KAPITEL NCC-1701

Feder.epsWenn im Jahr 1288 ein Engländer auf dem Weg zu seinem Kettenhemdenhändler einen alten Bekannten traf und ihn als »nice« bezeichnete, hieß er ihn damit einen Idioten, denn »nice« bedeutete zu jener Zeit »dumm«.

Doch wenn ein Engländer im Jahre 1322 – auf dem Weg zum Buchladen, um die neue verrückte Komödie eines gewissen Dante zu kaufen – jemanden als »nice« bezeichnete, meinte er damit, dass dieser Jemand schüchtern war.

Wer im England des Jahres 1380 jemanden als »nice« bezeichnete, drückte damit aus, dass diese Person pingelig war.

Im Jahr 1405 hatte das englische Adjektiv »nice« die Bedeutung »sanft«.

Um 1500 bedeutete es »vorsichtig«.

Und wenn ein Engländer Anfang des achtzehnten Jahrhunderts beispielsweise ein Mozart-Konzert besuchte, um dort übers Publikum zu surfen (also sich liegend von der Menge auf Händen durch den Saal tragen zu lassen), meinte er »angenehm«, wenn er das Wort »nice« benutzte.

Manchmal ist es kaum zu fassen, wie sehr sich alles um uns herum verändert. Selbst die Sprache verändert sich. So kann dasselbe Wort ganz verschiedene Bedeutungen haben, je nachdem wie, wo und wann es gesagt wird. Das englische Wort »awful« bedeutete früher »Ehrfurcht gebietend«, also dasselbe wie »awesome«. Das englische Wort »brave« hingegen bedeutete einst »feige«, und »girl« bedeutete früher nur »Kind« (ein »girl« konnte also sowohl ein Mädchen als auch ein Junge sein).

(Wenn ihr euch das nächste Mal an eine gemischte englische Clique wendet, solltet ihr sie deshalb mit »girls« ansprechen. Vorausgesetzt, ihr seid nicht zu »brave«, zu »nice« oder zu »nice«.)

Menschen verändern sich ebenfalls. Sie verändern sich unaufhörlich. Wir behaupten zwar gerne, dass die Leute, die wir kennen, immer dieselben bleiben, aber sie verändern sich von einem Augenblick zum anderen, indem sie zu neuen Schlussfolgerungen gelangen, neue Erfahrungen machen, neue Gedanken denken. Wahrscheinlich stimmt Heraklits Behauptung, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann. Aber eine überzeugendere Metapher wäre meiner Meinung nach: Man kann nicht zweimal derselben Person begegnen.

Die Mokianer hatten meine Mutter tatsächlich nicht zu den anderen Gefangenen in die Katakomben der Universität gesperrt. Ich hatte sie gebeten, sie an einem besonders sicheren Ort festzusetzen, und in Mokia gab es kein Gefängnis. (Das mag euch überraschen, aber – auch wenn die Bibliothekare nicht wollen, dass ihr glaubt, dass es so einen Ort gibt – Mokia ist ein kleines Paradies, wo die Menschen kultiviert sind und wo Meinungsverschiedenheiten nicht in Handgreiflichkeiten ausarten, sondern bei warmem Tee und Weintrauben ausdiskutiert werden.)

Nein, die Mokianer hatten kein Gefängnis, aber sie hatten einen Zoo.

Eigentlich war es eher eine Forschungsfarm, wo exotische Tiere gehalten wurden, um sie im Namen der Wissenschaft zu studieren. Meine Mutter, Shasta Smedry, war in einem großflächigen Käfig mit dicken Gitterstäben eingesperrt, der aussah, als hätte er einmal einen Tiger oder eine andere große Raubkatze beherbergt. Darin befand sich eine Art Felsenlandschaft mit einem kleinen Wasserbecken und einem Kletterbaum.

Leider hatten die Mokianer den Tiger herausgeholt, bevor sie meine Mutter hineingesperrt hatten. Wahrscheinlich zur Sicherheit des Tigers.

Ich lief auf den Käfig zu, flankiert von zwei mokianischen Leibwachen. Shasta saß mit züchtig übereinandergeschlagenen Beinen in einer Felsnische. Sie trug ihr Bibliothekarinnenkostüm mit dem knöchellangen grauen Rock und der hochgeschlossenen weißen Bluse und eine Hornbrille, die ich durch meine Okulatorenlinsen genau inspizierte, um ganz sicherzugehen, dass sie keinerlei magische Fähigkeiten besaß.

»Mutter«, sagte ich tonlos und trat an den Käfig.

»Sohn«, erwiderte sie.

Ich sollte erwähnen, dass ich ein ganz komisches Gefühl hatte. Während meiner allerersten Bibliotheksinfiltration hatte ich meiner Mutter in einer ganz ähnlichen Situation gegenübergestanden, nur war ich damals hinter den Gittern gewesen und meine Mutter davor.

Trotz dieses entscheidenden Unterschieds fühlte ich mich kein bisschen sicherer.

»Ich brauche das Rezept für das Gegenmittel, das die Wirkung der Koma-Waffen der Bibliothekare aufhebt«, sagte ich zu ihr.

»Bedauerlicherweise kenne ich das nicht«, erwiderte sie.

Ich kniff die Augen zusammen. »Das glaube ich dir nicht.«

»Hm … wenn du nur irgendwie erkennen könntest, ob ich lüge oder nicht …«

Ich errötete, holte meine Wahrheitsfinderlinse heraus und schaute hindurch.

Meine Mutter sah mir ins Gesicht und sagte: »Ich kenne das Gegenmittel wirklich nicht.«

Die Worte quollen wie weiße Wolken aus ihrem Mund. Sie sagte die Wahrheit. Mir wurde ganz flau im Magen.

»Ich gehöre nicht zur Sekte der Geborstenen Linse«, fuhr meine Mutter fort. »Die würden einer wie mir niemals ein so wichtiges Geheimnis anvertrauen. Das kennt niemand aus dem Fußvolk. Es wird sehr sorgfältig gehütet, so wie hier das Rezept für das Gegenmittel gegen die mokianischen Betäubungsspeere wohl auch.«

Ich sah meine Leibwachen an. Aluki nickte. »Nur sehr wenige kennen unser Rezept, Majestät. Die Königin war eine von ihnen. Sonst weiß nur noch …«

»Sagen Sie es nicht«, unterbrach ich ihn und beobachtete meine Mutter.

Sie rollte nur die Augen. »Meinst du wirklich, mich interessiert dieser kleine Konflikt hier, Alcatraz? Es ist mir völlig egal, wie diese Belagerung ausgeht.«

Sie sagte die Wahrheit.

Ich knirschte vor Ärger mit den Zähnen. »Warum hast du dich dann in die Stadt geschlichen?«

Sie lächelte mich nur an. Es war ein unerträgliches wissendes Lächeln. Sie hatte mich selbst darauf hingewiesen, dass ich meine Wahrheitsfinderlinse benutzen konnte. Sie würde sich nicht dazu verleiten lassen, ein falsches Wort zu sagen. Zumindest nicht, solange ich sie nicht erschreckte oder ablenkte.

»Ich weiß, was ihr vorhabt, du und Vater«, sagte ich. »Wofür ihr die Übersetzerlinsen aus dem Sand von Rashid und dieses Buch aus dem Königlichen Archiv in Nalhalla braucht.«

»Du weißt gar nichts.«

»Ich weiß, dass ihr hinter das Geheimnis der Smedry-Talente kommen wollt«, fuhr ich fort. »Du hast meinen Vater geheiratet, um ein Talent zu erhalten, und vielleicht auch, um das Vertrauen der Familie zu gewinnen und die anderen Talente ebenfalls studieren zu können. Es ging immer nur um die Talente. Und jetzt willst du herausfinden, auf welche Weise die Inkarna überhaupt zu ihren Talenten kamen.«

Sie musterte mich. Etwas, das ich gesagt hatte, schien sie zögern zu lassen. Und sie sah mich irgendwie anders an als sonst. »Du hast dich verändert, Alcatraz.«

»Ja, ich habe heute Morgen meine Unterhose gewechselt.«

Sie rollte wieder die Augen. Dann stand sie auf. »Nimm diese Linse ab und lass deine Wachen zurück. Dann können wir uns unterhalten.«

»Was? Wieso sollte ich das tun?«

»Weil du deiner Mutter gehorchen solltest.«

»Meine Mutter ist eine skrupellose, bösartige und egozentrische Bibliothekarin, die nach der Weltherrschaft strebt!«

»Wir haben alle unsere Fehler«, sagte sie und schlenderte von mir weg, an den Gitterstäben entlang. »Tu, was ich gesagt habe, sonst bleibe ich stumm. Du hast die Wahl.«

Ich knirschte mit den Zähnen, aber mir schien nichts anderes übrig zu bleiben. Widerwillig steckte ich die Wahrheitsfinderlinse wieder ein und gab meinen Leibwachen ein Handzeichen, dass sie zurückbleiben sollten, dann eilte ich Shasta hinterher. Nun würde ich nicht mehr erkennen können, ob sie log oder nicht, zumindest nicht eindeutig. Aber hoffentlich würde ich trotzdem etwas von ihr erfahren. Warum hatte sie sich dem Stoßtrupp angeschlossen, der in die Stadt eingedrungen war? Vielleicht wusste sie etwas, das uns retten konnte.

Während ich auf sie zuging, schrillte ein Alarmsignal durch Tuki Tuki – einer der Beobachter, die überall in der Stadt postiert waren, hatte ein aufbrechendes Tunnelausstiegsloch entdeckt. Hoffentlich würden die Krieger mit den Eindringlingen fertigwerden. Ich trat zu Shasta, die sich weit genug von Aluki und der anderen Wache entfernt hatte, um außer Hörweite zu sein. Ich hatte den Verdacht, dass sie mich von den beiden weglocken wollte, um mich dazu zu überreden, sie freizulassen.

Aber das würde ihr nicht gelingen. Ich hatte nicht vergessen, dass sie bereit gewesen war, Himalaya ans Messer zu liefern, und dass sie mich – ihren eigenen Sohn – an Blackburn, den einäugigen Dunklen Okulator, verkauft hatte. Und dass sie Asmodean getötet hatte. (Okay, das hatte sie nicht getan, aber ich hätte es ihr zugetraut.)

»Was glaubst du über die Smedry-Talente zu wissen?«, fragte sie mich mit verschränkten Armen. Ihr süffisantes Lächeln war verschwunden. Nun wirkte sie todernst. Vielleicht hätte ihr finsterer Blick mich eingeschüchtert, wenn sie nicht neben diesem großen Tiger-Kauspielzeug gestanden hätte.

»Ich habe mit Kaz über das Thema gesprochen«, sagte ich. »Die Inkarna wollten Menschen in Linsen verwandeln.«

Sie rümpfte die Nase. »Das ist eine sehr grobe Vereinfachung. Die Inkarna entdeckten die Energiequelle magischer Linsen. Die Seele jedes Menschen besitzt eine Kraft, eine Energie. Linsen haben keine eigene Energie. Sie konzentrieren lediglich die Energie des Okulators und verwandeln sie in etwas Nützliches. Ähnlich wie ein Prisma, das Licht bricht.«

Sie sah mich an. »Der Schlüssel sind die Augen«, fuhr sie fort. »Dichter haben sie die Fenster der Seele genannt. Fenster funktionieren in beide Richtungen. Jemand kann dir in die Augen schauen und deine Seele sehen, aber wenn du jemanden anschaust, strahlt die Energie deiner Seele aus deinen Augen. Wenn du Linsen trägst, wandeln sie diese Seelenenergie in etwas anderes um. In manchen Fällen verändert sich dadurch deine Wahrnehmung, sodass du etwas sehen kannst, das du sonst nicht sehen könntest. In anderen Fällen wandeln die Linsen die Seelenenergie so um, dass du damit Feuer- oder Windstöße erzeugen kannst.«

»Das ist Unsinn«, widersprach ich. »Ich hatte schon Linsen, die noch funktionierten, nachdem ich sie bereits abgenommen hatte.«

»Weil deine Seele sie noch speiste«, erklärte sie. »Bei einigen Glassorten ist es wichtig, dass man durch die Linsen hindurchschaut. Bei anderen genügt es, wenn sie in der Nähe deiner Seele sind. Dann brauchst du sie nur zu berühren, um sie zu aktivieren.«

»Warum erzählst du mir das?«

»Das wirst du schon sehen«, erwiderte sie vage.

Ich traute ihr nicht. Ich glaube, niemand, der halbwegs bei Verstand ist, würde Shasta Smedry trauen.

»Also was machten die Inkarna?«, fragte ich.

»Sie wollten diese Seelenenergie nutzbar machen«, sagte sie. »Die Seele jedes Menschen schwingt in einem bestimmten Ton, so wie reines Kristall, wenn man es auf die richtige Art reibt. Die Inkarna dachten, sie könnten die Kraft ihrer Seelenschwingungen nutzen.«

Die Kraft ihrer Seelenschwingungen? Das klingt nach einem Disco-Song aus den Siebzigern, nicht? Ich muss wirklich eine Band oder so was gründen, um all diese Hits zu spielen.

»Okay«, sagte ich. »Aber etwas ging schief, oder? Die Talente hatten schwere Mängel. Anstatt die erhofften Kräfte zu bekommen, hatten die Inkarna am Ende einen Haufen Leute, die ihre Fähigkeiten kaum kontrollieren konnten.«

»Ja«, sagte sie und sah mich nachdenklich an. »Du hast das wirklich gründlich durchdacht.«

Ich fühlte einen trotzigen Stolz in mir aufsteigen. Meine Mutter – die ich während meiner Kindheit nur als Ms. Fletcher gekannt hatte – hatte sehr selten etwas zu mir gesagt, was Ähnlichkeit mit einem Kompliment hatte.

Ich zwang mich, bei der Sache zu bleiben. »Du willst die Talente für dich selbst«, sagte ich. »Du willst sie benutzen, um den Truppen der Bibliothekare zusätzliche Fähigkeiten zu verleihen.«

Sie rollte die Augen.

»Versuch nicht, mir etwas anderes zu erzählen«, sagte ich. »Du willst die Talente für dich behalten. Doch mein Vater will allen Leuten welche verleihen. Deswegen habt ihr euch zerstritten, stimmt’s? Nachdem ihr eine Methode entdeckt hattet, den Sand von Rashid zu sammeln, wart ihr euch uneinig, wie die Talente genutzt werden sollten.«

»Das kann man wohl sagen«, stimmte sie zu.

»Mein Vater wollte die ganze Menschheit mit ihnen beglücken. Doch du wolltest, dass sie den Bibliothekaren vorbehalten blieben.«

»Genau«, sagte sie frei heraus.

Ich stutzte und blinzelte verwundert. Ich hatte nicht erwartet, dass sie mir darauf antworten würde. »Oh. Äh. Hm.« Sie war und blieb eben »eine skrupellose, bösartige und egozentrische Bibliothekarin, die nach der Weltherrschaft strebte«. Das durfte ich nie vergessen.

»Nun, da wir geklärt haben, was eh klar war, können wir unsere Unterhaltung über die Inkarna fortsetzen, wenn du willst.«

»Okay«, sagte ich. »Also was ging schief? Warum sind die Talente so schwer zu kontrollieren?«

»Das wissen wir nicht genau«, erwiderte sie. »Die Quellen – die wenigen Schriften, die ich mir mit den Übersetzerlinsen habe vorlesen lassen – widersprechen sich. Anscheinend gab es etwas, das die Talente beeinflusste, eine Energie oder Kraft, die die Inkarna benutzten, um ihre Seelenschwingungen zu verändern. Das verdarb die Talente. Es machte sie zerstörerischer und unberechenbar.«

Das Dunkle Talent … Ich musste wieder an die ominösen Worte denken, die ich in der Gruft von Alcatraz dem Ersten gelesen hatte.

»Du hast mich gefragt, warum ich dir das erzähle«, sagte Shasta und sah mich durch die Gitterstäbe prüfend an. »Nun, du hast dich als … sehr hartnäckig erwiesen. Was ich auch tue, du funkst mir ständig dazwischen. Deine Anwesenheit hier in Tuki Tuki bedeutet, dass ich es mir nicht mehr leisten kann, dich zu ignorieren. Es ist Zeit für ein Bündnis.«

Ich blinzelte, völlig perplex. »Wie bitte? Für was?«

»Für ein Bündnis zwischen dir und mir, das einem höheren Ziel dient.«

»Mit diesem höheren Ziel meinst du wohl dein eigenes.«

Sie sah mich stirnrunzelnd an. »Erzähl mir nicht, dass du noch nicht begriffen hast, worum es geht. Ich dachte, du wärst klug.«

»Ich stelle mich lieber dumm«, sagte ich.

»Was geschah mit den Inkarna?«

»Sie gingen unter«, sagte ich. »Ihre Kultur wurde zerstört.«

»Wodurch?«

»Das wissen wir nicht. Es muss etwas Ungeheuerliches gewesen sein, etwas Radikales, etwas …«

Da kapierte ich es endlich. Ich hätte es schon viel früher erkennen müssen. Ihr seid wahrscheinlich längst darauf gekommen. Ihr seid eben schlauer als ich.

Als mein Vater in seiner Rede in Nalhalla verkündet hatte, dass er jedem ein Talent verleihen wollte, hatte ich ein ungutes Gefühl gehabt. Aber ich hatte nicht begriffen, welche weitreichenden Folgen das hätte, wie gefährlich das wäre.

»Etwas zerstörte die Inkarna«, hörte ich mich sagen. »Etwas so Furchtbares, dass mein Vorfahr Alcatraz der Erste seine eigene Sprache kaputt machte, damit niemand es wiederholen konnte …«

»Genau. Es war das Geheimnis der Talente«, sagte Shasta leise und eindringlich. »Überleg dir mal, was los wäre, wenn jeder ein Talent hätte. Der Smedry-Klan ist dafür berüchtigt, Schäden anzurichten, Unfälle zu provozieren und irrsinnige Dinge zu tun. Viele Philosophen nehmen an, dass ihr so draufgängerisch seid, weil eure Talente so schwer zu bändigen sind und euer Leben besonders in jungen Jahren unberechenbar machen.«

»Und wenn jeder sie hätte, würde ein totales Chaos herrschen«, sagte ich. »Jeder würde sich verirren, Teddybären vermehren, Dinge zerbrechen …«

»Das zerstörte die Inkarna«, fuhr Shasta fort. »Attica wollte meine Warnungen nicht hören. Er beharrt bis heute darauf, dass dieses Wissen an alle Menschen weitergegeben werden muss, dass es ein ›bibliothekarisches‹ Ziel ist, es der Welt vorzuenthalten. Aber manchmal ist völlige Informationsfreiheit keine gute Sache. Was wäre, wenn jeder Mensch auf unserem Planeten die Fähigkeit, die Mittel und das Wissen hätte, eine Atomwaffe herzustellen? Wäre das etwa gut? Manchmal ist es wichtig, Geheimnisse zu bewahren.«

Ich war mir nicht sicher, ob sie damit recht hatte, aber ihre Argumentation war überzeugend. Und sie klang – ausnahmsweise einmal – völlig ehrlich. Ich sah sie an. Sie hatte die Arme verschränkt und wirkte aufgewühlt.

Ich vermutete, dass sie meinen Vater immer noch liebte. Die Wahrheitsfinderlinse hatte mir vor ein paar Monaten einen Hinweis darauf gegeben. Aber sie hatte sich alle Mühe gegeben, ihn aufzuhalten, die Übersetzerbrille zu stehlen und ihn nicht an den Sand von Rashid gelangen zu lassen. Sie war sogar so weit gegangen, ihren eigenen Sohn als Köder zu benutzen, um diesen Sand an sich zu bringen.

Zögernd zog ich die Wahrheitsfinderlinse heraus. Sie sah mich nicht an, sondern starrte in die Ferne. »Dieses Wissen ist einfach zu gefährlich«, sagte sie, und sie sprach die Wahrheit – zumindest glaubte sie, dass das die Wahrheit war.

»Ich würde alles tun, um zu verhindern, dass irgendjemand an dieses Wissen gelangt«, fuhr sie fort, als hätte sie vergessen, dass ich da war. »Das Buch, das wir in Nalhalla gefunden haben, habe ich verbrannt. Es existiert nicht mehr. Aber das wird Attica nicht aufhalten. Er wird einen Weg finden, wenn ich ihn nicht irgendwie stoppe. Biblioden hatte recht. Dieses Wissen muss zurückgehalten werden. Zum Wohle aller Menschen. Zum Wohle meines Sohnes. Zum Wohle von Attica selbst …«

Meine Linse zeigte mir, dass jedes Wort wahr war. Ich ließ sie sinken und hatte plötzlich eine schreckliche Erkenntnis. Ich begriff, dass der Bösewicht in dieser Geschichte nicht meine Mutter war, sondern mein Vater.

War es möglich, dass die Bibliothekare tatsächlich recht hatten?