47.
Samstagnachmittag, der neunzehnte Dezember
Simone sitzt neben Erik im Auto, blickt von Zeit zu Zeit zu ihm hinüber und schaut ansonsten zum Fenster hinaus. Die Straße mit ihrem braunen Schneematschstreifen in der Mitte saust dahin. Vor ihnen bewegen sich die Autos in endlosen, blinkenden Reihen. Straßenlaternen flackern monoton vorüber. Sie kommentiert den Müll auf der Rückbank und auf dem Boden nicht: leere Wasserflaschen, Cola-Dosen, ein Pizzakarton, Zeitungen, Becher.
Erik fährt sanft zum Krankenhaus von Danderyd, wo Sim Shulman im Koma liegt, und weiß genau, was er tun wird, wenn er dort ankommt. Er wirft einen Blick auf Simone. Sie hat abgenommen, und ihre Mundwinkel sind heruntergezogen, traurig und besorgt. Er selbst hat das Gefühl, fast schon beängstigend zielstrebig zu sein. Er sieht die Ereignisse der letzten Tage deutlich und in einem klaren Licht an sich vorbeiziehen. Er glaubt jetzt zu verstehen, was ihm und seiner Familie widerfahren ist. Bevor sie das Universitätsgelände an der Brunnsviken passieren, fängt er an, Simone alles zu erklären.
»Als uns klar wurde, dass Josef nicht Benjamins Entführer sein konnte, bat Joona mich, mein Gedächtnis zu durchforsten«, sagt er in die Stille des Wagens hinein. »Daraufhin habe ich in der Vergangenheit nach jemandem gesucht, der sich möglicherweise an mir rächen will.«
»Und was hast du gefunden?«, fragt Simone.
Aus den Augenwinkeln sieht er, dass sie sich ihm zuwendet. Er weiß, dass sie jetzt bereit ist, ihm zuzuhören.
»Ich habe meine Hypnosegruppe gefunden, die ich damals aufgeben musste … Das ist zwar erst zehn Jahre her, aber ich denke nie an sie, das Ganze war ein abgeschlossenes Kapitel für mich«, sagt er. »Aber als ich jetzt versucht habe, mich zu erinnern, kam es mir vor, als wäre die Gruppe nie verschwunden, als hätte sie nur ein bisschen abseitsgestanden und gewartet.«
Erik sieht, dass Simone nickt. Er spricht weiter und versucht, ihr seine Theorien zu der Gruppe zu erläutern, die Spannungen, die es zwischen den einzelnen Mitgliedern gab, seinen Balanceakt und das enttäuschte Vertrauen.
»Als ich rundum gescheitert war, versprach ich, nie wieder zu hypnotisieren.«
»Ja.«
»Aber dann habe ich mein
Versprechen gebrochen, weil Joona mich überzeugte, dass es der
einzige Weg war, Evelyn Ek zu
retten.«
»Du meinst, das alles ist passiert, weil du Josef Ek hypnotisiert hast?«
»Ich weiß es nicht …«
Erik verstummt und sagt schließlich, dass er einen schlummernden Hass zu neuem Leben erweckt haben könnte, einen Hass, der möglicherweise nur durch seinen Schwur, nie wieder zu hypnotisieren, im Zaum gehalten wurde.
»Erinnerst du dich an Eva Blau?«, fährt er fort. »Sie glitt immer wieder in einen psychotischen Zustand ab. Du weißt ja, dass sie mir gedroht hat, sie sagte, sie würde mein Leben zerstören.«
»Ich habe nie verstanden, warum«, erwidert Simone leise.
»Sie fürchtete sich vor jemandem. Ich habe das für Verfolgungswahn gehalten, aber mittlerweile bin ich mir fast sicher, dass Lydia sie tatsächlich bedroht hat.«
»Auch Menschen, die unter Verfolgungswahn leiden, können verfolgt werden«, sagt Simone.
Erik biegt auf das weitläufige Krankenhausgelände. Regen klatscht gegen die Windschutzscheibe.
»Vielleicht hat Lydia ihr sogar die Schnittwunde im Gesicht zugefügt«, sagt er eher zu sich selbst.
Simone zuckt zusammen.
»Sie hatte eine Schnittwunde im Gesicht?«, fragt sie.
»Ich dachte, sie hätte es selbst getan, so läuft das in aller Regel«, erläutert Erik. »Ich dachte, sie hätte sich die Nasenspitze aus dem verzweifelten Bedürfnis heraus abgeschnitten, etwas anderes zu fühlen und sich nicht dem stellen zu müssen, was in Wahrheit so schmerzhaft …«
»Jetzt warte, warte mal«, unterbricht Simone ihn erregt. »Ihre Nase war abgeschnitten?«
»Die Nasenspitze.«
»Papa und ich haben einen Jungen mit einer abgeschnittenen Nasenspitze gefunden. Hat Papa dir das nicht erzählt? Jemand hat den Jungen bedroht, ihm Angst eingejagt und wehgetan, weil er Benjamin schikaniert hat.«
»Das war Lydia.«
»Sie hat Benjamin gekidnappt?«
»Ja.«
»Was will sie?«
Erik sieht sie mit ernster Miene an.
»Du weißt schon einiges«, antwortet er. »Lydia gestand damals unter Hypnose, dass sie ihren Sohn Kasper im Keller eingesperrt hielt und zwang, verdorbene Lebensmittel zu essen.«
»Kasper?«, wiederholt Simone.
»Als Kennet erzählte, dass eine Frau Benjamin Kasper genannt hat, wusste ich, das konnte nur Lydia sein. Ich fuhr zu ihrem Haus in Rotebro und brach ein, aber es war niemand da, das Haus war leer.«
Er fährt schnell an den Reihen parkender Autos vorbei, aber der Parkplatz ist überfüllt, sodass er zum Eingang fährt.
»Im Keller hatte es gebrannt, aber das Feuer war von selbst ausgegangen«, fährt Erik fort. »Es war vermutlich Brandstiftung, aber die Reste eines großen Käfigs waren noch da.«
»Aber es gab doch keinen Käfig«, widerspricht Simone. »Sie hatte doch nachweislich überhaupt kein Kind.«
»Joona hatte einen Spürhund dabei, der die zehn Jahre alten, sterblichen Überreste eines Kindes im Garten gefunden hat.«
»Oh, mein Gott«, flüstert Simone.
»Ja.«
»Das war doch damals …«
»Ich glaube, dass sie das Kind in ihrem Keller getötet hat, als sie erkannte, dass sie sich verraten hatte«, sagt Erik.
»Dann hattest du also die ganze Zeit Recht«, flüstert Simone.
»Es sieht ganz so aus.«
»Will sie Benjamin umbringen?«
»Ich weiß nicht … Wahrscheinlich war das Ganze in ihren Augen meine Schuld. Hätte ich sie nicht hypnotisiert, hätte sie das Kind behalten dürfen.«
Erik verstummt und denkt an Benjamins Stimme bei seinem Anruf. Er hatte versucht, nicht ängstlich zu klingen, und von dem verwunschenen Schloss gesprochen. Damit musste er Lydias verwunschenes Schloss gemeint haben. Dort war sie aufgewachsen, dort hatte sie andere misshandelt und war wahrscheinlich selbst misshandelt worden.
Wenn sie Benjamin nicht zu ihrem verwunschenen Schloss mitgenommen hat, kann sie ihn überall hingeschafft haben.
Er stellt den Wagen vor dem Haupteingang des Krankenhauses ab und schert sich nicht darum, ihn abzuschließen oder die Parkgebühren zu bezahlen. Sie hasten am düsteren und zugeschneiten Becken des Springbrunnens und einigen bibbernden Rauchern in Bademänteln vorbei, laufen durch die surrenden Türen hinein und nehmen den Aufzug zu der Station, auf der Sim Shulman liegt.
Zahlreiche Blumen verströmen einen schweren Geruch im Zimmer. Große, duftende Blumensträuße stehen auf der Fensterbank. Ein Stapel Karten und Briefe von bestürzten Freunden und Kollegen liegt auf dem Tisch.
Erik betrachtet den Mann im Krankenhausbett, seine eingefallenen Wangen, die Nase, die Lider. Die allzu regelmäßigen Bewegungen seines Bauchs folgen dem seufzenden Rhythmus des Beatmungsgeräts. Shulman befindet sich in einem dauerhaft vegetativen Zustand und wird nur noch von den Apparaten im Raum am Leben erhalten. Über einen Luftröhrenschnitt ist eine Beatmungskanüle eingeführt worden. Ernährt wird er über eine Witzel-Fistel, einen Katheter, der direkt in den Magen führt.
»Simone, du wirst mit ihm sprechen, wenn er aufwacht, und …«
»Mann kann ihn nicht wecken«, unterbricht sie ihn mit gellender Stimme. »Er liegt im Koma, Erik, sein Gehirn ist durch den Blutverlust geschädigt, er wird nie wieder aufwachen, er wird nie mehr sprechen.«
Sie wischt sich Tränen von den Wangen.
»Wir müssen erfahren, was Benjamin gesagt …«
»Hör auf«, schreit sie und beginnt heftig zu weinen.
Eine Krankenschwester schaut zur Tür herein, sieht Erik Simones zitternden Körper umarmen und lässt die beiden in Ruhe.
»Ich werde ihm eine Spritze Zolpidem geben«, flüstert Erik in ihr Haar. »Das ist ein starkes Schlafmittel, das Menschen aus komatösen Zuständen wecken kann.«
Er spürt, dass sie den Kopf schüttelt.
»Wovon redest du da?«
»Es wirkt nur ganz kurz.«
»Ich glaube dir nicht«, sagt sie zögernd.
»Das Schlafmittel verlangsamt die hyperaktiven Prozesse in seinem Gehirn, die für das Koma verantwortlich sind.«
»Und dann wacht er auf? Willst du mir das sagen?«
»Er wird nie wieder gesund werden, er hat schwere Gehirnschäden erlitten, Sixan, aber mit Hilfe des Schlafmittels wird er vielleicht für einige Sekunden aufwachen.«
»Was soll ich tun?«
»Manchmal können Patienten, die das Mittel bekommen, ein paar Worte sagen, manchmal nur gucken.«
»Was du vorhast, ist nicht erlaubt, oder?«
»Ich werde nicht um Erlaubnis bitten, ich werde es einfach tun, und du musst mit ihm sprechen, sobald er aufwacht.«
»Beeil dich«, sagt sie.
Erik eilt los, um sich das nötige Material zu beschaffen. Simone stellt sich an Shulmans Bett und nimmt seine Hand in ihre. Sie sieht ihn an. Sein Gesicht ist ruhig. Die dunklen, kräftigen Gesichtszüge sind durch die Entspannung beinahe unpersönlich geworden. Der sonst so ironische, sinnliche Mund ist ausdruckslos. Nicht einmal seine ernste Furche zwischen den schwarzen Augenbrauen existiert noch. Sie streichelt sachte seine Stirn und denkt, dass sie seine Werke ausstellen wird und dass ein wirklich guter Künstler niemals stirbt.
Erik kehrt ins Zimmer zurück, geht wortlos zu Shulman und schiebt mit dem Rücken zur Tür sachlich den Ärmel des Krankenhauskittels hoch.
»Bist du bereit?«, fragt er.
»Ja«, antwortet sie. »Ich bin bereit.«
Erik hält die Spritze in der Hand, verbindet sie mit dem intravenösen Zugang und spritzt Shulman langsam die gelbliche Flüssigkeit. Dickflüssig vermischt sie sich mit der klaren Infusionslösung und verschwindet in der Nadel in Shulmans Armbeuge und in seinem Blutkreislauf. Erik steckt die Spritze in die Tasche, knöpft seine Jacke auf, setzt die Elektroden von Shulmans Brust auf seine eigene, nimmt die Klemme vom Zeigefinger des Mannes, befestigt sie an seinem eigenen und beobachtet stehend Shulmans Gesicht.
Es geschieht nichts. Shulmans Bauch hebt und senkt sich mit Hilfe des Beatmungsgeräts regelmäßig.
Erik hat einen trockenen Mund und friert.
»Sollen wir gehen?«, fragt Simone nach einer Weile.
»Warte«, flüstert Erik.
Seine Armbanduhr tickt langsam. Im Fenster fällt ein Blütenblatt aus einem Strauß und raschelt kurz, als es auf dem Boden landet. Regentropfen schlagen gegen das Fenster. Aus einem fernen Zimmer dringt das Lachen einer Frau zu ihnen herein.
Ein seltsames Zischen dringt aus Shulmans Körper wie eine schwache Brise durch ein halb geschlossenes Fenster.
Simone spürt Schweiß aus ihren Achselhöhlen am Körper hinunterlaufen. Sie fühlt sich in der Situation gefangen und bekommt Platzangst. Am liebsten würde sie aus dem Zimmer rennen, kann aber den Blick nicht mehr von Shulmans Hals abwenden. Vielleicht bildet sie es sich nur ein, aber plötzlich kommt es ihr vor, als würde die kräftige Schlagader in seinem Hals schneller pulsieren. Erik atmet schwer, und als er sich über Shulman beugt, sieht sie, dass er nervös wirkt, sich auf die Unterlippe beißt und nochmals einen Blick auf die Uhr wirft. Es passiert nichts. Das Beatmungsgerät zischt metallisch. Jemand geht an der Tür vorbei. Die Räder eines Wagens quietschen im Flur, dann wird es wieder still. Das einzige Geräusch kommt von der rhythmisch arbeitenden Maschine.
Plötzlich hört man ein leise scharrendes Geräusch. Simone begreift nicht, woher es kommt. Erik ist etwas zur Seite gewichen. Das Scharren geht weiter. Simone erkennt, dass es von Shulman kommen muss. Sie nähert sich ihm und sieht, dass sich sein Zeigefinger auf dem Laken bewegt. Ihr Herz schlägt schneller, und sie will gerade etwas zu Erik sagen, als Shulman die Augen öffnet. Er starrt sie mit einem seltsamen Blick an. Sein Mund verzieht sich zu einer ängstlichen Grimasse. Seine Zunge bewegt sich träge, Speichel läuft ihm aufs Kinn herab.
»Ich bin es, Sim. Ich bin es«, sagt sie und nimmt seine Hand in ihre Hände. »Ich werde dich ein paar sehr wichtige Dinge fragen.«
Shulmans Finger zittern langsam. Sie weiß, dass er sie sieht, aber dann rollen seine Augen nach hinten, der Mund spannt sich an, und die Adern in seinen Schläfen treten deutlich hervor.
»Als Benjamin angerufen hat, hast du das Gespräch an meinem Handy angenommen, erinnerst du dich?«
Erik, der Shulmans Elektroden auf seiner Brust hat, sieht auf dem Kontrollschirm, dass sich seine Herzfrequenz erhöht. Shulmans Füße vibrieren unter dem Laken.
»Sim, hörst du mich?«, fragt sie. »Ich bin es, Simone. Hörst du mich, Sim?«
Seine Augen kehren zurück, gleiten jedoch sofort wieder ab. Das Geräusch schneller Schritte dringt vom Flur herein, eine Frau ruft etwas.
»Du bist an mein Handy gegangen«, wiederholt sie.
Er nickt schwach.
»Mein Sohn war dran«, fährt sie fort. »Benjamin hat angerufen …«
Seine Füße beginnen wieder zu zittern, die Augen rollen nach hinten, und seine Zunge gleitet aus dem Mund.
»Was hat Benjamin gesagt?«, fragt Simone.
Shulman schluckt, kaut langsam, die Lider sinken herab.
»Sim? Was hat er gesagt?
Er schüttelt den Kopf.
»Er hat nichts gesagt?«
»Nicht …«, haucht Shulman.
»Was hast du gesagt?«
»Nicht Benja…«, sagt er fast lautlos.
»Er hat nichts gesagt?«, fragt Simone.
»Nicht er«, sagt Shulman mit heller und ängstlicher Stimme.
»Wie bitte?«
»Ussi?«
»Was sagst du?«, fragt sie.
»Jussi rief an …«
Shulmans Mund zittert.
»Wo war er?«, fragt Erik. »Frag ihn, wo Jussi war.«
»Wo war Jussi?«, fragt Simone. »Weißt du das?«
»Zu Hause«, antwortet Shulman.
»War Benjamin auch da?«
Shulmans Kopf fällt zur Seite, sein Mund erschlafft, und das Kinn legt sich in Falten. Simone sieht Erik gestresst an, sie weiß nicht, was sie tun soll.
»War Lydia da?«, fragt Erik.
Shulman blickt auf, seine Augen gleiten zur Seite.
»War Lydia da?«, fragt Simone.
Shulman nickt.
»Hat Jussi etwas davon gesagt …«
Simone verstummt, als Shulman wimmert. Sie tätschelt zärtlich seine Wange, und er sieht ihr plötzlich in die Augen.
»Was ist passiert?«, fragt er ganz klar und fällt anschließend wieder ins Koma.