KAPITEL 1010

Feder.epsOkay, ich kann nicht anders. Ich habe dreieinhalb Bücher geschrieben. Ich habe meine Zunge gehütet. (Nur im übertragenen Sinn, nicht weil mir die Zunge abgeschnitten wurde wie dem Kerl im 5. Akt.) Aber ich platze gleich.

Es ist Zeit, über Religion in den Ländern des Schweigens zu reden.

Ihr Freien Untertanen findet die schweigeländischen Religionen vielleicht verwirrend. Schließlich unterscheiden sie sich sehr stark voneinander, und ihre Anhänger sind alle so gut darin, sich gegenseitig anzubrüllen, dass kaum zu verstehen ist, wer was sagt. Doch falls ihr mal Länder des Schweigens infiltrieren und Mundtote spielen müsst, müsst ihr euch zur Tarnung wahrscheinlich einer der dortigen Glaubensgemeinschaften anschließen. Deshalb habe ich für euch eine praktische Anleitung verfasst.

In den schweigeländischen Religionen geht es im Grunde um Nahrung.

Ja, richtig, um Essen und Trinken. Wenn ihr die Gebote der einen oder anderen Religion befolgt, dürft ihr gewisse Nahrungsmittel nicht zu euch nehmen. Wenn ihr Hindus werdet, esst ihr zum Beispiel kein Rindfleisch mehr. Mormonen trinken weder Alkohol noch Kaffee. Katholiken dürfen so ziemlich alles essen und trinken, was sie wollen, doch einen Monat im Jahr müssen sie auf Sachen, die sie mögen, verzichten. Und Muslime dürfen im Fastenmonat Ramadan tagsüber gar nichts essen.

Welche Religion ist also die beste? Nun, das kommt ganz darauf an. Wenn ihr mich nach meiner Expertenmeinung fragt, würde ich sagen, der Judaismus.

Aber nur, weil ich gerne den Weg des geringsten Widerstands wähle.

Wir standen im Dunkeln auf der Holzpalisadenmauer von Tuki Tuki und beobachteten, wie die Riesenroboter der Bibliothekare haushohe Stäbe in den Boden rammten, die in der Nacht blau leuchteten. Sie erhellten das Feldlager der Armee, in dem jetzt ein geschäftiges Treiben herrschte. Männer und Frauen suchten ihre Waffen zusammen und formierten sich.

»Was sind das für Stäbe?«, fragte Angola.

»Sie scheinen aus irgendeinem Spezialglas zu sein«, meinte Aydee.

»Nein«, widersprach Kaz und rieb sich das Kinn. Er stand auf einem Tritthocker und blickte auf das Lager der Bibliothekare hinab. »Dieser Krieg wird von der Sekte der Geborstenen Linse geführt.«

»Von wem?«, fragte ich.

Bastille rollte die Augen ob meiner Unwissenheit.

»Die Geborstene Linse ist eine Bibliothekarssekte, Al«, sagte Kaz. Er war nicht nur Experte für Talente und okulatorische Verzerrungen, sondern auch für Bibliothekare. »Du kennst bereits die Dunklen Okulatoren, die Gebeine des Schreibers und die Wächter der Standarte. Die letzte und wahrscheinlich größte Sekte ist die der Geborstenen Linse. Die drei anderen Sekten dulden silimatische Technologien und Okulatorenlinsen. Sie benutzen sie sogar. Aber diese vierte …«

»Sie nicht?«, fragte ich.

»Nein. Ihre Mitglieder verabscheuen Glas in jeglicher Form«, fuhr Kaz fort. »Sie nehmen Bibliodens Lehren sehr wörtlich. Er missbilligte alles ›Fremde‹ wie Magie und Silimatik. Die anderen Sekten legen seine Lehren so aus, dass Linsen und Gläser sehr sorgfältig kontrolliert werden müssen, deshalb dürfen nur die wichtigen Leute sie benutzen. Wie alle Bibliothekare verheimlichen sie die Wahrheit vor den meisten Mundtoten, aber sie haben keine Skrupel, Technologien und Ideen der Freien Untertanen zu übernehmen, wenn sie ihnen nutzen.

Die Sekte der Geborstenen Linse ist anders. Ganz anders. Ihre Mitglieder vertreten die Auffassung, dass Linsen und silimatische Gläser unter keinen Umständen benutzt werden dürfen, nicht einmal von Bibliothekaren. Sie betrachten die ganze Technologie der Freien Königreiche als ein abscheuliches Übel.«

Ich nickte langsam. »Und was ist mit den Scherbenhaufen, an denen wir auf dem Weg durch ihr Lager vorbeigelaufen sind?«

»Sie veranstalten Glasvernichtungsrituale«, sagte Angola leise. »Sie versammeln sich zu Gruppen und zertrümmern Gegenstände aus Glas. Selbst normales Glas, das keine okulatorischen oder silimatischen Kräfte besitzt. Das ist für sie ein symbolischer Akt.«

»Die anderen Bibliothekarssekten lassen diese Sekte die Kriege führen«, fügte Kaz hinzu. »Teilweise vermutlich, um sie fernzuhalten. Falls die Freien Königreiche je fallen sollten, würden in den Reihen der Bibliothekare Machtkämpfe ausbrechen. Solange alle Bibliothekare gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen, arbeitet die Sekte der Geborstenen Linse mit den Dunklen Okulatoren und den Gebeinen des Schreibers zusammen. Aber sollten sie uns je besiegen, bräche wahrscheinlich ein Bürgerkrieg aus, in dem die Sekten um die Vorherrschaft kämpfen.«

Bastille nickte. »Ein weltweiter Bürgerkrieg«, sagte sie leise. »Dann würde die ganze Menschheit zum Spielball der vier Bibliothekarssekten. Die Mitglieder der Geborstenen Linse würden die Dunklen Okulatoren jagen, um sie zu töten. Die Wächter der Standarte würden versuchen, die Situation durch geschicktes Taktieren unter ihre Kontrolle zu bringen. Und die Gebeine des Schreibers würden für die Seite arbeiten, die sie am besten bezahlt …«

Wir verfielen in Schweigen. Die Armee da draußen war groß. Ich blickte zurück auf die Stadt. In Tuki Tuki gab es vielleicht fünf- oder sechstausend mokianische Krieger – Männer und Frauen. Die Bibliothekare konnten mindestens die vierfache Truppenstärke aufbieten und waren mit futuristischen Schusswaffen ausgerüstet. Die Riesenroboter rammten immer mehr Leuchtstäbe in den Boden, rund um die Stadt.

Angesichts dieser beängstigenden Übermacht begann ich endlich zu begreifen, worauf ich mich da eingelassen hatte. In diesem Augenblick erfand ich das Wort dummissimanisch. Es bedeutet: ungefähr so dumm und verrückt wie Alcatraz Smedry, als er sich genau an dem Tag nach Tuki Tuki durchschlug, an dem die Bibliothekare in die Stadt einfielen.

Es ist ein sehr spezielles Wort, ich weiß. Trotzdem konnte ich es in meinem bisherigen Leben schon erstaunlich oft benutzen.

»Diese Stäbe sind also nicht aus Glas«, sagte ich. »Woraus sind sie dann?«

»Aus Plastik vielleicht«, mutmaßte Bastille. »Es könnte sich um irgendeine glaszerstörende Technologie handeln. Vielleicht funktioniert das Kommunikationsglas deshalb nicht mehr.«

»Vielleicht sind die Dinger auch nur zur Beleuchtung da«, sagte Aydee. »Schaut doch. Ihr Licht ist so hell, dass die Bibliothekare agieren können, als wäre es Tag. Es sieht so aus, als würden sie einen Angriff vorbereiten.« Sie stand auf einem Schemel, um mehr zu sehen, doch nun zog sie den Kopf ein, als wollte sie sich hinter der Brüstung verstecken.

Da fiel mir etwas ein. Ich holte die Botenlinsen aus meiner Tasche und setzte sie auf.

Den Mundtoten unter euch mag es merkwürdig erscheinen, dass wir so viele verschiedene Möglichkeiten hatten, über größere Entfernungen miteinander zu kommunizieren. Aber wenn man es sich recht überlegt, macht das Sinn. Wie viele verschiedene Kommunikationsmöglichkeiten gibt es denn in den Ländern des Schweigens? Telefon, Fax, Telegramme, Internet-Telefonie, E-Mails, normale Post, SMS, Flaschenpost, Radio, richtig laut brüllen, Zeppeline mit aufgedruckten Werbebotschaften, Himmelsschreiben durch kleine Flugzeuge, Voodoo-Boards, Rauchzeichen etc.

Miteinander zu kommunizieren ist ein menschliches Grundbedürfnis. Und mit weit entfernten Leuten kommunizieren zu können ist fast noch wichtiger, denn dann kann man sich über sie lustig machen, ohne dass sie einen treten können.

Übrigens, habe ich schon erwähnt, wie hässlich eure Klamotten sind? Also wenn ihr das nächste Mal ein Buch von mir lest, versucht euch bitte etwas besser anzuziehen. Schließlich könnte euch jemand sehen und ich habe einen Ruf zu verlieren.

Ich konzentrierte mich, lud die Botenlinsen mit Energie auf und versuchte, mit meinem Großvater Verbindung aufzunehmen. Sogleich erschien sein Gesicht vor mir, aber das Bild war blass und verschwommen.

Alcatraz, mein Junge!, rief Grandpa. Ich hatte gehofft, du würdest die Botenlinsen benutzen. Was ist los? Warum funktioniert das Kommunikationsglas nicht mehr?

»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Die Bibliothekare bereiten draußen vor der Stadt irgendetwas vor. Sie rammen große leuchtende Stäbe in den Boden. Vielleicht liegt es an denen.«

Während ich sprach, packte einer der Roboter einen weiteren Stab. Als er ihn in den Boden stieß, verschwammen die Konturen von Großvaters Gesicht noch mehr.

»Grandpa, haben wir die Ritter überzeugt?«, fragte ich hastig.

Denke … genug … Hilfe …, erwiderte Grandpa. Seine Stimme wurde zwischendurch so leise, dass ich sie nicht mehr hörte. Sie wissen … König noch … Majestät retten

»Ich kann dich nicht verstehen!«, rief ich. Ein weiterer Roboter hob einen Stab in die Luft, um ihn in den Boden zu rammen.

Ich legte die Hände seitlich an die Brille, konzentrierte mich und leitete meine ganze Energie in die Linsen. Ich strengte mich mächtig an und biss die Zähne zusammen. Zu meinem Entsetzen begann das Glas zu glühen, so stark und hell, dass ich die Augen schließen musste. Die vorhin so schwache Stimme meines Großvaters war nun wieder deutlich zu hören.

Lockende Lovecrafts, was für ein Schlamassel! Ich sagte, dass ich sie schon fast überzeugt habe. Ich werde sie mitbringen, Junge, und jeden anderen, den ich zum Mitkommen überreden kann. Wir werden bald bei euch sein. Haltet irgendwie bis zum Morgen durch! Hörst du mich noch, Alcatraz? Bis zum ersten Morgenlicht. Äh, na ja, nein, ich werde mich sicher verspäten. Wie so oft. Aber bis zum zweiten Morgenlicht sind wir da. Spätestens bis zum dritten. Versprochen!

Der nächste Roboter stieß den Stab in die Erde. Die Stimme meines Großvaters wurde wieder undeutlich. Ich versuchte es mit einer weiteren Ladung Energie, aber ich hatte es übertrieben. Mein Talent aktivierte sich und meine Bruchkraft vermischte sich mit meiner okulatorischen Energie. Ich hatte Mühe, die beiden Kräfte voneinander zu trennen. Sie waren wie zwei völlig verschiedene Farben, die sich in mir vermengten. Wenn ich eine benutzte, wollte immer etwas von der anderen hineinfließen.

Die Bruchkraft strömte durch meine Hände heraus, ehe ich wusste, wie mir geschah, und zerbrach das Brillengestell, sodass die Linsen herausfielen. Ich fing sie gerade noch auf. Mir wurde klar, dass sie leider nicht mehr funktionieren würden, solange die Stäbe der Bibliothekare ihnen diesen Widerstand entgegensetzen, den ich gespürt hatte. Zögernd ließ ich die Linsen in meine Tasche gleiten.

»Was hat er gesagt?«, fragte Aydee gespannt.

»Er kommt«, erwiderte ich. »Mit den Rittern von Crystallia.«

»Wann?«, fragte Bastille.

»Also … er hat keine genaue Zeit genannt …« Ich verzog das Gesicht. »Er sagte, am frühen Morgen. Wahrscheinlich.«

»Wahrscheinlich?«, wiederholte Mallo. »Junger Smedry, ich weiß nicht, ob ich es unter diesen Umständen verantworten kann, so viele Menschenleben aufs Spiel zu setzen.«

»Auf meinen Großvater ist Verlass«, behauptete ich. »Er hat mich noch nie hängen lassen.«

»Außer als er zu spät kam, um den Sand von Rashid vor den Bibliothekaren zu sichern«, fügte Bastille hinzu. »Oder … na ja, als er zu spät kam, um deine Mutter daran zu hindern, die Übersetzerlinsen aus der Bibliothek von Alexandria zu stehlen. Oder als er zu spät kam, um …«

»Danke, Bastille«, unterbrach ich sie gereizt. »Das war wirklich hilfreich.«

»Ich denke, wie wissen alle um das Talent meines Vaters«, sagte Kaz und stellte sich neben mich. »Aber ich kenne Leavenworth Smedry besser als sonst irgendwer, nun da Mama tot ist. Wenn Paps sagt, dass er Hilfe herbringt, dann können Sie auf ihn zählen. Vielleicht kommt er ein bisschen später, aber das wird er mit Stil wettmachen.«

»Stil wird meine Leute nicht vor den Waffen der Bibliothekare schützen«, wandte Mallo kopfschüttelnd ein. »Ich schätze Ihre Hilfsbereitschaft, aber Ihre Versprechungen sind vage.«

»Bitte«, sagte ich. »Sie müssen uns eine Chance geben, Majestät. Wenigstens bis zum Morgen. Was haben Sie zu verlieren, wenn Sie darüber schlafen?«

»An Schlaf ist nicht zu denken«, sagte Mallo und deutete mit dem Kopf über die Brüstung. »Schauen Sie.«

Ich folgte seinem Blick. Die Riesenroboter hatten aufgehört, um die Stadtmauer herum Leuchtstäbe in den Boden zu rammen. Nun marschierten sie zu einem großen Haufen Felsbrocken hinüber, der am Rand des Lagers aufgetürmt worden war.

»Unsere Ruhepause ist vorbei«, stellte Mallo grimmig fest. »Die Bibliothekare haben unsere Kapitulation gefordert, und da ich keine Antwort zurückgeschickt habe, sieht es nun so aus, als würden sie ihre Angriffe fortsetzen. Ich dachte, sie würden warten, bis es hell wird, aber Sie wissen ja, was man über Spekulationen sagt.«

»Wollen Sie etwa einen Spekulantenwitz erzählen?«, fragte ich.

Mallo sah mich missbilligend an. »Nein. Ich wollte ein altes mokianisches Sprichwort zitieren, das unser Volk seit über sechs Jahrhunderten mit großem Respekt benutzt.«

»Oh«, sagte ich verlegen. »Äh, tut mir leid. Wie lautet es?«

»Nur Narren vergeuden ihre Zeit mit Spekulationen«, sagte Mallo mit ehrfurchtsvoller Stimme.

»Nettes Sprichwort.«

»Mokianische Philosophen kommen gern auf den Punkt«, bestätigte Mallo.

»Wie auch immer, wenn wir uns ergeben, dann müssen wir es jetzt tun. Diese schrecklichen Roboter werden bald wieder anfangen, Felsbrocken zu werfen, und das Abschirmglas wird dem Beschuss nicht mehr lange standhalten.«

»Wenn Sie aufgeben, ist das das Ende von Mokia«, sagte Bastille.

»Bitte«, flehte ich. »Geben Sie uns mehr Zeit. Warten Sie nur ein bisschen länger!«

»Gemahl«, schaltete Angola sich ein und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Die meisten unserer Landsleute würden lieber sterben als den Bibliothekaren in die Hände zu fallen.«

»Ja«, sagte Mallo. »Aber manchmal muss man Menschen auch gegen ihren Willen schützen. Unsere Krieger denken nur an die Ehre. Aber ich muss an die Zukunft denken und abwägen, was für unser gesamtes Volk das Beste ist.«

König Mallos Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an. Er verschränkte seine kräftigen Arme. Einer seiner Krieger hielt seinen Speer für ihn. Er starrte über die Brüstung der Holzmauer auf die Bibliothekarsarmee hinab.

Für den Fall, dass einige von euch Mallo für einen Feigling halten, weil er eine Kapitulation überhaupt in Erwägung zog: Falls ihr mal für Tausende von Menschenleben verantwortlich seid, könnt ihr ja schnelle Entscheidungen treffen, wenn ihr wollt. Mallo wollte jedoch vorher nachdenken.

Alles verändert sich. Nichts bleibt, wie es ist, nicht einmal Königreiche. Manchmal muss man das akzeptieren.

Doch manchmal verändert sich etwas so schnell, dass man nicht einmal Zeit hat, darüber nachzudenken. Ich erinnere mich nur bruchstückhaft an das, was als Nächstes passierte. Wir standen auf der Mauer und warteten darauf, dass Mallo seine Entscheidung traf. Und plötzlich waren die Bibliothekare da.

Offenbar kamen sie aus einem Tunnel, den sie unter der Stadtmauer hindurchgegraben hatten. Den Tunnel konnte ich nicht sehen, doch ich sah eine Gruppe von Fliegenträgern an der Mauer entlang auf uns zustürmen, mit Waffen, die Lichtkugeln abschossen.

Kaz verschwand. Sein Talent sorgte dafür, dass er sich irgendwohin verirrte.

Im Nu standen drei mokianische Krieger vor Aydee, um sie zu beschützen. Vorher waren da nur zwei gewesen, aber ihr Talent hatte sofort einen Dritten herbeigeholt.

Mein Talent zerbrach ein paar Feuerwaffen, aber einige Bibliothekare hatten Bögen dabei, mit denen sie Pfeile nach uns schossen. Bastille, die sofort ihr Schwert gezogen hatte, wirbelte herum und schlug die Pfeile aus der Luft.

Im Ernst. Sie holte sie tatsächlich aus der Luft! Spielt nie Baseball gegen eine Crystin.

Die mokianischen Krieger kämpften mit ihren Speeren, die ebenfalls Lichtsalven abfeuerten.

In wenigen Sekunden war alles vorbei. Ich war der Einzige, der sich nicht gerührt hatte. Ich hatte keine Kampfausbildung und verstand nichts vom Krieg – ich war nur ein dummer Junge, der sich in eine Situation gebracht hatte, die ihn überforderte. Bevor ich auf die Idee kam, einen Angstschrei auszustoßen und in Deckung zu gehen, war das Gefecht bereits vorbei und das Killerkommando besiegt.

Das Kampfgeschrei verstummte. Rauch stieg in die Luft.

Ich blickte prüfend an mir hinab, um mich zu vergewissern, dass alle wichtigen Körperteile noch dran waren. »Wow!«, sagte ich.

Bastille stand mit gezogenem Schwert und zusammengekniffenen Augen vor mir. Wahrscheinlich hatte sie mir gerade das Leben gerettet.

»Sehen Sie, Majestät«, sagte ich. »Sie können den Bibliothekaren nicht trauen! Wenn Sie aufgeben, werden sie einfach …«

Ich verstummte, weil ich erst in diesem Augenblick bemerkte, dass Mallo gar nicht mehr neben mir stand. Ich suchte den König verzweifelt und fand ihn schließlich auf der Mauer liegend, über seiner Gemahlin, auf die er sich schützend geworfen hatte. Keiner von beiden bewegte sich.

Einige Krieger schrien entsetzt auf und eilten zu ihrem Königspaar. Andere riefen nach Hilfe. Ich drehte mich benommen um und sah die Attentäter tot daliegen.

Das war ein richtiger Krieg, in dem Leute wirklich starben. Plötzlich fand ich das alles gar nicht mehr lustig. Leider überraschte mich das Schicksal gleich darauf mit einem ziemlich guten Witz.

»Sie leben noch«, sagte Bastille, die mit den Kriegern neben dem König und der Königin kniete. »Sie atmen. Sie scheinen nicht einmal verwundet zu sein.«

»Die Waffen der Bibliothekare machen die Opfer oft nur bewusstlos«, erklärte ein Krieger. »Sie versuchen Mokia zu erobern, aber sie wollen uns nicht ausrotten. Sie wollen über uns herrschen. Deshalb benutzen sie Waffen, die uns ins Koma fallen lassen.«

Ein anderer Mokianer nickte. »Leider kennen wir kein Gegenmittel – unsere Betäubungswaffen funktionieren anders und erfordern ein anderes Gegenmittel. Nur die Bibliothekare können diese Opfer wieder aufwecken, wenn der Krieg vorbei ist. Dann werden sie sie in kleinen überschaubaren Gruppen ins Leben zurückholen und einer Gehirnwäsche unterziehen, damit sie vergessen, dass sie einmal frei waren.«

»Davon habe ich schon gehört«, sagte Kaz und kniete sich neben den König. Wann war Kaz zurückgekommen? »Bei der Eroberung anderer Königreiche haben die Bibliothekare es genauso gemacht. Eine brutal effektive Taktik – wenn sie unsere Leute ins Koma versetzen, müssen wir all diese Opfer füttern und pflegen, was uns schnell an unsere Grenzen bringt. So ist unser Widerstand leichter zu brechen. Das ist viel effektiver, als Gegner einfach zu töten.«

Einer der Krieger nickte. »Wir müssen Tausende von schlafenden Opfern versorgen. Natürlich haben wir mit unseren Betäubungsspeeren auch viele Bibliothekare ins Koma versetzt. Doch jede Seite kennt nur das Gegenmittel gegen ihre eigenen Betäubungswaffen.«

Wir traten zurück, als ein mokianischer Arzt erschien. Überraschenderweise trug er einen weißen Kittel und eine Brille. Er hatte ein großes Stück Glas dabei, das er hochhielt und dazu benutzte, den König und die Königin zu untersuchen. »Keine inneren Verletzungen. Sie liegen nur im Bibliothekarskoma.«

»Ich hätte eher einen Medizinmann erwartet«, sagte ich leise zu Kaz.

»Wieso?«, fragte er. »Der König und die Königin wurden doch nicht verhext oder so was.«

»Bringt sie in ihre Gemächer«, ordnete der Arzt an, der neben dem Königspaar stand. »Und verdoppelt die Wachen. Wenn die Bibliothekare wissen, dass die beiden im Koma liegen, werden sie sie entführen wollen.«

Einige Krieger nickten. Andere standen auf und blickten sich verwirrt um. Draußen begannen die Riesenroboter ihre Felsbrocken zu werfen. Einer knallte mit solcher Wucht gegen die Glaskuppel, dass die ganze Stadt zu beben schien.

»Wer hat jetzt das Kommando?«, fragte ich und sah mich um.

»Der Hauptmann der Stadtwache ist heute gefallen«, sagte ein Krieger. »Und kurz vor ihm der letzte Feldgeneral.«

»Die Prinzessin muss die Regentschaft übernehmen«, sagte ein anderer.

»Aber sie ist nicht in der Stadt.«

»Der Rat der Könige muss der Ernennung eines Thronfolgers zustimmen«, sagte ein weiterer. »Bis dahin gibt es keinen offiziellen König. Zum Stellvertreter des Königs wird in diesem Fall der ranghöchste Adlige in der Stadt.«

Die Gruppe verfiel in Schweigen.

»Das bedeutet?«, fragte ich.

»Beim Kristall aller Kristalle!«, flüsterte Bastille. Ihre Augen weiteten sich. »Oh nein, das darf nicht wahr sein …«

Alle Blicke richteten sich auf mich.

»Was denn?«, fragte ich nervös.

»Die Smedrys gehören zum Hochadel«, erklärte Bastille. »Sie werden von allen Nationen, die im Rat der Könige vertreten sind, als Lords und Ladys anerkannt. Dieses Recht erwarb deine Familie, als sie abdankte. Alle erkannten, dass die Smedry-Talente euch dazu hätten verleiten können, die Freien Königreiche zu erobern. Aber seither ist ein direkter Erbe der Smedry-Linie in den meisten Königreichen, auch in Nalhalla und Mokia, einem Herzog gleichrangig.«

»Und ein Herzog ist …?«, fragte ich.

»Ein Herzog kommt gleich nach einem Prinzen«, sagte Aydee.

Da fielen alle Krieger vor mir auf ein Knie. »Was wünschen Sie, Majestät?«, fragte einer.

»Ach du lieber Pelikan!«, fluchte Kaz.