44.
Freitag, früher Morgen, der achtzehnte Dezember
Kennet geht im Krankenhaus von Danderyd an zwei Polizistinnen vorbei, die sich angeregt im Flüsterton unterhalten. Im Zimmer hinter den beiden sieht er ein junges Mädchen auf einem Stuhl sitzen und ins Leere starren. Ihr Gesicht ist blutverschmiert, in ihren Haaren scheint überall geronnenes Blut zu kleben. Schwarze Flecken liegen auf ihrem weißen Hals und dem Brustkorb. Ihre Füße sind leicht nach innen gewinkelt, sie wirkt geistesabwesend und kindlich. Kennet nimmt an, dass sie Evelyn Ek ist, die Schwester des mehrfachen Mörders Josef Ek. Als hätte sie gehört, dass er ihren Namen in Gedanken ausspricht, blickt sie auf und sieht ihn unverwandt an. In ihren Augen spiegelt sich eine so seltsame Mischung aus Schmerz und Schock, Reue und Triumph, dass es fast schon obszön aussieht. Kennet wendet sich instinktiv und mit dem Gefühl ab, etwas Privates, Tabubelegtes gesehen zu haben. Ihm läuft ein Schauer über den Rücken, und er überlegt, dass er froh sein kann, Rentner zu sein, und nicht zu Evelyn Ek hineingehen und sie vernehmen zu müssen. Was sie über ihre Kindheit mit Josef Ek zu berichten hat, sollte kein Mensch sein Leben lang mit sich herumschleppen müssen.
Ein uniformierter Mann mit einem grauen länglichen Gesicht hält vor der geschlossenen Tür zu Simones Zimmer Wache. Kennet kennt ihn noch aus seiner Zeit im aktiven Dienst, kann sich aber nicht mehr an seinen Namen erinnern.
»Kennet«, sagt der Mann. »Alles in Ordnung?«
»Nein.«
»Verstehe.«
Auf einmal fällt Kennet der Name wieder ein, der Mann heißt Reine, und seine Frau starb völlig überraschend, als sie ihr erstes Kind bekommen hatten.
»Reine«, sagt Kennet. »Weißt du, wie Josef zu seiner Schwester gekommen ist?«
»Anscheinend hat sie ihn in die Wohnung gelassen.«
»Freiwillig?«
»Das kann man so nicht sagen.«
Reine erzählt daraufhin, dass Evelyn ausgesagt hat, sie sei mitten in der Nacht aufgewacht, zur Wohnungstür gegangen und habe durch den Spion den Polizeibeamten Ola Jacobsson betrachtet, der schlafend auf der Treppe saß. Bei der Ablösung hatte sie gehört, wie er einer Kollegin von seinen kleinen Kindern erzählte. Sie hatte ihn nicht wecken wollen, sondern war zur Couch zurückgekehrt und hatte sich noch einmal die Aufnahmen in dem Fotoalbum angesehen, das Josef in ihren Karton gepackt hatte. Die Bilder waren unverständliche Schnappschüsse aus einem längst verschwundenen Leben. Sie hatte das Album in den Karton zurückgelegt und überlegt, ob sie vielleicht einen anderen Namen annehmen und ins Ausland gehen könnte. Als sie zum Fenster ging und zwischen den Jalousielamellen nach draußen schaute, glaubte sie, unten auf dem Bürgersteig jemanden zu sehen. Sie zog schnell den Kopf zurück, wartete einen Moment und schaute noch einmal hinaus. Es schneite kräftig, und sie konnte niemanden erkennen. Die Straßenlaterne, die zwischen den Häusern hing, schwankte im stürmischen Wind. Sie hatte eine Gänsehaut bekommen, war zur Wohnungstür geschlichen, hatte ein Ohr gegen das Holz gepresst und gelauscht. Sie hatte das Gefühl, dass jemand vor der Tür stand. Josef verströmte einen ganz eigenen Geruch. Es war der Geruch von Wut und brennenden Chemikalien, und nun kam es Evelyn auf einmal so vor, als stiege ihr dieser Geruch in die Nase. Vielleicht war es nur Einbildung, aber sie blieb trotzdem an der Tür stehen, wagte jedoch nicht, durch den Spion zu schauen.
Nach einer Weile hatte sie sich zur Tür vorgebeugt und geflüstert:
»Josef?«
Es blieb still im Treppenhaus, und sie wollte schon ins Wohnzimmer zurückkehren, als hinter der Tür jemand flüsterte:
»Mach auf.«
Sie versuchte, nicht zu schluchzen, und antwortete:
»Ja.«
»Hast du gedacht, du würdest mir entkommen?«
»Nein«, flüsterte sie.
»Du wirst tun, was ich dir sage.«
»Ich kann dich nicht …«
»Schau mal durch den Spion«, unterbrach er sie.
»Ich will nicht.«
»Tu es trotzdem.«
Zitternd hatte sie sich zur Tür vorgebeugt. Durch die Weitwinkellinse des Spions konnte sie das ganze Treppenhaus sehen. Der eingeschlafene Polizist saß noch auf der Treppe, aber nun breitete sich unter ihm eine dunkle Blutlache aus. Seine Augen waren geschlossen, aber er atmete noch schnell. Evelyn sah, dass Josef sich am äußersten Rand des runden Blickfelds versteckte. Er presste sich an die Wand, warf sich dann jedoch hoch und schlug mit der Hand fest auf den Spion. Evelyn schreckte zurück und stolperte über ihre Schuhe im Eingang.
»Mach die Tür auf«, sagte er. »Sonst bringe ich den Polizisten um und klingele bei den Nachbarn und bringe auch die noch um. Ich fange mit der Tür hier an.«
Evelyn resignierte kurz, sie konnte nicht mehr und verlor jede Hoffnung, als der Verstand ihr sagte, dass sie Josef niemals entkommen würde. Mit zitternden Händen schloss sie die Tür auf und ließ ihren Bruder herein. Ihr einziger Gedanke war, dass sie lieber sterben wollte als zuzulassen, dass er wieder tötete.
Auf der Basis dessen, was er erfahren hat, erklärt Reine den Hergang, so gut er kann. Josef hatte sich ja in seinem Elternhaus versteckt und als die Beamten Evelyns Sachen holten, hörte er sie darüber sprechen, wo sie den Karton abliefern sollten. Reine geht davon aus, dass Evelyn dem verletzten Beamten helfen und weitere Morde verhindern wollte, als sie die Tür öffnete.
»Jacobsson kommt durch«, sagt er. »Indem sie ihrem Bruder gehorchte, hat sie ihn gerettet.«
Kennet schüttelt den Kopf.
»Was ist nur mit den Menschen los«, sagt er.
Reine kratzt sich müde an der Stirn.
»Sie hat deiner Tochter das Leben gerettet«, erwidert er.
Kennet klopft vorsichtig an die Tür von Simones Zimmer und öffnet sie anschließend einen Spaltbreit. Die Vorhänge sind zugezogen, und das Licht ist ausgeschaltet. Er blinzelt in die Dunkelheit hinein. Auf einer Couch sieht er die Konturen eines Menschen, es könnte seine Tochter sein.
»Simone?«, fragt er leise.
»Ich bin hier, Papa.«
Die Stimme kommt von der Couch.
»Willst du, dass es so dunkel ist? Soll ich Licht machen?«
»Ich ertrage es nicht, Papa«, flüstert sie nach einer Weile. »Ich ertrage es nicht.«
Kennet durchquert fast lautlos das Zimmer, setzt sich auf die Couch und legt die Arme um seine Tochter. Sie beginnt, hart und herzzerreißend zu schluchzen.
»Ich bin mal«, flüstert er und streichelt sie, »mit meinem Streifenwagen an deinem Kindergarten vorbeigekommen und habe dich auf dem Hof stehen sehen. Du standest mit dem Gesicht zum Zaun und weintest. Aus deiner Nase lief Rotz, und du warst nass und schmutzig, und die Erzieherinnen taten nichts, um dich zu trösten. Sie standen nur herum und unterhielten sich völlig teilnahmslos.«
»Was hast du gemacht?«, flüstert Simone.
»Ich habe angehalten und bin zu dir gegangen.«
Er lächelt in der Dunkelheit in sich hinein.
»Du hast sofort aufgehört zu weinen, meine Hand genommen und bist mitgekommen.«
Er verstummt.
»Es wäre wirklich schön, wenn ich dich jetzt einfach an die Hand nehmen und mit dir nach Hause gehen könnte.«
Sie nickt, schmiegt sich mit dem Kopf an ihn und fragt:
»Hast du etwas von Sim gehört?«
Er streicht ihr über die Wange und überlegt kurz, ob er ihr die Wahrheit sagen soll oder nicht. Der Arzt hatte schroff erklärt, Shulman habe viel zu viel Blut verloren. Er habe schwere Gehirnschäden davongetragen und werde nie wieder aus dem Koma erwachen.
»Sie können noch nichts Genaues sagen«, sagt er behutsam. »Aber …«
Er seufzt.
»Es sieht nicht gut aus, Liebes.«
Sie wird von Schluchzern geschüttelt.
»Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr«, weint sie.
»Ist ja gut, ist ja gut … Ich habe Erik angerufen. Er ist unterwegs.«
Sie nickt.
»Danke, Papa.«
Er streichelt sie wieder.
»Ich kann wirklich nicht mehr«, flüstert Simone.
»Weine nicht, Kleines.«
Sie schluchzt laut und erbärmlich.
»Ich kann nicht mehr …«
Im selben Augenblick geht die Tür auf, und Erik macht das Licht an. Er geht schnell durchs Zimmer, setzt sich neben Simone und sagt:
»Gott sei Dank, du lebst.«
Simone presst ihr Gesicht an seine Brust.
»Erik«, sagt sie halb erstickt in seinen Mantel.
Er streicht ihr über den Kopf. Er sieht sehr müde aus, aber seine Augen sind aufmerksam und klar. Sie denkt, dass er nach ihrem Zuhause riecht, er riecht nach ihrer Familie.
»Erik«, sagt Kennet ernst. »Du musst etwas Wichtiges erfahren. Du auch, Simone. Ich habe vorhin mit Aida gesprochen.«
»Hat sie was gesagt?«, fragt Simone.
»Ich wollte ihr erzählen, dass wir Wailord und die anderen geschnappt haben«, antwortet Kennet. »Ich wollte nicht, dass sie sich weiter ängstigen.«
Erik sieht ihn fragend an.
»Das ist eine lange Geschichte, ich werde sie dir erzählen, wenn wir mehr Zeit haben, aber …«
Kennet holt tief Luft und sagt mit heiserer, müder Stimme:
»Jemand hat wenige Tage vor Benjamins Verschwinden Kontakt zu ihm aufgenommen. Eine Frau hat sich ihm gegenüber als seine richtige, biologische Mutter ausgegeben.«
Simone macht sich von Erik frei, sieht Kennet an, wischt sich den Rotz von der Nase und fragt mit einer Stimme, die vom vielen Weinen hell und spröde geworden ist:
»Seine richtige Mutter?«
Kennet nickt.
»Aida hat mir erzählt, dass diese Frau ihm Geld gegeben und ihm bei den Hausaufgaben geholfen hat.«
»Das ist doch vollkommen verrückt«, wispert Simone.
»Sie hat ihm sogar einen anderen Namen gegeben.«
Erik sieht erst Simone und dann Kennet an und bittet ihn weiterzusprechen.
»Nun«, sagt Kennet, »Aida hat mir erzählt, dass diese Frau, die behauptet hat, Benjamins Mutter zu sein, ihm erzählt hat, sein richtiger Name sei Kasper.«
Simone sieht Eriks Gesicht erstarren und ist plötzlich wieder hellwach.
»Was ist los, Erik?«, fragt sie.
»Kasper?«, sagt Erik. »Sie hat ihn Kasper genannt?«
»Ja«, bestätigt Kennet. »Aida wollte es mir erst nicht sagen, offenbar hatte sie Benjamin versprochen, nicht darüber …«
Er verstummt. Aus Eriks Gesicht ist alle Fabe gewichen, und er sieht aus, als könnte er jeden Moment bewusstlos werden. Er steht auf, weicht zwei Schritte zurück, stolpert um ein Haar über den Tisch, rennt gegen einen Sessel und verlässt den Raum.