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Als Oberstufenschüler sollte man über die Aussicht, dass bald alles vorbei ist, vor Freude komplett ausflippen. Ich wünschte, ich könnte so glücklich sein wie alle anderen. Aber das Glück macht einen Bogen um mich. Acht Monate von jetzt an gerechnet sind alles andere als bald. Bis Juni ist es noch eine Ewigkeit.
Ich hatte mir das Abschlussjahr vollkommen anders ausgemalt. In meiner Vorstellung wären wir alle zusammen gewesen und hätten einen Megaspaß gehabt. Wir hätten uns null Gedanken über Hausaufgaben oder Noten gemacht, nachdem unsere Collegebewerbungen abgeschickt wären. Wir hätten uns auf die wirklich wichtigen Dinge konzentriert.
Nichts davon ist wahr geworden.
Vor zwei Wochen hat Connor mir Jasons Zettel gegeben. Ich habe jede Nacht vor Sehnsucht geweint.
Als hätte ich nicht bereits genügend Probleme, kann ich jetzt meine Englisch-Hausaufgaben nicht finden, die ich heute abgeben muss. Eigentlich waren sie genau hier in dieser Mappe. Ich war sogar schon einen Tag früher damit fertig, weil ich nichts Besseres zu tun hatte.
Ich durchsuche meinen gesamten Ordner. Nichts.
Nachdem ich ungefähr den halben Inhalt meines Spinds auf den Boden geschmissen habe, finde ich hinter ein paar Büchern einen Zettel. Er ist vom letzten Schuljahr und in Jasons Geheimschrift verfasst. Keine Ahnung, wie er in meinen Spind geraten ist, weil ich eigentlich alle seine Zettel in einer Schachtel zu Hause aufbewahre.
Es muss ein Zeichen sein, dass ich den Zettel ausgerechnet jetzt finde.
Vielleicht aber auch nicht. Deshalb lege ich den Zettel in einen Hefter. Und suche weiter nach meiner verschwundenen Englischhausarbeit. Ich hocke mich hin und durchsuche alles, was auf dem Boden liegt.
Jemand kommt auf mich zu. Und bleibt vor mir stehen.
Ich kenne diese Sneaker.
»Hey«, sagt Jason.
Es fühlt sich so gut an, dass er mit mir spricht.
Ich habe Angst, ihn anzusehen.
Jason hilft mir, alles aufzuheben. »Was ist passiert? Eins dieser seltsamen Erdbeben, das nur den halben Gang erfasst hat?«
»So ähnlich.«
»Wie geht’s dir?«
»Ich bin traurig.« Ich stopfe die Sachen zurück in den Spind. Keinen Schimmer mehr, wonach ich gerade gesucht habe.
»Ich auch«, antwortet Jason.
Endlich schaue ich ihn an. Er sieht aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen.
»Ich schaff das nicht mehr«, sagt Jason. »Ich kann einfach ohne dich nicht sein.«
Ein paar Mitschüler beobachten uns. Bestimmt diskutieren sie darüber, wie skandalös wir uns gerade verhalten. Oh, seht nur, es reicht wohl nicht, dass Lani ihn Erin ausgespannt hat, jetzt muss sie auch vor der ganzen Schule mit ihm herumflirten. Was für ein Monster!
»Die Leute gucken«, flüstere ich.
»Ist mir egal«, antwortet er. »Wir müssen zusammen sein.«
Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich kann nicht herausbringen, was ich eigentlich sagen will.
Jason rückt einen Schritt näher. »Erin weiß doch schon alles. Sie ist bereits verletzt. Glaubst du wirklich, sie will, dass es dir so schlecht geht?«
»Sie wird nicht ewig so sauer sein. Wir müssen ihr Zeit geben.«
»Es geht aber nicht mehr um sie. Es geht um uns.« Jason zieht mich an sich. »Und es ist mir egal, wer uns sieht.«
Und dann küsst er mich.
Genau hier, mitten auf dem Gang, wo uns alle sehen können.
Er küsst mich.
Ich dachte, ich wüsste noch genau, wie es ist, wenn er mich küsst. Aber das hier ist unglaublich.
»Ich liebe dich«, sagt Jason.
Alle, die uns beobachten, hören auf zu reden, als er mich küsst. Und das heißt, ganz viele Leute haben gehört, dass Jason gesagt hat, er liebt mich.
»Hör auf, dich so zu verhalten«, sagt Jason. »Wovor hast du so viel Angst?«
Ich stehe unter Schock. So sehr, dass ich nichts sagen kann.
Alle starren uns an. Einige Sachen von mir liegen immer noch auf dem Boden. Ich komme zu spät zum Unterricht.
»Ähm…« Rasch hebe ich das restliche Zeug auf, stopfe es in den Spind und knalle die Tür zu. Mit zitternden Fingern stelle ich das Schloss ein. »Ich komme zu spät.«
Ich weiß, dass Jason sich wünscht, dass ich auch »Ich liebe dich« sage. Und dass wir zusammen sein sollten und es mir egal ist, was Erin davon hält. Aber das ist mir alles zu viel.
Jason sieht mich erwartungsvoll an. Ihn jetzt stehen zu lassen, ist das letzte, was ich will, aber was bleibt mir anderes übrig?
Zu spät zum Englischunterricht zu kommen, ist eine ernste Sache. Ms Bigelow zieht einem Punkte fürs Zuspätkommen ab. Aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Meine Englischnoten sind so schlecht, dass ein paar Punkte weniger auch nichts mehr ausmachen.
Ms Bigelow sagt: »Ich habe die Arbeiten bereits eingesammelt.« Sie wartet, dass ich meine abgebe. Deshalb muss ich jetzt gestehen, dass ich meine Arbeit nicht finden kann. Das wird sie mir unmöglich glauben.
»Ich kann meine Arbeit nicht finden«, sage ich.
»Wie bitte?«, erwidert Ms Bigelow, obwohl sie genau verstanden hat, was ich gesagt habe.
»Sie war in meiner Mappe, aber da ist sie nicht mehr. Deshalb bin ich zu spät gekommen.«
»Das wird ja immer besser.«
Sie glaubt mir kein Wort und beginnt mit dem Unterricht.
Ich weiß nicht, was genau mich zum Weinen bringt. Vielleicht ist es der Frust zu wissen, dass ich schon wieder als Lügnerin dastehe, obwohl ich die Hausaufgabe gemacht habe. Vielleicht ist es, weil Jason mich vor allen anderen geküsst und mir gesagt hat, dass er mich liebt, und ich ihn einfach stehen gelassen habe. Oder vielleicht, weil ich an jedem einzelnen Schultag merke, dass mich alle weiterhin hassen. Das kann einen fertigmachen.
Natürlich habe ich immer eine Packung Papiertaschentücher bei mir, nur ausgerechnet heute nicht. Ich kann nicht aufhören zu weinen, sosehr ich es auch will.
Ms Bigelow unterbricht den Unterricht. »Lani, alles in Ordnung bei dir?«, will sie wissen.
Ich nicke. Ich gebe mir Mühe, mich zu beruhigen. Aber ihre Frage macht es nur noch schlimmer.
Hinter mir maskiert jemand sein gehässiges Lachen als Niesen.
Ms Bigelow nimmt den Toilettenpassierschein und reicht ihn der Schülerin, die vor mir sitzt. »Gib das bitte Lani.« Feixend dreht Marnie sich um und reicht mir den Passierschein. Niemand hat Mitleid mit mir. Wahrscheinlich denken alle: Das hast du verdient, weil du so ein mieses Stück bist. Und übrigens glauben wir das mit der Hausaufgabe auch nicht.
Wenn Erin mir nun nie verzeiht? Wenn ich Jason ganz umsonst immer weiter aus dem Weg gehe?
Vielleicht ist doch nicht alles, was in unserem Leben passiert, vom Schicksal festgelegt. Vielleicht können wir doch beeinflussen, wie es weitergeht. Wenn man sich etwas fest genug wünscht, kann man dann sein Schicksal ändern? Oder wird das, was man sich wünscht, ohnehin wahr, ganz egal, was man tut?