KAPITEL

Feder.epsJetzt versteht ihr vielleicht, warum ich euch ausdrücklich gebeten habe, das letzte Kapitel nicht nachzuspielen. Solltet ihr diesen Rat nicht befolgt haben, ist es wirklich nicht meine Schuld, wenn ihr Probleme bekommt, weil ihr euch an den Boden gefesselt habt oder weil ihr den ganzen Nachmittag nackt herumlauft.

Jedenfalls nennen wir Schriftsteller das, was gerade passiert ist, einen »Teddybären-Striptease«. Das ist eine alte Erzählregel, die besagt: »Wenn in einem Buch ein explosiver Teddybär vorkommt, der Klamotten zerstören kann, dann muss dieser Teddybär vor dem Ende des Buches dazu benutzt werden, die Klamotten von jemandem zu zerstören.« Zufällig ist dieses Buch das einzige, in dem ein Teddybär vorkommt, der Klamotten zerstören kann, deshalb ist dies die erste, letzte und einzige Anwendung dieses literarischen Gesetzes.

Die Explosion hatte einen zu kleinen Radius, um auch die Bibliothekare zu treffen. (Leider!) Doch sie reichte gerade weit genug, um die Läufe ihrer Waffen in Luft aufzulösen. Und mich stürzte sie zudem in einen ungefähr anderthalb Meter tiefen Krater im Boden. Ich sah die Bibliothekare oben stehen, völlig verblüfft über das, was passiert war.

Ich verspürte einen Adrenalinstoß. Nicht weil ich immer noch in Gefahr war, sondern weil ich nun splitternackt mitten in einem Kriegsgebiet lag. Und trotz des tropischen Klimas fühlte sich die Nachtluft auf meiner Haut kühl an.

Mit schamrotem Kopf kletterte ich aus dem Loch und flitzte an den Bibliothekaren vorbei. Ich hielt nur kurz an, um mir meine Jacke zu schnappen – mitsamt der Überträgerlinse und der Wahrheitsfinderlinse, die beide obendrauf lagen.

Die Bibliothekare fanden endlich die Sprache wieder und nahmen brüllend die Verfolgung auf. Die Explosion hatte sie erschreckt, aber ein nackter Smedry anscheinend noch mehr. Ich versuchte, mir die Jacke vor meine empfindlichsten Körperteile zu halten, aber so konnte ich nicht richtig laufen. Und da es wichtiger war, meine Haut zu retten, als sie bedeckt zu halten, nahm ich die Jacke und die Linsen in die rechte Hand und rannte so schnell, wie ich konnte, durch den Zoo.

So kam es, dass ich im Adamskostüm um eine Ecke raste und prompt mit einer Gruppe zusammenstieß, die aus Aluki, Aydee, zwanzig mokianischen Kriegern und Kriegerinnen und Bastilles Mutter Draulin bestand.

Das war nicht gerade mein tollster Augenblick.

»Ein bibliothekarisches Killerkommando ist hinter mir her! Grmpf!«, rief ich und versteckte mich hinter Draulin, die ihre volle Crystin-Rüstung mit Helm trug.

Die Gruppe blickte in die Richtung, aus der ich gekommen war. Es waren keine Bibliothekare zu sehen. Wir warteten alle ein paar angespannte Augenblicke lang, dann blickte Draulin zu mir zurück. »Ähm, ist mit Ihnen alles in Ordnung, Lord Smedry?«

»Sehe ich aus, als wäre mit mir alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Nein, du siehst nackt aus«, erwiderte Aydee.

»Grmpf!«, sagte ich und bedeckte mich schnell wieder mit meiner Jacke. Ich versuchte mir die Ärmel um die Taille zu binden, aber da die Jacke zerschnitten war, hielt sie nicht so gut.

»Ah«, sagte Aluki nickend. »Ich kenne diese Geschichte. Unser König tut so, als trüge er unsichtbare Gewänder, um zu demonstrieren, wie dumm wir alle sind.«

»Ich glaube, die Geschichte geht anders«, sagte Draulin und musterte mich. »Und ich denke nicht, dass Lord Smedry uns etwas vorspielt. Auf seinen Armen sind Pulverspuren von einer Granate.«

Ich schaute meine Arme an und stellte fest, dass die Explosion ein bisschen verbranntes Schießpulver auf ihnen hinterlassen hatte. »Äh, ja«, sagte ich und hielt meine Jacke fest. »Und ich wurde wirklich von Bibliothekaren gejagt.«

»Dann ist es ja gut, dass wir gekommen sind«, bemerkte Draulin. »Bleiben Sie bei mir, Lord Smedry. Und Sie, Aluki, sollten mit Ihren Kriegern zur Bezirkswache laufen und melden, dass ein bibliothekarischer Stoßtrupp sich im Zoo herumtreibt. Wahrscheinlich haben die Eindringlinge uns hier gesehen, wollten aber eine direkte Konfrontation vermeiden.«

Der Mokianer salutierte und eilte mit seinen Kriegern davon. Draulin führte mich und Aydee zu einem Feld hinter uns, auf dem ein Glasvogel wartete. Dieser sah aus wie eine Eule. Ich hastete auf das Luftschiff zu, in der Hoffnung, darin etwas zum Anziehen zu finden. Beim Hineinsteigen erblickte ich Kaz, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf uns wartete.

Ich lief zu ihm. »Kaz! Du hast es geschafft! Du hast deinem Vater die Botschaft überbracht!«

Er zuckte bescheiden mit den Schultern. »Ich hätte kapieren sollen, warum du sie so formuliert hast. Als ich sie verkündet habe, schienen alle Luftschiffe augenblicklich zu beschleunigen.« Er sah mich an. »Gut möglich, dass du damit unser Verständnis der Talente revolutioniert hast. Wenn Paps’ Talent ausgetrickst werden kann, sodass er nicht mehr zu spät kommt … also, das ändert alles.«

»Das haben wir mit Aydees Talent doch auch schon gemacht«, sagte ich, als Draulin und Aydee an Bord kletterten. Wir standen in einer Art Frachtraum im Bauch der Glaseule. »Eigentlich hat sie mich auf die Idee gebracht.«

Die Kleine lächelte geschmeichelt, obwohl sie natürlich keine Ahnung hatte, was ich meinte. Ihr Talent funktionierte schließlich nur, weil sie fähig war, sich immer wieder täuschen zu lassen.

Obwohl … als Aydee zum Kopf der Eule lief, weil Draulin sie gebeten hatte, den Piloten zu unterstützen, glaubte ich in ihren Augen ein wissendes Funkeln zu sehen. Verstand sie doch, worum es ging? Wusste sie vielleicht sogar genau, was geschah, wenn wir sie durch Tricks dazu brachten, Dinge falsch zusammenzuzählen? Das Leben mit einem Smedry-Talent zwang einen manchmal, eigenartige Verhaltensweisen zu entwickeln. Ich hatte als Kind gelernt, dass die Leute mich dafür hassten, dass ich Dinge kaputt machte. Deshalb hatte ich aus Angst vor Ablehnung niemanden an mich herangelassen.

Konnte Aydee gelernt haben, sich selbst auszutricksen, indem sie, wenn sie Dinge zusammenzählen sollte, gar nicht erst zu rechnen versuchte, sondern einfach eine beliebige Zahl sagte?

Aber vielleicht deutete ich zu viel in diesen einen kurzen Blick hinein. Eigentlich hatte ich damals keine Ahnung, was Aydee dachte. Wartet mal einen Moment. Ich werde kurz mit ihr reden.

Okay, ich habe sie gefragt, und sie hat mir bestätigt, dass sie genau das tut. Außerdem hat sie gesagt: »Wenn du über den Niedergang von Tuki Tuki schreibst, dann vergiss nicht den Teil der Geschichte, in dem wir dich dabei ertappt haben, wie du nackt im Zoo herumgetollt bist. Ich glaube, da bist du wirklich durchgedreht, Cousin.«

Ähem. Lasst mich klarstellen, dass ich nicht herumgetollt bin. Und der Nackedei-Teil endete, als ich in der Glaseule von einer Mokianerin einen bunten Pareo bekam, den ich mir sofort um die Hüften schlang. Jetzt ist Schluss mit der Nacktheit. Den Rest dieses Kapitels könnt ihr nachspielen, wenn ihr wollt.

Ich stand auf dem Kopf, sang die amerikanische Nationalhymne und jonglierte mit den Füßen siebzehn lebende Forellen.

Oh, Moment. Ich hoffe, ihr hattet nicht nur so ein mokianisches Wickeltuch an wie ich. Tut mir leid.

Einen Augenblick später kam Aluki mit seinem Speer in der Hand die Bordleiter heraufgeklettert und rief: »Bibliothekare haben die Gefangenen aus dem Zoo und der Universität befreit! Das muss das Kommando gewesen sein, das Sie hat laufen lassen, Majestät.«

»Splitterndes Glas!«, fluchte ich. Jetzt war meine Mutter frei. Ihre Gefangenschaft hatte nicht lange gedauert.

Und ich wusste immer noch nicht, was ich glauben sollte. Doch als ich aus dem Frachtraum der Owlport hinausschaute, sah ich, wie mehrere Bibliothekare ihre Fledermausroboter direkt in die Seitenwände der Glaskuppel steuerten und diese durchbrachen, sodass die Bibliothekarstruppen, die draußen bereitgestanden hatten, nun auch in die Stadt eindringen konnten.

Tuki Tuki brannte. Überall gingen Hütten in Flammen auf. Schemenhafte Gestalten kämpften in der Nacht. Gellende Schreie zerrissen die Luft. Gruppen gingen aufeinander los und lieferten sich heftige Gefechte. Und im Hintergrund marschierte eine gewaltige Streitmacht der Bibliothekare – mit Spezialgewehren und riesigen Kampfrobotern – durch eine Bresche in der Stadtmauer herein.

In jenem Augenblick begriff ich, was es hieß, sich mitten in einem Krieg zu befinden. Und ich gelangte zu einer schrecklichen Erkenntnis.

Die Ritter von Crystallia waren keine Kavallerie, die uns in letzter Minute rettete. Zweihundert Leute, selbst wenn sie Meister der Kampfkunst waren, konnten in diesem Krieg das Blatt nicht wenden.

Tuki Tuki würde trotzdem fallen.

»Wir können abreisen«, sagte Draulin und gab einem Mokianer, der Verbindung zum Cockpit hatte, ein Handzeichen.

»Abreisen?«, fragte Kaz, als die Bordleiter hochgezogen wurde.

»Nach Nalhalla«, erklärte Draulin und verschränkte ihre gepanzerten Arme. »Wir sind schließlich nach Tuki Tuki gekommen, um Alcatraz herauszuholen. Nun können wir zurückkehren.«

»Was? Nein!«, rief Kaz. »Wir müssen kämpfen! Deshalb haben wir euch hergebracht, Draulin! Lasst die Bordleiter wieder herunter!«

Ich starrte nur hinaus auf das Schreckensszenario.

Draulin trat neben mich. »Ich weiß nicht, ob ich Sie dafür verfluchen soll, dass Sie uns in diesen Albtraum hineingezogen haben«, sagte sie zu mir, »oder ob ich Ihnen dankbar sein soll, dass Sie uns einen Grund geliefert haben, herzukommen und mitzukämpfen. Viele von uns wollten das, obwohl wir alle wussten, dass es völlig sinnlos war. Sie wollten lieber in einer großen Schlacht gegen die Bibliothekare sterben als miterleben, wie sie die Freien Königreiche zerschlagen, indem sie eines nach dem anderen erobern.«

»Verdammt, Draulin«, sagte Kaz. »Sind Ihre Ritter denn alle …«

»Sie hat recht«, unterbrach ich ihn, während die Glaseule startete. »Ich sehe es ein. Auch wenn die Ritter mitkämpfen, kann Mokia diesen Krieg nicht gewinnen. Wenn sie eine Chance gesehen hätten, eine Niederlage zu verhindern, wären sie den Mokianern längst zu Hilfe gekommen, nicht wahr, Draulin?«

»Es war eine schwierige Entscheidung«, erwiderte Draulin mit ernster Miene, und ich sah Schmerz in ihren Augen. »Es war, als müsste ein Chirurg sich zwischen zwei Patienten entscheiden, von denen der eine schwerer verletzt ist als der andere. Soll er demjenigen helfen, den er noch retten kann, und den Schwerverletzten sterben lassen? Oder soll er versuchen, den Schwerverletzten zu retten, und damit das Risiko eingehen, beide zu verlieren? Wir hielten Tuki Tuki für rettungslos verloren. Trotzdem wollten viele von uns herkommen, um die Mokianer zu unterstützen.«

»Ihr gebt also einfach auf?«, wollte Kaz wissen.

»Natürlich nicht«, erwiderte Draulin. »Nun, da wir hier sind, werden wir kämpfen. Und sterben. Aber ich habe die Pflicht, Alcatraz in Sicherheit zu bringen, und Sie und Aydee ebenfalls. Meine Brüder und Schwestern werden weiterkämpfen.«

Und verlieren. Die Eule stieg höher, und aus der Luft konnte ich nun sehen, wie riesig die Armee der Bibliothekare war.

Erneut hatte ich die Situation völlig verkannt. Ich hatte gedacht, ich könnte Tuki Tuki retten, doch das war ein Irrtum gewesen. So wie ich mit der Befreiung meines Vaters die ganze Welt in Gefahr gebracht hatte, so musste ich nun erkennen, dass meine Versuche, den Mokianern zum Sieg zu verhelfen, nicht nur sinnlos waren, sondern fatale Folgen haben würden. Nicht nur Tuki Tuki und ganz Mokia würden fallen, sondern auch die meisten Ritter von Crystallia.

Ich hatte absolut nichts erreicht.

Als ich klein war, hatten meine Bemühungen, nichts kaputt zu machen, alles nur schlimmer gemacht. Als ich für Joan und Roy ein Abendessen kochen wollte, ging ihre Küche in Flammen auf. Und als ich das Auto meines Pflegevaters polieren wollte, fiel es auseinander. An all das erinnerte ich mich nun wieder – an die Zeiten, in denen mein Talent mein Leben beherrschte.

Aber Dinge ändern sich. Perspektiven ändern sich. Die Ritter hatten sich nicht aus Feigheit geweigert, Mokia zu helfen. Sie hatten eine schwierige Entscheidung getroffen und es war die richtige Entscheidung gewesen. Doch ich hatte sie gezwungen, trotzdem nach Tuki Tuki zu kommen, und damit die Katastrophe noch verschlimmert.

»Wir sollen uns einfach verdrücken?«, fragte Kaz erregt.

»An Bord dieses Luftschiffs sind auch der König und die Königin von Mokia«, sagte Draulin. »In Nalhalla haben wir vielleicht eine Chance, sie aus dem Koma herauszuholen.« Sie klang allerdings nicht sehr zuversichtlich. »Sie haben erreicht, was Sie wollten. Erlauben Sie mir nun wenigstens, meine Schützlinge in Sicherheit zu bringen, bevor Tuki Tuki fällt.«

In meinem Herzen herrschte ein Aufruhr der Gefühle. Und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Ich wusste nicht, was ich fühlen oder denken sollte. Wieso erwies sich alles, was ich tat, als verkehrt? Die Ankunft der Ritter von Crystallia sollte die Situation retten, nicht verschlimmern.

»Was ist mit meinem Vater?!«, wollte Kaz wissen.

»Lord Smedry leitet die Evakuierung der Kinder und der Verwundeten«, erwiderte Draulin. »Er wird mit ihnen die Stadt verlassen.«

In meinem inneren Konflikt zwischen Herz und Verstand gewann ein Gedanke die Oberhand. Eine konkrete Vorstellung, an die ich mich klammern konnte.

Bastille war immer noch da unten. Und sie brauchte mich.

Ich ließ Draulin und Kaz stehen und rannte durch die Owlport. Das Luftschiff stieg immer höher und flog durch das Loch in der Kuppel – ich meine das Loch über der Stadt, nicht das in der Seitenwand. Unter meinen Füßen sowie links und rechts von mir waren Glaskabinen, doch die meisten nalhallischen Luftschiffe sind ganz ähnlich aufgebaut. Einen Augenblick später platzte ich ins Cockpit. Draulin und Kaz liefen und riefen mir hinterher. Sie klangen irritiert.

Auf den Pilotensitzen saßen Aydee und ein Nalhallaner, den ich nicht kannte. »Mein Name ist Alcatraz Smedry«, sagte ich laut. »Und ich übernehme nun das Kommando über dieses Luftschiff.«

Der Mann starrte mich erschrocken an, aber Aydee zuckte nur mit den Schultern. »Ich glaube, das darf er.«

»Fliegt uns da runter«, sagte ich und deutete auf das Lager der Bibliothekarsarmee vor der Stadt. Ich konnte das Zelt sehen, in das die Soldaten Bastille gebracht hatten.

»Lord Smedry«, sagte Draulin in missbilligendem Ton, »was haben Sie vor?«

»Ich will Ihre Tochter retten.«

Kurz zeigte Draulin Unsicherheit, doch dann sagte sie: »Bastille würde Sie in Sicherheit wissen wollen. Sie ist ein Ritter und …«

»Taff, ich weiß«, sagte ich. Dann wandte ich mich an Aydee, die die Owlport steuerte. »Bring uns da runter.«

»Okay …«, sagte sie. Das Luftschiff war nicht besonders wendig – es war eigentlich für Truppentransporte bestimmt – und ruckelte in der Luft, als Aydee das Lager der Bibliothekare anflog.

Der größte Teil der Armee war damit beschäftigt, in Tuki Tuki einzumarschieren. Deshalb war es im Lager relativ ruhig. Aber die Bibliothekare hatten Wachposten aufgestellt und ein paar Tausend Soldaten als Reserve zurückgelassen. Das Zelt mit den Gefangenen befand sich hinter dem Lager. Die Zeltklappen begannen zu flattern, als die Owlport zur Landung ansetzte.

Etwa ein Dutzend Wachen kamen herausgerannt. »He, Aydee«, sagte ich. »Wenn wir sechs plus sechs Wachen haben, wie viele sind das dann insgesamt?«

»Äh … vier?«

»Sehr gut«, sagte ich. Und plötzlich waren da nur noch vier Wachen. Die anderen acht hatte Aydees Talent irgendwohin geschickt. Hoffentlich machten sie dort nicht zu viel Ärger. »Draulin, Kaz, ihr kümmert euch um die vier Wachen.«

»Mit Vergnügen«, sagte Kaz, der seine Kriegerbrille aufgesetzt hatte. Als die Glaseule sich nach der Landung hinhockte, damit wir aussteigen konnten, zog er seine Pistolen.

Draulin warf mir einen gequälten Blick zu, aber dann öffnete sie eine Seitentür, aus der ein Treppchen zum Boden hinabführte, und folgte Kaz hinaus. Die beiden stürmten los, um die Wachen anzugreifen.

Das war in erster Linie ein Ablenkungsmanöver. Ich nahm den anderen Ausstieg und rutschte einen Flügel hinunter. Der Boden des Lagers war mit großen Blättern und Farnwedeln aus dem Dschungel ausgelegt, die die Bibliothekare während ihrer monatelangen Belagerung plattgetrampelt hatten. Sie raschelten, als ich um das Zelt herum zur Rückseite lief und hineinschlüpfte.

Die Bibliothekare hatten ihre Gefangenen in Reihen hingelegt. Ich entdeckte Bastille etwa in der Mitte einer Reihe. Sie schlief in ihrem engen weißen Shirt und ihren Uniformhosen. Im Zelt lagen noch ein paar Dutzend andere – mokianische Offiziere oder Generale, die die Bibliothekare für wertvolle Gefangene hielten.

Ich fühlte mich mies, weil ich sie alle zurückließ, aber was sollte ich sonst tun? Es war schon verrückt genug von mir, Bastille herauszuholen, da es uns wahrscheinlich nicht gelingen würde, sie aufzuwecken. Aber da ich den Niedergang von Tuki Tuki nicht verhindern konnte und ohnehin schon so viele Fehler gemacht hatte, musste ich zumindest versuchen, auch etwas Richtiges zu tun.

Ich legte mir Bastille über die Schulter und stapfte schwankend (sie ist ganz schön schwer, aber erzählt ihr nicht, dass ich das gesagt habe) dort hinaus, wo ich hereingekommen war. Draulin klopfte sich gerade die Hände ab und Kaz steckte seine Pistolen wieder ein. Die vier Wachen lagen bewusstlos vor den beiden auf dem Boden.

Da traf eine Kanonenkugel die Owlport in die Seite und schlug einen Flügel ab.

Ich blieb stolpernd stehen. Eine weitere Kanonenkugel folgte, die der Eule die Füße wegschlug, sodass das große Luftschiff zur Seite kippte. Ich hörte Aydee drinnen aufschreien, als es umfiel. In der Nähe hatten ein paar Soldaten eine Kanone in Stellung gebracht und davor lief die Reservetruppe zusammen.

»Nein!«, schrie ich.

Draulin warf mir einen vernichtenden Blick zu, der ausdrückte: »Das ist Ihre Schuld, Smedry.« Dann zog sie ihr Schwert und rannte auf die Bibliothekare zu. »Laufen Sie weg!«, brüllte sie zu mir zurück. »Verschwinden Sie im Wald.«

Ich stand nur da. Ich konnte Bastille nicht mitschleppen, wollte sie aber auch nicht zurücklassen.

Draulin griff eine Truppe von mehreren Hundert Soldaten an. Das erschien mir wie eine Metapher für alles, was während dieser ganzen Belagerung schiefgelaufen war. Doch diesmal fand ich die Situation nicht nur zum Kotzen oder zum Verzweifeln. Sie machte mich rasend.

»Haut ab!«, schrie ich den näher rückenden Bibliothekaren entgegen. »Lasst uns in Ruhe!«

Da regte sich etwas in mir. Es fühlte sich groß und stark an, als würde in mir eine Riesenschlange erwachen und sich winden.

»Ich will, dass alles wieder Sinn macht!«, schrie ich. Die Rettung von Bastille lief genauso schief wie alles andere. Draulin und Aydee würden wegen mir in Gefangenschaft geraten und Bastille würde im Koma bleiben.

Ich hatte Bastille enttäuscht.

Ich hatte die Mokianer enttäuscht.

Ich hatte alle Freien Königreiche enttäuscht.

Das war zu viel. Eine unheimliche Kraft stieg in mir auf. Um mich herum begannen Felsen zu zerbrechen und aufzuplatzen wie Popcorn. Das Zelt hinter mir zerriss in kleine Fetzen und fiel in sich zusammen.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich mein Talent nicht kontrollieren konnte, in der ich das nicht einmal versucht hatte. In diese Zeit fühlte ich mich nun zurückversetzt.

Alcatraz der Erste hatte das Bruchtalent das »Dunkle Talent« genannt. Doch manchmal ist die Dunkelheit hilfreich. Sie stieg in mir auf, brach aus mir heraus und breitete sich über mir aus wie eine riesige bedrohliche Wolke.

Die Berichte über diesen Tag sind widersprüchlich. Manche behaupten, sie hätten mein Talent gesehen – als Geist in Gestalt einer Riesenschlange mit brennenden Augen. Andere hatten nur das starke Erdbeben gespürt, das ich auslöste. Es erschütterte die ganze Umgebung und ließ um Tuki Tuki herum große Erdspalten aufbrechen.

Von alldem bekam ich nichts mit. Ich befand mich inmitten von etwas, das sich wie ein heftiger Wirbelsturm anfühlte, der um mich herum tobte. Es versuchte, sich zu befreien, sich völlig aus mir herauszureißen, doch ich packte es, hielt es fest und zwang es in mich zurück.

Den Berichten zufolge dauerte das Ganze nur zwei Herzschläge lang. Ich hatte das Gefühl, stundenlang mit diesem Ding zu kämpfen, das ich losgelassen hatte und das mir eine Mischung aus panischer Angst und Ehrfurcht einflößte. Mit aller Kraft zog ich es in mich zurück und brachte es unter Kontrolle – in nur einer Sekunde.

Ich stand da und blinzelte verwundert in die Nacht. Um mich herum klafften tiefe Risse in der Erde. Die Bibliothekare, die auf mich zugestürmt waren, hatte es umgehauen. Sie lagen kampfunfähig auf dem Boden.

Doch in Tuki Tuki gingen die Kämpfe leider unvermindert weiter. Ich war noch nicht fertig. Ich dachte an das Ding in mir und wusste plötzlich, was ich zu tun hatte. Ich griff in meine Tasche und zog die übrig gebliebene Überträgerlinse aus ihrem Beutel. Bastille lag neben mir auf dem Boden. Ich kniete mich hin, strich ihr das Haar zurück und legte ihren Körperstein frei, der in ihren Nacken implantiert war. Er war aus Kristall, klar und rein wie ein großer Diamant.

Dieser besondere Kristall verband alle Ritter von Crystallia miteinander. Ich hob die Überträgerlinse hoch, blickte durch sie auf den Körperstein und versuchte mein Talent durch Willenskraft dazu zu bringen, in diesen Stein überzugehen.

Doch mein Talent bockte wieder. Ich spürte, dass es vor Wut kochte, weil ich seine Zerstörungsorgie beendet hatte. Ich knirschte vor Ärger mit den Zähnen, aber ich war so erschöpft von allem, was passiert war, dass ich es nicht zum Gehorsam zwingen konnte.

Also versuchte ich es mit einer anderen Taktik. Ich muss es austricksen, dachte ich. Grandpa musste man glauben machen, er sei zu spät dran, damit er rechtzeitig eintraf. Aydee musste man mit Rechenaufgaben verwirren, damit sie falsch zusammenzählte.

Was musste ich tun, damit mein Talent sich aktivierte? Ich muss denken, dass es etwas Wichtiges zerbricht, dachte ich. Während meiner Kindheit hatte mein Talent sich immer aktiviert, um Dinge zu zerbrechen oder zu zerstören, die mir oder den Menschen, die sich um mich kümmerten, wichtig waren. Als ich daran dachte, hasste ich mein Talent wieder. Aber dafür war jetzt keine Zeit.

Ich konzentrierte mich auf den Körperstein und dachte daran, wie viel mir an Bastille lag, wie wichtig sie mir in der letzten Zeit geworden war und dass sie sterben würde, wenn dieser Stein zerbrach. Da schoss das Talent voller Zerstörungslust aus mir heraus, doch ich hielt die Überträgerlinse hoch und leitete es durch sie in Bastilles Körperstein.

Ich spürte, wie ich schwächer wurde, als etwas sehr Mächtiges durch diese Linse gezogen und in den Stein in Bastilles Nacken geschickt wurde.

Es zehrte an mir und saugte meine letzte Kraft aus mir heraus.

Schließlich wurde mir schwarz vor Augen und ich brach zusammen.