1.

 

Die Nacht zum achten Dezember

 

 

 

 

 

Als das Telefon klingelt, wird Erik Maria Bark aus einem Traum gerissen. Bevor er richtig wach ist, hört er sich selbst sagen:

»Ballons und Luftschlangen.«

Plötzlich aus dem Schlaf gerissen, pocht sein Herz. Erik weiß nicht, was er mit seinen Worten gemeint haben könnte, hat keine Ahnung, worum es in seinem Traum ging.

Um Simone nicht zu wecken, schleicht er sich aus dem Schlafzimmer und schließt die Tür, ehe er sich meldet.

»Erik Maria Bark.«

Ein Kriminalkommissar namens Joona Linna fragt ihn, ob er wach genug ist, um wichtige Informationen aufzunehmen. Als er den Worten des Kommissars lauscht, fallen seine Gedanken immer noch in die dunkle Leere nach dem Traum.

»Man hat mir gesagt, dass Sie Experte für Traumabehandlung sind«, sagt Joona Linna.

»Ja«, antwortet Erik knapp.

Während er den Ausführungen des Polizisten lauscht, nimmt er eine Schmerztablette. Der Kommissar erklärt, er müsse jemanden vernehmen. Ein fünfzehnjähriger Junge sei Zeuge eines Doppelmords geworden. Es gebe nur leider das Problem, dass der Junge selbst lebensgefährlich verletzt worden sei. Sein Zustand ist instabil, er hat einen medizinischen Schock erlitten und ist bewusstlos. In der Nacht ist er aus der Neurologie in Huddinge in die Neurochirurgie des Karolinska-Universitätskrankenhauses in Solna verlegt worden.

»Wer ist der behandelnde Arzt?«, fragt Erik.

»Daniella Richards.«

»Sie ist sehr kompetent, und ich bin mir sicher, dass sie …«

»Sie wollte, dass ich Sie anrufe«, unterbricht ihn der Kommissar. »Sie braucht Ihre Hilfe, und es ist anscheinend ziemlich dringend.«

Erik kehrt ins Schlafzimmer zurück, um seine Kleider zu holen. Der Lichtstreifen einer Straßenlaterne fällt zwischen den beiden Rollos ins Zimmer. Simone liegt auf dem Rücken und sieht ihn mit seltsam leeren Augen an.

»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, sagt er gedämpft.

»Wer war das?«, fragt sie.

»Ein Polizist … ein Kriminalkommissar, ich habe seinen Namen nicht richtig verstanden.«

»Was wollte er?«

»Ich muss ins Karolinska«, antwortet er. »Sie brauchen meine Hilfe bei einem Jungen.«

»Wie spät ist es eigentlich?«

Sie sieht auf den Wecker und schließt die Augen. Er sieht, dass die Falten des Betttuchs auf ihren von Sommersprossen übersäten Schultern Streifen hinterlassen haben.

»Schlaf weiter, Sixan«, flüstert er.

Erik trägt seine Kleider in den Flur, macht Licht und zieht sich rasch an. Eine glänzende Stahlklinge blitzt hinter ihm auf. Erik dreht sich um und sieht, dass sein Sohn seine Schlittschuhe an die Klinke der Wohnungstür gehängt hat, damit er sie nicht vergisst. Obwohl Erik in Eile ist, geht er zur Kleiderkammer, zieht eine Kiste ins Licht und sucht die Kufenschoner heraus. Er schiebt sie über die scharfen Klingen, legt die Schlittschuhe anschließend auf den Teppich und verlässt die Wohnung.

Es ist drei Uhr nachts am Dienstag, den 8. Dezember, als sich Erik Maria Bark ins Auto setzt. Träge fällt Schnee aus einem schwarzen Himmel. Es herrscht völlige Windstille, und die schweren Flocken legen sich schläfrig auf die leere Straße. Er dreht den Schlüssel im Zündschloss, und Musik rollt heran wie sanfte Wellen: Miles Davis’ Kind of Blue.

Er fährt die kurze Strecke von der Luntmakargatan zur nördlichen Stadtgrenze durch die schlafende Stadt. Hinter dem fallenden Schnee kann man das Wasser der Brunnsviken als große, dunkle Öffnung erahnen. Langsam rollt er auf das Krankenhausgelände, zwischen dem unterbesetzten Astrid-Lindgren-Kinderkrankenhaus und der Entbindungsstation hindurch, an Strahlentherapie und Psychiatrie vorbei, parkt auf seinem angestammten Platz vor der neurochirurgischen Klinik und steigt aus dem Wagen. Das Licht der Straßenlaternen spiegelt sich in den Fenstern des hohen Gebäudekomplexes. Auf dem Besucherparkplatz stehen nur vereinzelte Autos. In der Dunkelheit zwischen den Bäumen bewegen sich Amseln mit raschelnden Flügeln. Erik fällt auf, dass man die Autobahn um diese Uhrzeit nicht hört.

Er steckt seine Zugangskarte in den Schlitz, gibt den sechsziffrigen Code ein, betritt das Foyer, nimmt den Aufzug in den fünften Stock und geht den Flur hinab. Das Licht der Neonröhren an der Decke schimmert auf dem blauen PVC-Boden wie Eis in einem Straßengraben. Erst jetzt, nach dem plötzlichen Adrenalinstoß, spürt er, wie müde er in Wahrheit ist. Der Schlaf ist so erholsam gewesen, dass er immer noch einen glücklichen Nachgeschmack hinterlässt. Er passiert einen Operationssaal, geht an den Türen der riesigen Druckkammer vorbei, grüßt eine Krankenschwester und lässt in Gedanken nochmals Revue passieren, was ihm der Kriminalkommissar am Telefon erzählt hat: Ein Junge blutet, hat Schnittwunden am ganzen Körper, schwitzt, will nicht liegen bleiben, ist rastlos und sehr durstig. Man versucht ihn anzusprechen, aber sein Zustand verschlechtert sich rapide. Sein Bewusstsein schwindet, während das Herz gleichzeitig rast, und die behandelnde Ärztin Daniella Richards trifft die völlig richtige Entscheidung, der Kriminalpolizei jeden Zugang zu ihrem Patienten zu verwehren.

Vor der Tür zu Station N 18 stehen zwei uniformierte Polizisten. Erik meint einen Anflug von Besorgnis auf ihren Gesichtern entdecken zu können, als er sich ihnen nähert. Vielleicht sind sie auch nur müde, denkt er, als er vor ihnen stehen bleibt und sich ausweist. Sie werfen einen kurzen Blick auf seine Papiere und drücken anschließend den Knopf, sodass die Tür surrend aufschwingt.

Erik geht hinein, gibt Daniella Richards die Hand und bemerkt den angespannten Zug um ihren Mund, den gezügelten Stress in ihren Bewegungen.

»Nimm dir einen Kaffee«, sagt sie.

»Reicht die Zeit dafür?«, fragt Erik.

»Ich habe die Blutung in der Leber unter Kontrolle«, antwortet sie.

Ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren in einer Jeans und einem schwarzen Jackett steht vor dem Kaffeeautomaten und klopft gegen das Gehäuse. Er hat wild zerzauste blonde Haare, und seine Lippen sind ernst, zusammengepresst. Erik überlegt, dass er Daniellas Mann Magnus sein könnte. Er ist ihm noch nie begegnet, hat nur das Foto in ihrem Büro gesehen.

»Ist das dein Mann?«, fragt Erik und deutet in seine Richtung.

»Bitte?«

Sie wirkt gleichzeitig amüsiert und erstaunt.

»Ich dachte, Magnus wäre vielleicht mitgekommen.«

»Nein«, lacht sie.

»Bist du sicher? Ich kann ihn ja mal fragen«, scherzt Erik und geht auf den Mann zu.

Daniellas Handy klingelt, und sie klappt es lachend auf.

»Erik, lass das«, sagt sie, ehe sie sich das Telefon ans Ohr hält und sich meldet. »Daniella.«

Sie lauscht, hört aber nichts.

»Hallo?«

Sie wartet ein paar Sekunden und beendet den Anruf dann ironisch mit dem hawaiianischen Gruß »Aloha«, ehe sie das Telefon wieder zuklappt und Erik folgt, der zu dem blonden Mann geht. Der Kaffeeautomat brummt und zischt.

»Trinken Sie einen Kaffee«, sagt der Mann und versucht, Erik den Kaffeebecher in die Hand zu drücken.

»Nein, danke.«

Der Mann nippt an dem Kaffee und lächelt mit Grübchen in den Wangen.

»Schmeckt gut«, sagt er und versucht erneut, Erik den Becher aufzudrängen.

»Ich möchte keinen.«

Der Mann trinkt noch einen Schluck und sieht Erik dabei an.

»Könnte ich mir Ihr Handy ausborgen?«, fragt er plötzlich. »Wenn das okay ist. Ich habe meins im Auto liegen gelassen.«

»Und jetzt wollen Sie sich meins leihen?«, fragt Erik reserviert.

Der blonde Mann nickt und sieht ihn mit hellen Augen an, die grau sind wie polierter Granit.

»Sie können meins haben«, wirft Daniella ein.

»Danke.«

»Nichts zu danken.«

Der blonde Mann nimmt das Telefon entgegen, sieht es an und begegnet ihrem Blick.

»Ich verspreche Ihnen, dass Sie es zurückbekommen«, sagt er.

»Sie sind ohnehin der Einzige hier, der es benutzt«, scherzt sie.

Er lacht und zieht sich ein wenig von den beiden zurück.

»Das muss dein Mann sein«, sagt Erik.

Sie schüttelt lächelnd den Kopf und sieht auf einmal sehr müde aus. Sie hat sich die Augen gerieben und silbergraues Kajal auf ihrer Wange verschmiert.

»Soll ich mir jetzt den Patienten ansehen?«, fragt Erik.

»Von mir aus gern«, nickt sie.

»Wenn ich schon einmal hier bin«, beeilt er sich zu sagen.

»Erik, ich möchte wirklich deine Meinung hören, ich bin unsicher.«

Sie öffnet die schwere, leise Tür, und er folgt ihr in den warmen Raum neben dem Operationssaal. In einem Bett liegt ein schlaksiger Junge. Zwei Krankenschwestern verbinden seine Wunden neu. Es handelt sich um Dutzende Schnitt- und Stichwunden am ganzen Körper. Unter den Füßen, an Brust und Bauch, im Nacken, mitten auf dem Kopf, im Gesicht, an den Händen.

Sein Puls ist schwach, aber sehr schnell. Die Lippen sind aluminiumgrau, er schwitzt, und seine Augen sind fest geschlossen. Die Nase scheint gebrochen zu sein. Unter der Haut breitet sich ein Bluterguss wie eine dunkle Wolke vom Hals bis zur Brust aus.

Erik fällt auf, dass das Gesicht des Jungen trotz der Verletzungen schön ist. Daniella berichtet ruhig, wie sich die Werte des Jungen verändert haben, als ein Klopfen sie plötzlich verstummen lässt. Es ist wieder der blonde Mann. Er winkt ihnen durch die Fensterscheibe in der Tür zu.

Erik und Daniella sehen sich an und verlassen das Untersuchungszimmer. Der blonde Mann steht erneut neben dem zischenden Kaffeeautomaten.

»Ein großer Cappuccino«, sagt er an Erik gewandt. »Den können Sie gebrauchen, bevor Sie dem Polizisten begegnen, der den Jungen gefunden hat.«

Erst jetzt begreift Erik, dass der blonde Mann jener Kriminalkommissar sein muss, der ihn vor weniger als einer Stunde geweckt hat. Am Telefon hatte Erik den finnischen Akzent nicht so deutlich wahrgenommen, aber vielleicht war er auch nur zu müde gewesen, um ihn zu registrieren.

»Warum sollte ich den Polizisten treffen wollen, der den Jungen gefunden hat?«, fragt Erik.

»Um zu verstehen, warum ich ihn vernehmen …«

Als Daniellas Handy klingelt, verstummt Joona Linna. Er zieht es aus seiner Jacketttasche, ignoriert ihre ausgestreckte Hand und blickt rasch auf das Display.

»Das dürfte für mich sein«, erklärt er und meldet sich. »Ja … Nein, ich will ihn hier haben. Okay, aber das ist mir scheißegal.«

Der Kommissar lächelt, als er den Einwänden seines Kollegen am anderen Ende lauscht.

»Aber mir ist da was aufgefallen«, antwortet Joona.

Der andere schreit etwas.

»Ich mache das auf meine Art«, sagt Joona mit ruhiger Stimme und beendet das Gespräch.

Er gibt Daniella das Telefon zurück und bedankt sich wortlos.

»Ich muss den Patienten vernehmen«, erklärt er ernst.

»Tut mir leid«, erwidert Erik. »Ich bin der gleichen Meinung wie Doktor Richards.«

»Wann werde ich mit ihm sprechen können?«, fragt Joona.

»Solange er sich in diesem Schockzustand befindet, jedenfalls nicht.«

»Ich wusste, dass Sie das sagen würden«, entgegnet Joona leise.

»Sein Zustand ist immer noch sehr kritisch«, erläutert Daniella. »Das Lungenfell ist ebenso verletzt wie Dünndarm und Leber und …«

Ein Mann in einer besudelten Polizeiuniform kommt herein. Seine Augen flackern unruhig. Joona winkt, geht zu ihm und gibt ihm die Hand. Er sagt etwas mit gedämpfter Stimme, und der Beamte streicht sich über den Mund und sieht die Ärzte an. Der Kriminalkommissar wiederholt an den Polizisten gewandt, dass alles in Ordnung sei, sie müssten nur die Umstände der Tat erfahren, weil dies eine große Hilfe für sie sein könne.

»Ja, also«, sagt der Polizist und räuspert sich schwach. »Wir bekommen über Funk Meldung, dass ein Raumpfleger in der Toilette am Sportplatz in Tumba eine männliche Leiche gefunden hat. Und wir sind mit unserem Wagen sowieso schon auf dem Huddingevägen und brauchen also bloß noch in den Dalavägen abzubiegen und zum See hoch zu fahren. Mein Kollege, Janne, geht rein, während ich draußen bleibe und mit dem Raumpfleger spreche. Erst haben wir gedacht, es ginge um eine Überdosis, aber mir ist schnell klar geworden, dass etwas anderes los sein muss. Janne kommt aus dem Umkleideraum, ist ganz weiß im Gesicht und will mich irgendwie nicht durchlassen. Da ist nur scheißviel Blut, sagt er dreimal, und dann lässt er sich einfach auf die Treppe fallen und …«

Der Polizist verstummt, setzt sich auf einen Stuhl und starrt mit halb offenem Mund vor sich hin.

»Könntest du bitte weitermachen?«, sagt Joona.

»Ja also … der Krankenwagen kommt, der Tote wird identifiziert, und ich bekomme den Auftrag, mit den Angehörigen zu sprechen. Wir haben nicht genug Leute vor Ort, also muss ich alleine hinfahren. Denn meine Chefin sagt, dass sie Janne in dem Zustand nicht gehen lassen will, und das kann man ja auch verstehen.«

Erik sieht auf die Uhr.

»Sie haben die Zeit, sich das anzuhören«, sagt Joona mit seinem ruhigen finnischen Klang in der Stimme.

»Der Verstorbene«, fährt der Beamte mit gesenktem Blick fort, »ist Lehrer am Gymnasium von Tumba und wohnt in der Reihenhaussiedlung oben auf der Anhöhe. Es macht keiner auf. Ich klingele ein paarmal. Also, ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, warum ich um die Häuserzeile herumgegangen bin und auf der Rückseite mit der Taschenlampe ins Haus hineingeleuchtet habe.«

Der Polizist verstummt, sein Mund zittert, und er kratzt mit einem Fingernagel über die Armlehne des Stuhls.

»Sprich weiter«, bittet Joona ihn.

»Muss das wirklich sein, denn ich … ich …«

»Du hast den Jungen, die Mutter und ein kleines Mädchen von fünf Jahren gefunden. Der Junge war als Einziger noch am Leben.«

»Obwohl ich gedacht habe … ich …«

Er verstummt, sein Gesicht ist leichenblass.

»Danke, dass du gekommen bist, Erland«, sagt Joona.

Der Polizist nickt schnell und steht auf, streicht sich mit der Hand verwirrt über seine schmutzige Jacke und verlässt das Zimmer.

»Alle waren voller Stich- und Schnittwunden«, fährt Joona fort. »Der nackte Wahnsinn, die Opfer waren übel zugerichtet, man hat sie getreten, geschlagen, mit Stichen malträtiert, und das kleine Mädchen … ist in zwei Teile zertrennt worden. Unterkörper und Beine lagen in einem Sessel vor dem Fernseher und …«

Er verstummt und beobachtet Erik, ehe er weiterspricht:

»Der Täter scheint gewusst zu haben, dass der Familienvater sich auf dem Sportplatz aufhielt«, erklärt Joona. »Ein Fußballspiel, er war der Schiedsrichter. Der Mörder hat gewartet, bis der Mann alleine war, ehe er ihn tötete, aggressiv zerstückelte und danach zu dem Reihenhaus fuhr, um die anderen zu töten.«

»Es hat sich in dieser Reihenfolge abgespielt?«, fragt Erik.

»Davon bin ich fest überzeugt«, antwortet der Kommissar.

Erik spürt, dass seine Hand zittert, als er sich über den Mund fährt. Vater, Mutter, Sohn, Tochter, denkt er sehr langsam und begegnet anschließend Joona Linnas Blick.

»Der Täter wollte die ganze Familie auslöschen«, konstatiert Erik mit schwacher Stimme.

Joona macht eine unschlüssige Geste.

»Genau das ist der Punkt, warum … Ein Kind fehlt nämlich noch, die ältere Schwester. Eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren. Wir können sie nicht finden. Sie hält sich nicht in ihrer Wohnung in Sundbyberg auf, ist offenbar auch nicht bei ihrem Freund. Wir denken, dass der Mörder es auch auf sie abgesehen haben könnte. Deshalb wollen wir den Zeugen möglichst schnell vernehmen.«

»Ich werde zu ihm gehen und ihn gründlich untersuchen«, sagt Erik.

»Danke«, nickt Joona.

»Aber wir können das Leben des Patienten nicht riskieren, indem wir …«

»Dafür habe ich volles Verständnis«, unterbricht Joona ihn. »Es ist nur so, je länger es dauert, bis wir eine Spur haben, desto mehr Zeit bleibt dem Täter, um nach der Schwester zu suchen.«

»Vielleicht sollten Sie die Tatorte untersuchen«, meint Daniella.

»Die Arbeit ist in vollem Gange«, erwidert er.

»Fahren Sie hin und treiben Sie lieber Ihre eigenen Leute an«, sagt sie.

»Es wird so oder so nichts dabei herauskommen«, entgegnet der Kommissar.

»Wie meinen Sie das?«

»Wir werden an diesen Orten die vermischte DNA von Hunderten, vielleicht sogar über tausend Menschen finden.«

Erik kehrt zu dem Patienten zurück. Er steht vor dem Bett, betrachtet das blasse, verwundete Gesicht. Die flache Atmung. Die verfrorenen Lippen. Erik spricht den Namen des Jungen aus, und ein angespannter, schmerzerfüllter Zug legt sich auf das Gesicht.

»Josef«, wiederholt er leise. »Ich heiße Erik Maria Bark, ich bin Arzt und werde dich jetzt untersuchen. Wenn du verstehst, was ich sage, darfst du ruhig nicken.«

Der Junge liegt vollkommen still, und sein Bauch bewegt sich im Takt der kurzen Atemzüge. Trotzdem ist Erik überzeugt, dass der Junge seine Worte verstanden hat, bevor sein Bewusstsein geschwunden und der Kontakt abgebrochen ist.

 

Als Erik eine halbe Stunde später den Raum verlässt, sehen Daniella und der Kriminalkommissar ihn an.

»Wird er durchkommen?«, fragt Joona.

»Es ist noch zu früh, um das zu sagen, aber er …«

»Der Junge ist unser einziger Zeuge«, unterbricht ihn der Polizist. »Jemand hat seinen Vater, seine Mutter und seine kleine Schwester umgebracht, und dieselbe Person ist vermutlich in diesem Moment auf dem Weg zu seiner großen Schwester.«

»Das wissen wir alles«, sagt Daniella. »Aber wir denken vielleicht, dass die Polizei lieber nach ihr suchen sollte, statt uns bei der Arbeit zu stören.«

»Wir suchen sie schon, aber das dauert mir alles zu lange. Wir müssen mit dem Jungen sprechen, weil er aller Wahrscheinlichkeit nach das Gesicht des Täters gesehen hat.«

»Es kann Wochen dauern, bis der Junge vernehmungsfähig ist«, sagt Erik. »Ich meine, wir können ihn ja schlecht wachrütteln und ihm erzählen, dass seine ganze Familie tot ist.«

»Und wie wäre es mit Hypnose?«, meint Joona.

Es wird still im Raum. Erik denkt an den Schnee, der auf die Brunnsviken fiel, als er in die Klinik gefahren ist. Wie er zwischen den Bäumen auf das dunkle Wasser hinabrieselte.

»Nein«, flüstert er vor sich hin.

»Eine Hypnose würde nicht funktionieren?«

»Damit kenne ich mich nicht aus«, antwortet Erik.

»Nun habe ich aber leider ein hervorragendes Gedächtnis für Gesichter«, sagt Joona breit grinsend. »Sie sind ein berühmter Hypnotiseur, Sie könnten …«

»Ich war ein Versager«, unterbricht Erik ihn.

»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagt Joona. »Außerdem geht es hier um einen Notfall.«

Daniellas Wangen laufen rot an, und sie lächelt mit gesenktem Blick.

»Ich kann nicht«, sagt Erik.

»Ehrlich gesagt trage ich hier die Verantwortung für den Patienten«, erklärt Daniella mit erhobener Stimme. »Und mir erscheint es wenig verlockend, die Erlaubnis zu einer Hypnose zu erteilen.«

»Und wenn Sie zu dem Schluss kämen, dass für den Patienten keine Gefahr besteht?«, fragt Joona.

Erik wird klar, dass der Kriminalkommissar von Anfang an eine Hypnose als mögliche Lösung seines Problems ins Auge gefasst hat und keiner spontanen Eingebung folgt. Joona Linna hat ihn nur deshalb ins Krankenhaus gebeten, um ihn davon zu überzeugen, den Patienten zu hypnotisieren, und nicht, weil er Experte für die Behandlung akuter Schock- und Traumazustände ist.

»Ich habe mir geschworen, nie wieder jemanden zu hypnotisieren«, sagt Erik.

»Okay, ich verstehe«, erwidert Joona. »Ich habe gehört, dass Sie der Beste waren, aber was soll’s, ich werde Ihre Entscheidung wohl oder übel respektieren müssen.«

»Es tut mir leid«, sagt Erik.

Er betrachtet durch das Fenster den Patienten und wendet sich anschließend an Daniella.

»Hat er Desmopressin bekommen?«

»Nein, damit wollte ich lieber noch warten«, antwortet sie.

»Warum?«

»Wegen der Gefahr thromboembolischer Komplikationen.«

»Ich habe die Diskussion verfolgt, aber ich glaube nicht, dass da was dran ist, mein Sohn bekommt von mir ständig Desmopressin«, sagt Erik.

Joona erhebt sich schwerfällig von seinem Stuhl.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir einen anderen Hypnotiseur empfehlen könnten«, sagt er.

»Wir wissen doch noch nicht einmal, ob der Patient jemals wieder zu Bewusstsein kommen wird«, entgegnet Daniella.

»Also ich rechne schon damit, dass …«

»Und er muss ja wohl bei Bewusstsein sein, um hypnotisiert werden zu können«, sagt sie abschließend und verzieht ein wenig den Mund.

»Als Erik ihn angesprochen hat, war er jedenfalls ganz aufmerksam«, sagt Joona.

»Das glaube ich nicht«, murmelt sie.

»Doch, er hat mich gehört«, bestätigt Erik.

»Wir könnten seine Schwester retten«, fährt Joona fort.

»Ich fahre jetzt nach Hause«, sagt Erik leise. »Gib dem Patienten Desmopressin und zieh auch die Druckkammer in Erwägung.«

Er verlässt den Raum und zieht seinen Arztkittel aus, während er den Flur hinabgeht und sich in den Aufzug stellt. Im Foyer halten sich mehrere Menschen auf. Die Eingangstüren sind geöffnet worden, und der Himmel wird kaum merklich heller. Schon als das Auto vom Parkplatz rollt, streckt er sich nach der kleinen Holzschachtel, die er im Handschuhfach verwahrt. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen, tippt er den Deckel mit dem bunten Papagei und dem Eingeborenen auf, fängt drei Tabletten auf und schluckt sie schnell. Er muss ein paar Stunden schlafen, bevor er Benjamin wecken und ihm seine Spritze geben wird.

Der Hypnotiseur
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
Der_Hypnotiseur_split_000.html
Der_Hypnotiseur_split_001.html
Der_Hypnotiseur_split_002.html
Der_Hypnotiseur_split_003.html
Der_Hypnotiseur_split_004.html
Der_Hypnotiseur_split_005.html
Der_Hypnotiseur_split_006.html
Der_Hypnotiseur_split_007.html
Der_Hypnotiseur_split_008.html
Der_Hypnotiseur_split_009.html
Der_Hypnotiseur_split_010.html
Der_Hypnotiseur_split_011.html
Der_Hypnotiseur_split_012.html
Der_Hypnotiseur_split_013.html
Der_Hypnotiseur_split_014.html
Der_Hypnotiseur_split_015.html
Der_Hypnotiseur_split_016.html
Der_Hypnotiseur_split_017.html
Der_Hypnotiseur_split_018.html
Der_Hypnotiseur_split_019.html
Der_Hypnotiseur_split_020.html
Der_Hypnotiseur_split_021.html
Der_Hypnotiseur_split_022.html
Der_Hypnotiseur_split_023.html
Der_Hypnotiseur_split_024.html
Der_Hypnotiseur_split_025.html
Der_Hypnotiseur_split_026.html
Der_Hypnotiseur_split_027.html
Der_Hypnotiseur_split_028.html
Der_Hypnotiseur_split_029.html
Der_Hypnotiseur_split_030.html
Der_Hypnotiseur_split_031.html
Der_Hypnotiseur_split_032.html
Der_Hypnotiseur_split_033.html
Der_Hypnotiseur_split_034.html
Der_Hypnotiseur_split_035.html
Der_Hypnotiseur_split_036.html
Der_Hypnotiseur_split_037.html
Der_Hypnotiseur_split_038.html
Der_Hypnotiseur_split_039.html
Der_Hypnotiseur_split_040.html
Der_Hypnotiseur_split_041.html
Der_Hypnotiseur_split_042.html
Der_Hypnotiseur_split_043.html
Der_Hypnotiseur_split_044.html
Der_Hypnotiseur_split_045.html
Der_Hypnotiseur_split_046.html
Der_Hypnotiseur_split_047.html
Der_Hypnotiseur_split_048.html
Der_Hypnotiseur_split_049.html
Der_Hypnotiseur_split_050.html
Der_Hypnotiseur_split_051.html
Der_Hypnotiseur_split_052.html
Der_Hypnotiseur_split_053.html
Der_Hypnotiseur_split_054.html
Der_Hypnotiseur_split_055.html
Der_Hypnotiseur_split_056.html
Der_Hypnotiseur_split_057.html
Der_Hypnotiseur_split_058.html
Der_Hypnotiseur_split_059.html
Der_Hypnotiseur_split_060.html