16.
Freitagmorgen, der elfte Dezember
Es war noch keine sieben Uhr, als Joona Linna von Doktor Daniella Richards angerufen wurde. Sie erklärte, Josef könne jetzt kürzere Vernehmungen durchhalten, auch wenn er immer noch in dem Zimmer neben dem Operationssaal liege.
Als Joona sich ins Auto setzt, um zum Krankenhaus zu fahren, spürt er einen dumpfen Schmerz im Ellbogen. Er denkt an den Vorabend, an dem das Blaulicht der Streifenwagen über die Fassade des Hochhauses am Tantolunden schweifte, in dem Sorab Ramadani wohnte. Der groß gewachsene Mann mit der Jungenfrisur hatte Blut gespuckt und undeutlich etwas über seine Zunge gemurmelt, als man ihn auf die Rückbank des Streifenwagens verfrachtete. Ronny Alfredsson und sein Kollege Peter Jysk wurden in einem Schutzraum im Keller des Hochhauses gefunden. Sie waren mit Messern bedroht und eingesperrt worden, woraufhin die Männer ihren Streifenwagen zu einem anderen Hochhaus gefahren und dort abgestellt hatten.
Joona war zu dem Hochhaus zurückgekehrt, hatte an Sorabs Tür geklingelt und ihm gesagt, dass man seine Leibwächter verhaftet hatte und die Polizei die Tür zu seiner Wohnung aufbrechen würde, wenn er nicht sofort aufmachte.
Sorab ließ ihn herein, bat ihn, auf der blauen Ledercouch Platz zu nehmen, bot ihm Kamillentee an und entschuldigte sich für seine Freunde.
Er war ein blasser Mann, der seine Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Er war ängstlich, schaute sich die ganze Zeit um, bat erneut um Entschuldigung für das, was passiert war, meinte jedoch erklärend, er habe in letzter Zeit viele Probleme gehabt.
»Und deshalb«, sagte er leise, »habe ich mir Leibwächter besorgt.«
»Was sind das für Probleme?«, erkundigte sich Joona und nippte an dem heißen Tee.
»Es ist jemand hinter mir her.«
Sorab stand auf und lugte aus dem Fenster.
»Wer?«, fragte Joona.
Sorab sagte eintönig, mit dem Rücken zu Joona, er wolle nicht darüber sprechen.
»Muss ich reden?«, fragte er. »Hab ich nicht das Recht zu schweigen?«
»Doch, Sie haben das Recht zu schweigen«, gab Joona zu.
Sorab zuckte mit den Schultern.
»Na also.«
»Aber ich würde mich trotzdem gerne mit Ihnen unterhalten«, hatte Joona nachgehakt. »Ich könnte Ihnen vielleicht helfen, haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?«
»Vielen Dank«, sagte Sorab zum Fenster gewandt.
»Ist es Evelyns Bruder, der …«
»Nein«, unterbrach der Mann Joona jäh.
»Dann war Josef Ek nicht hier?«
»Er ist nicht ihr Bruder.«
»Wer ist er dann?«
»Was weiß ich, aber er ist nicht ihr Bruder, er ist etwas anderes.«
Nach diesen Worten war Sorab wieder nervös geworden, hatte über Fußball gesprochen, die Bundesliga, und keine Fragen mehr beantwortet. Joona fragte sich, was Josef zu Sorab gesagt hatte, was er getan hatte, wie er ihn so hatte einschüchtern können, dass er verriet, wo sich Evelyn aufhielt.
Joona biegt ab und parkt vor der Neurochirurgie, steigt aus dem Auto, durchquert den weiträumigen Eingangsbereich, nimmt den Aufzug in die fünfte Etage, geht den Flur hinab, grüßt den Polizeibeamten, der Wache hält, und betritt anschließend Josefs Zimmer. Eine Frau steht von ihrem Stuhl neben dem Bett auf und stellt sich ihm vor:
»Lisbet Carlén«, sagt sie. »Ich bin Sozialarbeiterin und werde während der Vernehmungen Josefs Beistand sein.«
»Ausgezeichnet«, sagt Joona und gibt ihr die Hand.
Sie sieht ihn mit einem Blick an, den er aus irgendeinem Grund sympathisch findet.
»Sie werden Josef vernehmen?«, fragt sie interessiert.
»Ja. Entschuldigen Sie, ich heiße Joona Linna und bin von der Landeskripo, wir haben telefoniert.«
In regelmäßigen Abständen ertönt ein lautes Blubbern von der Bülowdrainage, einer Pumpe, die über ein Röhrchen mit Josefs punktiertem Lungenfell verbunden ist. Die Drainage stellt den Unterdruck her, den es auf natürlichem Wege nicht mehr gibt, sodass Josefs Lunge während des Heilungsprozesses normal arbeiten kann.
Lisbet Carlén sagt leise, die Ärztin habe gemeint, dass Josef wegen des Risikos neuer Blutungen in der Leber möglichst still liegen müsse.
»Ich werde kein Risiko für seine Gesundheit eingehen«, verspricht Joona und stellt das Aufnahmegerät auf den Tisch neben Josefs Gesicht.
Mit einer Geste deutet er an, dass er beginnen könne, und Lisbeth Carlén nickt. Er startet die Aufnahme, beschreibt die Vernehmungssituation, erläutert, dass Josef Ek zur Sache befragt wird und es der 11. Dezember, 8.15 Uhr ist. Anschließend hält er fest, wer anwesend ist.
»Hallo«, sagt Joona.
Josef sieht ihn mit trägen Augen an.
»Ich heiße Joona … ich bin Kriminalkommissar.«
Josef schließt die Augen.
»Wie geht es dir?«
Die Sozialarbeiterin sieht aus dem Fenster.
»Kannst du bei dem Blubbern schlafen?«, fragt er.
Josef nickt sachte.
»Weißt du, warum ich hier bin?«
Josef öffnet die Augen und schüttelt langsam den Kopf. Joona wartet und beobachtet sein Gesicht.
»Es hat einen Unfall gegeben«, sagt Josef. »Meine Familie hatte einen Unfall.«
»Hat dir keiner erzählt, was passiert ist?«, fragt Joona.
»Ein bisschen vielleicht«, antwortet der Junge schwach.
»Er weigert sich, mit Psychologen und Therapeuten zu sprechen«, erläutert die Sozialarbeiterin.
Joona denkt daran, wie anders Josefs Stimme während der Hypnose geklungen hat. Nun ist sie auf einmal zart, kaum zu hören und stets fragend.
»Ich glaube, dass du weißt, was passiert ist.«
»Du brauchst darauf nicht zu antworten«, sagt Lisbet Carlén schnell.
»Du bist jetzt fünfzehn«, fährt Joona fort.
»Ja.«
»Was hast du an deinem Geburtstag gemacht?«
»Ich erinnere mich nicht«, sagt Josef.
»Hast du Geschenke bekommen?«
»Ich habe ferngesehen«, antwortet Josef.
»Bist du zu Evelyn gefahren?«, fragt Joona neutral.
»Ja.«
»Zu ihrer Wohnung?«
»Ja.«
»War sie da?«
»Ja.«
Schweigen.
»Nein, war sie nicht«, korrigiert Josef sich zögernd.
»Und wo war sie?«
»Im Sommerhaus«, antwortet er.
»Ist es ein schönes Sommerhaus?«
»Schön nicht … aber ganz gemütlich.«
»Hat sie sich gefreut?«
»Wer?«
»Evelyn.«
Schweigen.
»Hast du ihr etwas mitgebracht?«
»Eine Torte.«
»Eine Torte? War sie lecker?«
Er nickt.
»Fand Evelyn sie auch lecker?«, fährt Joona fort.
»Sie soll nur das Beste bekommen«, sagt er.
»Hat sie dir was geschenkt?«
»Nein.«
»Aber sie hat vielleicht gesungen für …«
»Sie wollte mir mein Geschenk nicht geben«, sagt er verletzt.
»Hat sie das gesagt?«
»Ja, das hat sie«, antwortet er schnell.
»Warum nicht?
Schweigen.
»War sie wütend auf dich?«, fragt Joona.
Er nickt.
»Wollte sie, dass du etwas tust, was du nicht tun konntest?«, fährt Joona ruhig fort.
»Nein, sie …«
Josef flüstert den restlichen Satz.
»Ich verstehe dich nicht, Josef.«
Er flüstert weiter. Joona geht näher heran, versucht, die Worte zu verstehen und beugt sich über den Jungen.
»Dieses miese Dreckschwein!«, brüllt Josef ihm ins Ohr.
Joona weicht zurück, geht um das Bett herum, streicht sich übers Ohr und versucht zu lächeln. Josefs Gesicht ist aschfahl, als er zischt:
»Ich werde diesen verdammten Hypnotiseur aufspüren und ihm die Kehle durchbeißen, jagen werde ich sie, ihn und seine …«
Die Sozialarbeiterin eilt zum Bett und versucht, das Aufnahmegerät auszuschalten.
»Josef! Du hast das Recht zu schweigen …«
»Mischen Sie sich nicht ein«, unterbricht Joona sie.
Sie sieht ihn empört an und sagt mit zittriger Stimme:
»Vor Beginn der Vernehmung hätten Sie ihn darüber aufklären müssen, dass …«
»Nein, Sie irren sich, das steht in keinem Gesetz«, erläutert Joona mit erhobener Stimme. »Er hat das Recht zu schweigen, das ist wahr, aber es steht nirgendwo, dass ich ihn über dieses Recht informieren muss.«
»Dann entschuldigen Sie.«
»Schon gut«, murmelt Joona und wendet sich wieder Josef zu. »Warum bist du so wütend auf den Hypnotiseur?«
»Ich muss deine Fragen nicht beantworten«, sagt Josef und versucht, auf die Sozialarbeiterin zu zeigen.