51.

 

Donnerstag, der siebzehnte Dezember

 

 

 

 

 

Benjamin liegt auf dem Fußboden und lauscht dem Schaukelstuhl, dessen gebogene Kufen klebrig über die glänzende Fläche des Kunststoffbodens knarren. Inzwischen hat er starke Gliederschmerzen. Der Stuhl bewegt sich gemächlich vor und zurück. Es knarrt, und der Wind streicht über das Blechdach. Plötzlich singt die grobe Feder an der Tür zum Vorbau metallisch. Schwere Schritte bewegen sich durch den Gang. Jemand tritt seine Stiefel ab. Benjamin hebt den Kopf, aber als er zu sehen versucht, wer den Raum betritt, spannt die Hundeleine um seinen Hals.

»Leg dich hin«, murmelt Lydia.

Er senkt den Kopf zum Fußboden und spürt erneut die langen rauen Fransen des Webteppichs an seiner Wange. Trockener Staubgeruch steigt ihm in die Nase.

»In drei Tagen ist der vierte Advent«, sagt Jussi. »Da könnten wir Pfefferkuchen backen.«

»Die Sonntage sind zur Züchtigung da und zu nichts anderem«, entgegnet Lydia und schaukelt weiter.

Marek kichert über etwas, verstummt jedoch abrupt.

»Lach du nur«, meint Lydia.

»Es war nichts.«

»Ich will, dass meine Familie fröhlich ist«, erklärt Lydia gedämpft.

»Das sind wir«, erwidert Marek.

Der Fußboden ist kalt, und es zieht kühl an den Wänden, die Wollmäuse im Kabelgewirr hinter dem Fernseher rollen hin und her. Benjamin ist nach wie vor nur mit seinem Schlafanzug bekleidet. Er denkt an ihre Ankunft in Jussis verwunschenem Schloss zurück. An dem Tag lag schon Schnee, und seitdem hat es geschneit, getaut und wieder gefroren. Er war von Marek durch einen Fahrzeugpark vor dem Haus geführt worden, zwischen alten, schneebedeckten Bussen und aufgebockten Autowracks hindurch. Er war mit nackten, brennenden Füßen durch den Schnee gestapft. Wenn man zwischen den großen verschneiten Autos über den Hof ging, kam man sich vor wie in einem Burggraben. Im Haus hatte Licht gebrannt, und Jussi war mit dem Elchstutzen auf dem Arm auf die Eingangstreppe hinausgetreten. Als er Lydia erblickte, schien jedoch alle Kraft aus ihm zu weichen. Er hatte sie nicht erwartet, und sie waren ihm auch nicht willkommen, aber er würde keinen Widerstand leisten, sich Lydias Willen unterwerfen und sich ihr fügen, wie sich das Vieh fügt. Als Marek zu ihm ging und ihm das Gewehr abnahm, schüttelte Jussi nur den Kopf. Dann hatte man Schritte gehört, und Annbritt war aus dem Haus getreten. Jussi hatte gemurmelt, dass sie mit ihm zusammenlebte und sie Annbritt doch bitte laufen lassen sollten. Als Annbritt die Hundeleine um Benjamins Hals sah, wurde sie leichenblass und versuchte, ins Haus zurückzukehren und die Tür zu schließen. Marek hinderte sie daran, indem er den Gewehrlauf in den Türspalt steckte und grinsend fragte, ob sie eintreten dürften.

»Wollen wir über das Weihnachtsessen sprechen?«, fragt Annbritt jetzt mit unsicherer Stimme.

»Am wichtigsten sind die Heringshappen und die Presskopfsülze«, sagt Jussi.

Lydia seufzt gereizt. Benjamin blickt zu dem goldfarbenen Deckenventilator mit seinen vier ebenso goldfarbenen Lampen auf. Die Schatten der stillstehenden Flügel sehen auf dem weiß gestrichenen Masonit aus wie eine graue Blume.

»Der Junge will doch bestimmt gerne Fleischbällchen essen«, meint Jussi.

»Wir werden sehen«, erwidert Lydia.

Marek spuckt in einen Blumentopf und blickt in die Dunkelheit hinaus.

»Langsam bekommt man Hunger«, sagt er.

»Wir haben viel Elch- und Rehfleisch in der Gefriertruhe«, erwidert Jussi.

Marek geht zum Tisch, stochert im Brotkorb, bricht ein Stück Knäckebrot ab und stopft es sich in den Mund.

Als Benjamin hochschaut, reißt Lydia an der Leine. Er hustet und legt sich wieder hin. Er ist hungrig und müde.

»Ich brauche bald meine Medikamente«, sagt er.

»Du kommst auch so ganz gut zurecht«, entgegnet Lydia.

»Ich brauche eine Spritze in der Woche, und es ist mehr als eine Woche her, dass ich …«

»Still.«

»Ich sterbe, wenn ich nicht …«

Lydia reißt so fest an der Leine, dass Benjamin vor Schmerz wimmert. Er fängt an zu weinen, und sie zerrt noch einmal, damit er still ist.

Marek schaltet den Fernseher ein. Es rauscht, und eine entlegene Stimme spricht. Vielleicht ist es eine Sportsendung. Marek schaltet immer wieder um, ohne ein Bild zu bekommen, und schaltet den Apparat wieder aus.

»Ich hätte den Fernseher aus dem anderen Haus mitnehmen sollen«, sagt er.

»Hier oben gibt es eben kein Kabelfernsehen«, sagt Jussi.

»Du bist ein Idiot«, erklärt Lydia.

»Warum funktioniert die Satellitenschüssel nicht?«, fragt Marek.

»Keine Ahnung«, antwortet Jussi. »Manchmal ist es hier oben ziemlich stürmisch, wahrscheinlich hängt sie schief.«

»Dann bring sie in Ordnung«, sagt Marek.

»Mach es selbst!«

»Hört auf, euch zu streiten«, sagt Lydia.

»Im Fernsehen läuft sowieso nur Mist«, murrt Jussi.

»Also ich mag Let’s dance«, sagt Marek.

»Darf ich aufs Klo?«, fragt Benjamin leise.

»Pipi machst du draußen«, sagt Lydia.

»Okay«, erwidert Benjamin.

»Bring ihn raus, Marek«, befiehlt Lydia.

»Jussi übernimmt das«, entgegnet Marek.

»Er kann doch alleine gehen«, sagt Jussi. »Weglaufen kann er sowieso nicht, es sind fünf Grad unter null und es ist weit bis …«

»Du gehst mit«, unterbricht Lydia ihn. »Ich passe solange auf Annbritt auf.«

Als Benjamin sich aufsetzt, wird ihm schwindlig. Er sieht, dass Jussi von Lydia die Leine übernommen hat. Benjamins Knie sind steif, und ein bohrender Schmerz schießt in seinen Oberschenkel hoch, als er losgeht. Jeder Schritt ist unerträglich, aber er beißt die Zähne zusammen, um keinen Mucks von sich zu geben. Er will Lydia nicht stören, sie nicht reizen.

Im Flur hängen Diplome an den Wänden. Licht spendet eine Wandlampe aus Messing mit Milchglasschirmen. Auf dem korkfarbenen Kunststoffboden steht eine Supermarkttüte mit der Aufschrift: Qualität, Leistung, Service.

»Ich muss kacken«, sagt Jussi und lässt die Leine los. »Warte im Eingang, wenn du zurückkommst.«

Jussi greift sich an den Bauch, verschwindet schnaufend in der Toilette und schließt sich ein. Benjamin blickt zurück, sieht durch den Türspalt Annbritts breiten, runden Rücken und hört Marek über griechische Pizzen reden.

An einem Haken im Flur hängt Lydias dunkelgrüne Steppjacke. Benjamin durchsucht die Taschen, findet die Schlüssel zum Haus, ein goldfarbenes Portemonnaie und sein Handy. Als er sieht, dass der Akku zumindest noch für ein Gespräch reichen müsste, schlägt sein Herz schneller. Er schleicht sich durch die selbsttätig zufallende Tür in den Eingangsbereich, an der Tür zur Speisekammer vorbei und in die betäubende Kälte hinaus. Der Empfang ist schlecht. Er läuft barfuß ein Stück auf dem freigeschaufelten Gang im Schnee, der zum Brennholzschuppen führt. In der Dunkelheit erahnt er die sanft geschwungenen Schneeformationen auf den alten Bussen und Autos. Seine Hände sind steif und zittern vor Kälte. Die erste Nummer, die er findet, ist die von Simones Handy. Er wählt sie und hält sich zitternd das Telefon ans Ohr. Er hört die ersten knisternden Klingeltöne, als die Tür zum Haus aufgeht. Es ist Jussi. Sie sehen sich an. Benjamin kommt nicht auf die Idee, das Telefon zu verstecken. Vielleicht sollte er wegrennen, aber er weiß nicht wohin. Jussi kommt mit großen Schritten auf ihn zu, sein Gesicht ist blass und besorgt.

»Bist du fertig?«, fragt er mit lauter Stimme.

Jussi ist bei Benjamin, sieht ihm in die Augen, es ist eine Abmachung, er nimmt Benjamin das Telefon ab und geht zum Holzschuppen, als Lydia aus dem Haus tritt.

»Was treibt ihr da?«, fragt sie.

»Ich geh noch Holz holen«, ruft Jussi und versteckt das Telefon unter seiner Jacke.

»Ich bin fertig«, sagt Benjamin.

Lydia bleibt in der Tür stehen und lässt Benjamin ins Haus.

Sobald Jussi im Holzschuppen ist, blickt er auf das Handy und sieht, das in dem hellblauen Display »Mama« steht. Trotz der Kälte steigt ihm der Duft von Holz und Harz in die Nase. Im Schuppen ist es stockfinster, das Telefon ist die einzige Lichtquelle. Jussi hält es sich ans Ohr und hört, dass sich jemand meldet.

»Hallo«, sagt ein Mann. »Hallo?«

»Erik, bist du’s?«, fragt Jussi.

»Nein, hier spricht …«

»Ich heiße Jussi, könnten Sie Erik bitte etwas von mir ausrichten, es ist wichtig, wir sind hier oben, bei mir zu Hause, ich und Lydia und Marek und …«

Jussi wird davon unterbrochen, dass der Mann am anderen Ende auf einmal unartikuliert aufschreit. Es kracht und rauscht, jemand hustet, eine Frau weint klagend, und es wird still. Die Leitung ist unterbrochen. Jussi betrachtet das Telefon und überlegt, dass er es bei jemand anderem versuchen wird. Als er im Telefonbuch blättert, ist der Akku plötzlich leer. Das Telefon erlischt, und im selben Moment geht die Tür zum Holzschuppen auf, und Lydia lugt herein.

»Ich habe durch die Ritzen in der Tür deine Aura gesehen, sie war ganz blau«, sagt sie.

Jussi verbirgt das Handy hinter seinem Rücken, steckt es in die Tasche und beginnt, einen Korb mit Brennholz zu füllen.

»Geh ins Haus«, weist Lydia ihn an. »Ich mache das hier.«

»Danke«, antwortet Jussi und verlässt den Schuppen. Auf dem Weg zum Haus sieht er die Eiskristalle auf dem Schnee im Licht der Fenster funkeln. Es knirscht trocken unter seinen Stiefeln. Ruckende, schlurfende Schritte nähern sich ihm, begleitet von einem Keuchen von hinten. Jussi muss an seinen Hund Castro denken. Er erinnert sich an Castro als Welpe, der unter dem leichten Neuschnee Mäuse jagte. Jussi lächelt still, als ihn ein Schlag auf den Hinterkopf nach vorn stolpern lässt. Er würde auf den Bauch fallen, wenn sich die Axt nicht in seinem Hinterkopf verkeilt hätte und ihn nach hinten ziehen würde. Er steht mit hängenden Armen auf der Stelle. Lydia ruckelt an der Axt und zieht sie heraus. Jussi spürt das Blut seinen Nacken und Rücken herablaufen. Er sinkt auf die Knie, fällt nach vorn, spürt den Schnee auf seinem Gesicht, tritt mit den Beinen aus und rollt auf den Rücken, um wieder hochzukommen. Jussis Gesichtsfeld verengt sich schnell, aber in seinen letzten bewussten Sekunden nimmt er noch Lydia wahr, die über ihm die Axt hebt.

Der Hypnotiseur
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