11.
Dienstagabend, der achte Dezember
Benjamin hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Simone sitzt mit geschlossenen Augen am Küchentisch und hört die Liveübertragung eines klassischen Konzerts aus der Berwaldhalle. Sie versucht, sich ein Leben als alleinstehende Frau vorzustellen. Es würde sich von dem, was ich jetzt führe, kaum unterscheiden, denkt sie ironisch. Ich würde vielleicht öfter in Konzerte, Theater und Galerien gehen, wie alle einsamen Frauen dies tun.
Sie findet eine Flasche Malt Whisky im Schrank und schenkt sich einen Schluck und ein paar Tropfen Wasser ein: hellgelbe Flüssigkeit in einem schweren Glas. Während die warmen Töne einer Cellosuite von Bach die Küche füllen, wird die Wohnungstür geöffnet. Es ist eine sanfte und traurige Melodie. Erik steht im Türrahmen und sieht sie an, sein Gesicht ist vor Müdigkeit ganz grau.
»Das sieht gut aus«, meint er.
»Man nennt es Whisky«, sagt sie und gibt ihm das Glas.
Sie schenkt sich selbst ein neues ein, und dann stehen sie sich gegenüber und prosten sich ernst zu.
»Hattest du einen anstrengenden Tag?«, fragt sie leise.
»Ziemlich«, antwortet er und lächelt blass.
Auf einmal sieht er unglaublich abgekämpft aus. Es liegt ein Schleier auf seinen Gesichtszügen wie eine dünne Schicht Staub.
»Was hörst du?«, fragt er.
»Soll ich es ausschalten?«
»Nicht meinetwegen — es ist schön.«
Erik leert sein Glas, reicht es ihr, und sie schenkt ihm nach.
»Benjamin ist also nicht tätowiert worden«, sagt er.
»Du hast die dramatischen Ereignisse auf deiner Mailbox verfolgt.«
»Eben erst, auf dem Heimweg, vorher bin ich nicht dazu gekommen und …«
»Nein«, unterbricht sie ihn und denkt an diese Frau, die sich bei ihrem Anruf gemeldet hat.
»Es war gut, dass du hingefahren bist und ihn geholt hast«, sagt Erik.
Sie nickt und überlegt, dass alle Gefühle ineinandergeschoben sind, keine Beziehung frei und abgegrenzt für sich steht, alles von allem durchdrungen wird.
Sie trinken noch einen Schluck, und plötzlich merkt sie, dass Erik sie anlächelt. Von seinem Lächeln mit den schiefen Zähnen hat sie immer weiche Knie bekommen. Sie denkt daran, wie gerne sie jetzt mit ihm schlafen würde, ohne zu reden, ohne Komplikationen. Eines Tages werden wir ohnehin alle allein sein, überlegt sie sich.
»Ich weiß nichts«, sagt sie kurz. »Oder vielmehr … Ich weiß, dass ich dir nicht vertraue.«
»Warum sagst du …«
»Es kommt mir so vor, als hätten wir alles verloren«, unterbricht sie ihn. »Du schläfst nur, oder du bist auf der Arbeit oder wo immer du bist. Ich hätte gerne Dinge unternommen, wäre gerne verreist, mit dir zusammen gewesen.«
Er stellt sein Glas ab und macht einen Schritt auf sie zu.
»Können wir das denn nicht tun?«, sagt er schnell.
»Sag so etwas nicht«, flüstert sie.
»Warum nicht?«
Er lächelt, streicht ihr über die Wange und wird ernst. Auf einmal küssen sie sich. Simone spürt, wie sehr sich ihr ganzer Körper nach Küssen gesehnt hat.
»Papa, weißt du, wo …«
Benjamin verstummt, als er in die Küche kommt und sie sieht.
»Ihr spinnt doch«, seufzt er und geht wieder.
»Benjamin«, ruft Simone ihm hinterher.
Er kommt zurück.
»Du hast versprochen, uns was zu essen zu holen«, sagt sie.
»Hast du denn schon angerufen?«
»In fünf Minuten ist es fertig«, sagt sie und gibt ihm ihr Portemonnaie. »Du weißt, wo der Thailänder ist?«
»Nein«, seufzt er.
»Geh nur den direkten Weg«, sagt sie.
»Lass das.«
»Hör auf deine Mutter«, ermahnt Erik.
»Ich geh nur an der Ecke etwas zu essen holen, es wird mir schon nichts passieren«, erwidert Benjamin und geht in den Flur.
Simone und Erik lächeln sich an, hören die Wohnungstür ins Schloss fallen und danach Benjamins schnelle Schritte auf der Treppe.
Erik holt drei Saftgläser aus dem Schrank, hält inne, nimmt Simones Hand und hält sie an seine Wange.
»Sollen wir ins Schlafzimmer gehen?«, fragt sie.
Er scheint sich verlegen zu freuen, als plötzlich das Telefon klingelt.
»Geh nicht dran«, sagt er.
»Es könnte Benjamin sein«, antwortet sie und hält den Apparat ans Ohr. »Simone.«
Man hört nichts, nur ein leises Ticken, möglicherweise von einem Reißverschluss, der geöffnet wird.
»Hallo?«
Sie stellt das Telefon in die Basisstation zurück.
»War keiner dran?«, fragt Erik.
Simone denkt, dass er besorgt wirkt. Er geht zum Fenster und blickt auf die Straße hinunter. Wieder hat sie diese Frau im Ohr, die sich meldete, als sie die Nummer wählte, von der aus Erik am Morgen angerufen worden war. »Lass das, Erik«, hatte die Frau gelacht. Und was sollte er lassen? Unter ihren Kleidern zu tasten, an ihren Brüsten zu saugen, ihren Rock zu heben?
»Ruf Benjamin an«, sagt Erik mit angespannter Stimme.
»Warum soll ich …«
Sie greift nach dem Telefon, das im selben Moment klingelt.
»Hallo?«, meldet sie sich.
Als keiner etwas sagt, bricht sie das Gespräch ab und wählt Benjamins Nummer.
»Es ist besetzt.«
»Ich kann Benjamin nicht sehen«, sagt Erik.
»Soll ich ihm nachgehen?«
»Vielleicht.«
»Er wird sauer auf mich sein«, lächelt sie.
»Ich mache es«, sagt Erik und geht in den Flur.
Er nimmt gerade die Jacke vom Kleiderbügel, als sich die Tür öffnet und Benjamin hereinkommt. Erik hängt die Jacke zurück und nimmt die dampfende Plastiktüte mit den Essenskartons entgegen.
Sie setzen sich vor den Fernseher, schauen einen Film und essen direkt aus den Kartons. Benjamin lacht über einen Dialog. Sie sehen sich zufrieden an, genau wie früher, als er klein war und schallend über das Kinderprogramm lachte. Erik legt seine Hand auf Simones Knie, und sie legt ihre Hand auf seine und drückt seine Finger.
Bruce Willis liegt auf dem Rücken und wischt sich Blut vom Mund. Wieder klingelt das Telefon, und Erik stellt sein Essen ab und verlässt die Couch. Er geht in den Flur und meldet sich, so ruhig er kann.
»Erik Maria Bark.«
Man hört nichts außer einem schwachen Klacken.
»Jetzt reicht es mir aber«, sagt er wütend.
»Erik?«
Es ist Daniellas Stimme.
»Bist du das, Erik?«, fragt sie.
»Wir sind beim Essen.«
Er hört sie schnell atmen.
»Was wollte er?«, fragt sie.
»Wer?«
»Josef«, sagt sie.
»Josef Ek?«, fragt Erik.
»Hat er nichts gesagt?«, wiederholt Daniella.
»Wann?«
»Gerade … am Telefon.«
Erik schaut durch die Tür ins Wohnzimmer und sieht Simone und Benjamin auf der Couch sitzen und sich den Film ansehen. Er denkt an die Familie in Tumba. Das kleine Mädchen, die Mutter und den Vater. Die schreckliche, rasende Wut hinter der Tat.
»Warum denkst du, dass er mich angerufen hat?«, fragt Erik.
Daniella räuspert sich.
»Er muss die Krankenschwester überredet haben, ihm ein Telefon zu geben, ich habe mit der Telefonzentrale gesprochen, man hat ihn mit dir verbunden.«
»Bist du sicher?«, fragt Erik.
»Josef hat geschrien, als ich ins Zimmer gekommen bin, er hatte sich den Katheter herausgerissen, ich habe ihm Alprazolam gegeben, aber bevor er eingeschlafen ist, hat er einige Dinge über dich gesagt.«
»Was denn? Was hat er gesagt?«
Erik hört Daniella im Hörer schwer schlucken, und ihre Stimme klingt sehr müde, als sie ihm antwortet:
»Dass du sein Gehirn gefickt hättest und seine Schwester in Ruhe lassen sollst, wenn du nicht vernichtet werden willst, das hat er mehrmals wiederholt, dass du damit rechnen könntest, vernichtet zu werden.«