KAPITEL 4815162342

Feder.epsDie Erkenntnis, die ich dort in dem verlassenen Zoo hatte, war schrecklich, aber sie öffnete mir die Augen.

Ein ähnliches Aha-Erlebnis hatte ich gehabt, als ich zum ersten Mal die Weltkarte sah, die in der Bücherei meiner Heimatstadt hing. Sie zeigte Kontinente, von denen ich bisher nichts gewusst hatte, und zwang meinen Geist, in neuen, größeren Dimensionen zu denken und einen Raum zu erfassen, den er noch nicht kannte.

Ich hatte so viel Zeit mit Grandpa Smedry und den anderen verbracht, dass ich – verständlicherweise – die Dinge inzwischen so sah wie sie. Die »Art der Smedrys« war eine ungestüme Risikofreude, die an Verantwortungslosigkeit grenzte. Wir waren ein wilder Haufen, der sich in wichtige Geschehnisse einmischte und auf lebensgefährliche Abenteuer einließ. Wir taten viel Gutes, aber nur deshalb, weil wir uns von den Crystin-Rittern und unserem eigenen Ehrgefühl leiten ließen.

Doch was wäre, wenn alle Leute sich so verhielten? Der Vergleich meiner Mutter war gut. Wenn jeder Mensch eine Bombe bekäme, die groß genug war, um die Stadt in Schutt und Asche zu legen, würden wahrscheinlich die meisten verantwortungsbewusst mit ihr umgehen. Doch ein einziger Fehler würde genügen, um alles zu zerstören.

Hatten die Bibliothekare, die gewisse Informationen zurückhalten wollten, also recht?

Vielleicht schon, dachte ich. Aber in vielen anderen Dingen hatten die Bibliothekare natürlich unrecht. Sie waren extrem kontrollsüchtig. Sie eroberten Länder und zwangen deren Bürgern ihre Lebensweise auf. Sie logen und verdrehten Tatsachen. Sie manipulierten und unterdrückten Menschen.

Trotzdem war es möglich, dass sie auch mal recht hatten, während Mitglieder meiner Familie sich irrten. Und es war sehr gut möglich, dass meine Mutter – so arrogant, berechnend und abweisend sie auch war – etwas Nobles tat, während mein Vater sich auf einem gefährlichen Holzweg befand.

Wenn er bekam, was er wollte, konnte das die Welt zerstören.

Während ich dort in diesem Zoo stand und darüber nachdachte, veränderte sich alles.

Oder vielleicht veränderte nur ich mich und die Welt blieb dieselbe. Oder vielleicht veränderten wir uns beide.

Manchmal wünschte ich, der verdammte Fluss von Heraklit würde einfach stehen bleiben. Solange er sich nicht bewegte, war er leicht zu durchschauen und einzuschätzen.

Aber so ist das Leben nicht. Und manchmal werden Leute, die bisher unsere Feinde waren, zu unseren Verbündeten.

»Ich sehe, dass du den Ernst der Lage verstehst.«

»Ja.«

»Dann schließen wir ein Bündnis?«, fragte sie. »Arbeiten wir von nun an zusammen, um ihn aufzuhalten?«

»Darüber muss ich erst nachdenken.«

»Überleg nicht zu lange«, sagte sie und warf einen Blick nach oben. »Tuki Tuki ist dem Untergang geweiht. Wir müssen möglichst schnell zu den Katakomben gelangen, weil wir dort noch etwas zu erledigen haben, und dann müssen wir aus der Stadt flüchten, bevor sie fällt.«

»Ich werde Tuki Tuki nicht verlassen!«, fuhr ich sie an.

»Es hat keinen Sinn mehr, weiterzukämpfen«, sagte sie und deutete nach oben. »Nicht bei diesem großen Loch in der Kuppel. Die Sekte der Geborstenen Linse verfügt über Fledermausroboter. Die werden in Kürze durch das Loch hereinfliegen und in der Stadt landen.«

»Moment mal. Sie haben Roboter, die wie Fledermäuse aussehen und fliegen können?«

»Genau.«

Ich schluckte. »Was auch passiert, ich werde nicht weggehen. Die Mokianer verlassen sich auf mich. Sie brauchen mich.«

»Alcatraz«, sagte sie und verschränkte die Arme. »Wir kämpfen für den Fortbestand der ganzen Menschheit! Im Vergleich dazu ist eine einzelne Stadt unwichtig. Denkst du, es ist mir leichtgefallen, dich all die Jahre so zu behandeln? Aber das musste ich tun, weil ich wusste, dass etwas noch Wichtigeres auf dem Spiel stand!«

»Verstehe«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Man sollte dir für deinen absolut unvergleichlichen Mutterinstinkt einen Preis verleihen, Shasta.«

»Alcatraz!«

Ich lief weg. Zu viele Dinge ergaben keinen Sinn. Ich musste sie erst überdenken. Während ich zurücklief, kamen Aydee Ecks und Aluki auf mich zugerannt – sie mit ihrem Rucksack voller Teddybären über der Schulter, er mit einem brennenden Speer in der Hand.

»Majestät«, sagte Aluki eindringlich, »Lady Aydee hat uns gerade mitgeteilt, dass die Beobachter etwas entdeckt haben, draußen vor der Stadt. Wir sind in Schwierigkeiten.«

»Etwa riesige Fledermausroboter?«

»Ja.«

»Wie viele?«

»Hunderte, Alcatraz!«, erwiderte Aydee. »Ich wollte sie zählen, aber Aluki hat mich gebremst …«

»Das war wahrscheinlich besser so«, sagte ich.

»Sie haben offenbar gewartet, bis die Kuppel aufbrach, um uns dann zu überraschen«, sagte Aluki. »Majestät, sie sind fähig, Tausende von Soldaten durch dieses Loch in die Stadt zu fliegen! Wir haben keine Luftwaffe. Sie werden uns innerhalb von Minuten vernichten!«

»Ich …«

Aluki und Aydee sahen mich eindringlich und Hilfe suchend an.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, flüsterte ich und kratzte mich am Kopf.

»Aber Sie müssen wissen, was zu tun ist«, beharrte Aluki. »Sie sind der König!«

»Das heißt nicht, dass ich auf jede Frage eine Antwort weiß!«, sagte ich gereizt. Was meine Mutter mir erzählt hatte, hatte mich schockiert und aus der Fassung gebracht.

Manchmal ändern Dinge sich schlagartig. Im einen Augenblick kann ein Mensch noch vor Selbstsicherheit strotzen und im nächsten kann eine Erkenntnis ihn so schockieren, dass er völlig verunsichert ist. Wenn meine Mutter für das Richtige kämpfte und mein Vater derjenige war, der die Welt zu zerstören versuchte …

Ich hatte ihn gerettet. Wenn alles schieflief, war das meine Schuld. War ich vielleicht sogar noch mehr furchtbaren Irrtümern erlegen?

Aber konnte ich meiner Mutter wirklich glauben?

Sie hat recht, dachte ich mit wachsendem Grausen. Was sie gesagt hatte, während ich sie durch die Wahrheitsfinderlinse beobachtet hatte … was mein Vater gesagt hatte … was ich gelesen hatte … meine eigenen Vermutungen und meine Erfahrungen mit dem Dunklen Talent. All das vermengte sich in mir und ergab eine Mischung, die so übel war wie ein Cocktail aus einer Bar im Hades.

Das Dunkle Talent, mein Talent, wollte, dass jeder wie die Smedrys war. Ich wusste, dass Alcatraz der Erste es irgendwie in unserer Familie gehalten und so seine Zerstörungskraft begrenzt hatte. Ihm hatten die Ehepartner von Smedrys es zu verdanken, dass sie auch Talente bekamen. Doch ansonsten waren nur noch Cousins von Smedrys der direkten Linie – die von meinem Großvater über meinen Vater zu mir verlief – echte Smedrys. Entferntere Verwandte wurden ohne Talente geboren.

Bisher war das Risiko also überschaubar gewesen, doch mein Vater wollte es auf die ganze Menschheit loslassen. Angesichts dieser Gefahr empfand ich mein Talent nicht mehr als etwas Besonderes, sondern als einen Makel.

»Alcatraz …«, sagte Aydee hoffnungsvoll. »Wir brauchen einen Plan.«

»Ich habe aber keinen Plan!«, entgegnete ich lauter als nötig. »Lasst mich in Ruhe. Ich will nur … ich muss nachdenken!«

Die beiden sahen mich bestürzt an. Da ließ ich sie einfach stehen und rannte davon, mit meinem Rucksack voller Teddybären über der Schulter. Ja, das war eine heftige und kindische Reaktion. Aber vergesst nicht, dass ich noch ein halbes Kind war. Die Freien Untertanen beurteilen Menschen nach ihren Taten, nicht nach ihrem Alter. Trotzdem war ich erst dreizehn. Da kann man schon mal die Nerven verlieren. Besonders wenn man erfährt, dass man vielleicht aus Versehen die ganze Welt zum Untergang verurteilt hat.

Das klingt albern, was? Ein Junge wie ich soll den Weltuntergang heraufbeschwören können? Was für eine lächerliche Vorstellung.

(Wie lächerlich? Nun, ich würde sagen, ungefähr so lächerlich wie die Vorstellung von ein paar kanadischen Mounties, die statt auf Pferden auf Echsen reiten und einander mit Käse bewerfen. Aber das ist eine andere Geschichte, die nicht in diesem Buch steht.)

Alles war auf den Kopf gestellt. Ich hätte kapitulieren und Tuki Tuki aufgeben sollen. Ich hätte … Ich wusste nicht, was ich hätte tun sollen. Ich hätte wohl lieber in den Ländern des Schweigens bleiben und mir die Bettdecke über den Kopf ziehen sollen, anstatt mit Grandpa Smedry mitzugehen.

Am Ende wäre ich wahrscheinlich dafür erschossen worden, aber wenigstens hätte ich nicht die ganze Welt in Gefahr gebracht.

Ich blickte nach oben. Riesige Fledermäuse aus Stahl flogen durch den Nachthimmel auf das Loch in der Schutzkuppel von Tuki Tuki zu. Und jede trug etwa fünfzig Bibliothekare auf dem Rücken.

Aber was konnte ich dagegen tun?

Ich bog um eine Ecke und trottete einen grasbewachsenen Weg zwischen zwei Zoogebäuden hinunter. Ich lief weg, damit Aluki und Aydee mich nicht so enttäuscht anstarren konnten. Ein schreckliches Kreischen, das immer lauter wurde, erfüllte die Luft über mir.

In diesem Augenblick bebte der Boden unter meinen Füßen. Ich sah mich erschrocken um, weil ich befürchtete, dass die Bibliothekare weitere Riesenroboter aufgetrieben hatten, die Felsbrocken auf die Stadt schleuderten. Doch ich merkte schnell, dass nicht die ganze Stadt bebte, sondern nur das Rasenstück direkt unter mir.

Unter meinen Füßen tat sich die Erde auf. Mit einem Schrei fiel ich in ein Loch, das ein weiterer Stoßtrupp der Bibliothekare gegraben hatte.

Sie waren zufällig genau dort herausgekommen, wo ich gestanden hatte.