füllte sich immer mehr. Da das Auto sich nach vorne neigte, war im hinteren Wagenteil weniger Wasser.
»Mom!«, schrie Erin. »Wach auf!«
Erins Mom bewegte sich nicht.
»Los!«, befahl Erin. »Komm nach hinten!«
Ich löste meinen Gurt und drehte mich um, um nach hinten zu klettern. Das Auto machte einen Satz nach vorn. Die Metallstange der Kopfstütze knallte mir an die Stirn.
Was dann passierte, weiß ich nicht mehr. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass Erin und ich eine ganze Ewigkeit lang auf dem Rücksitz kauerten. Von immer mehr Wasser umgeben. Der vordere Teil des Wagens war fast komplett unter Wasser. Erins Mom saß bis zum Hals darin. Auf dem Rücksitz gab es mehr Platz zum Atmen. Erin sagte mir immer wieder, ich solle den Kopf hochhalten.
Ich konzentrierte mich auf sie.
Ich konzentrierte mich aufs Atmen.
Es dauerte nicht lange, bis der Wagen entdeckt wurde. Es fühlte sich an, als hätte es tausend Jahre gedauert, aber meine Eltern sagten, das Auto wäre nicht länger als eine halbe Stunde im See gewesen. Jemand hatte es gesehen und die Polizei gerufen. Erins Mom war ebenfalls okay, sie war nur bewusstlos, als wir ins Krankenhaus gebracht wurden.
Keine Ahnung, wieso dieser Mensch uns gesehen hat. Es muss Schicksal gewesen sein. Es hatte einen Grund, dass unser Leben gerettet wurde.
Große Neuigkeiten machen in einer kleinen Stadt schnell die Runde. Alle hatten innerhalb kürzester Zeit von dem Unfall gehört. Die Gerüchteküche brodelte. Es gab so viele verschiedene Versionen dieses Tages, dass ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen musste, wie es wirklich gewesen war, um die Wahrheit nicht zu vergessen. Ich hatte jede Nacht Albträume. Manchmal heute noch.
Als die Schule wieder anfing, waren alle total nett zu uns. Mädchen, die uns früher nie beachtet hatten, schenkten uns Süßigkeiten und Sticker. Ein Mädchen machte uns zwei gleiche Freundschaftsbänder, die wir das ganze Jahr lang trugen. Auch bei den Lehrern nahmen wir eine Sonderstellung ein. In Soziologie durfte ich zweimal hintereinander die Arbeitsblätter austeilen, ohne dass jemand darüber meckerte. Sogar die Jungs hörten eine Zeit lang auf, uns zu ärgern.
So ist es eben, wenn man beinahe gestorben wäre.
Obwohl sich die meisten Leute inzwischen an die Einzelheiten des Unfalls nicht mehr erinnern, so weiß doch jeder noch, dass Erin und ich beide darin verwickelt waren. Deshalb nimmt jeder an, dass wir für immer beste Freundinnen sein werden. Denn wie könnte man eine solch existentielle Erfahrung teilen und nicht ein Leben lang miteinander verbunden sein?
Wenn Erin es mir nicht gesagt hätte, wäre ich an jenem Tag vermutlich nicht auf den Rücksitz geklettert. Ich hatte so schreckliche Angst, dass wir ertrinken würden, dass ich nur dasitzen und weinen konnte. Ich war vor Angst wie gelähmt. Aber Erin sorgte dafür, dass ich nach hinten kletterte. Sie sorgte dafür, dass ich den Kopf über Wasser hielt. Sie hat mich am Leben gehalten.
Das alles habe ich ihr zu verdanken. Ich verdanke ihr mein Leben.