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Heute war der schrecklichste erste Schultag meines Lebens.
Und das nicht mal deshalb, weil Erin nicht mit Jason sprechen wollte, als er zu ihr ging. Oder weil sie immer noch keine Ahnung hat, was los ist.
Es geht das Gerücht um, dass Blake schwul ist.
Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommen würde. Keine Ahnung, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hat. Wenn die Leute darüber Bescheid wussten, warum haben sie erst jetzt angefangen, darüber zu reden, und nicht schon vor längerer Zeit? Wer setzt im Oberstufenjahr plötzlich so ein Gerücht in die Welt?
Dabei hat Blake in der letzten Zeit überhaupt nichts getan, um auf sich aufmerksam zu machen. Er hat sich den ganzen Sommer über total zurückgezogen und die meiste Zeit in der Glasbläserei verbracht.
Nichts an ihm ist anders als sonst.
Ich bin die Einzige, die weiß, dass er schwul ist, und das habe ich nie jemandem erzählt. Blake kann sicher sein, dass er mir vertrauen kann…
Moment mal.
Dieser Tag am Ende des Schuljahres, mit Jason. Als ich damit herausgeplatzt bin, dass Blake schwul ist. Jason hat geschworen, es nicht weiterzusagen. Ich habe ihm geglaubt. Und tue es immer noch.
Aber wenn er es nicht verraten hat, wer dann?
In der zweiten Stunde haben Jason und ich Physik zusammen. Morgen werden uns unsere Plätze zugewiesen, heute kann jeder sitzen, wo er möchte. Ich halte uns zwei Plätze ganz hinten frei. Wir müssen reden.
Als Jason reinkommt, winke ich ihm zu. Er lächelt nicht, als er mich sieht, was ich eigentlich erwartet hätte. Aber das ist schon okay. Ich lächle ja auch nicht.
Jason setzt sich und sagt: »Hast du das mit Blake gehört?«
»Na klar. Die ganze Schule spricht darüber.« Ich versuche, nicht sauer zu sein, aber ich kann nicht anders. Außer mir ist Jason der Einzige, der über Blake Bescheid weiß. Wer außer ihm konnte darüber geredet haben?
Es klingelt. Keiner sagt mehr was. Nachdem unser Lehrer den Lehrplan verteilt hat und anfängt, ihn zu erläutern, klappe ich meinen Hefter auf und nehme ein Blatt Papier raus. Ich schreibe:
Woher wissen die Leute das mit Blake?
Ich falte den Zettel zusammen und schiebe ihn Jason rüber.
Er schreibt zurück:
Keine Ahnung.
Dann:
Außer uns beiden weiß es niemand. Wusste es niemand.
Was willst du damit sagen?
Hast du mit irgendwem über Blake gesprochen?
Natürlich nicht! Ich fasse es nicht, dass du mich das überhaupt fragst.
Wie sonst hätte es denn rauskommen sollen?
Ich war es nicht. Ich schwöre es.
Ich schaue Jason von der Seite an. Ich glaube, er sagt die Wahrheit. Warum hätte er es jemandem sagen sollen? Das passt einfach nicht zu ihm.
Nach dem Unterricht wartet Blake auf dem Gang auf mich. In dem ganzen Schulanfangschaos bemerkt zum Glück kein Lehrer, als mich Blake durch eine Seitentür nach draußen zerrt.
»Hast du es jemandem gesagt?«, fragt er.
»Nein!«
Blake sieht nicht überzeugt aus. »Bist du sicher?«
»Warum sollte ich dir das antun?«
»Ich weiß es nicht, Lani. Das versuche ich ja herauszufinden.«
»Ich hab es niemandem gesagt.«
»Und woher wissen dann alle Bescheid?«
Ich möchte Jason so gern glauben. Ich meine, ich glaube ihm ja auch. Ich musste ihn nur einmal fragen, ob er es nicht doch verraten hat. Offensichtlich war er verletzt, dass ich ihm nicht hundertprozentig vertraut habe, aber außer ihm weiß doch wirklich niemand Bescheid.
Blake kommt ganz dicht an mich heran. »Schwöre bei meinem Leben, dass du es niemandem gesagt hast.«
Ich kann nicht auf sein Leben schwören. Das hieße, das Schicksal herauszufordern. Wenn alles wieder gut werden soll, muss ich die Wahrheit sagen. Und zwar sofort.
»Versprich mir, nicht sauer zu sein, wenn ich es dir sage«, bitte ich.
»Mir was sagst?«
»Versprich mir erst, nicht sauer zu sein.«
»Das kann ich nicht versprechen.«
»Ich hab’s Jason erzählt.«
»Was zum…«
»Ich wollte es nicht! Es ist einfach so rausgerutscht!«
»Wie kann so was einfach so rausrutschen? Du hast mir versprochen, es nie weiterzuerzählen!«
»Er hat gesagt, er hätte geglaubt, du und ich, wir wären zusammen und ich…«
»Und dann hast du ihm erzählt, dass ich schwul bin? Konntest du nicht einfach sagen, dass wir nur Freunde sind?«
»Aber er hat gesagt…«
»Es ist doch egal, was er gesagt hat! Mein Leben ist vorbei! Verstehst du das?«
So wütend habe ich Blake noch nie erlebt. Nicht mal nach den schlimmsten Streits mit seinem Dad.
Ich fange an zu weinen. »Es tut mir leid. Es ist einfach so aus mir herausgeplatzt!«
Blake schaut mich voller Verachtung an. »Ich habe dir vertraut«, sagt er.
»Du kannst mir immer noch vertrauen. Lass es mich erklären. Er…«
»Behalt deine Erklärungen für dich«, erwidert Blake und wendet sich ab.
»Warte, lass mich doch…«
»Was auch immer du sagst, du kannst es nicht wiedergutmachen. Jeder weiß Bescheid. Und du bist schuld.«
Blake stürmt davon. Weg von der Schule.
Ich laufe über die Wiese hinter ihm her. Mit ihm Schritt zu halten, ist echt schwer. Er ist viel größer als ich. Er ist so schnell, dass ich rennen muss, um ihn zu erreichen.
Ich versuche noch einmal, es zu erklären. »Bitte…«
»Wie konntest du mir das antun?«
»Jason hat gesagt, er würde es niemandem weitererzählen.«
»Da kannst du mal sehen, wie gut das geklappt hat.«
»Ich glaube nicht, dass er es verraten hat.«
»Hast du es noch jemandem erzählt?«
»Nein!«
»Und wer sollte es dann weitererzählt haben, Lani? Wenn du die Einzige bist, die Bescheid wusste?«
»Keine Ahnung. Aber Jason war es nicht. Ich habe ihn gerade in der Physikstunde gefragt und ich konnte ihm ansehen, dass er es nicht war.«
Er bleibt stehen. »Okay, denk mal nach. Wo wart ihr, als du es ihm gesagt hast?«
»Außer uns war niemand im Raum…«
»Ihr wart in einem Klassenraum?«
Ich nicke.
»In welchem?«
»Ähm.« Ich weiß es nicht mehr. Es war bewölkt. Der Raum war dunkel. Jason…
»In welchem?«
»Neben dem Aufenthaltsraum. Eins siebzehn.«
»Und außer euch beiden war niemand sonst drin?«
»Nein.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Hast du das überprüft?«
Hab ich nicht. Ich meine, man geht in ein leeres Klassenzimmer, es ist dunkel, man sieht niemanden herumsitzen, da nimmt man doch wohl an, dass der Raum leer ist.
»Wie auch immer«, sagt Blake.
Als er jetzt geht, lasse ich ihn ziehen. Ich an seiner Stelle würde auch gehen. Ein paar von unseren Mitschülern können echt brutal sein. Ich kann es nicht fassen, dass Leute immer noch Vorbehalte gegen Homosexuelle haben. Inzwischen sollte das doch längst vorbei sein. Warum kann denn nicht jeder einsehen, dass wir alle nur Menschen sind – unterschiedlich, aber doch gleich?