8.

 

Dienstagvormittag, der achte Dezember

 

 

 

 

 

Nachdem er Benjamin in die Schule gebracht hat, denkt Erik auf seinem Weg durch den Krankenhausflur daran, wie dumm es von ihm war, das Tattoo auf Aidas Hals zu kommentieren. In den Augen der beiden hat er sich selbstgefällig und oberlehrerhaft benommen.

Zwei uniformierte Polizeibeamte lassen ihn auf die Station. Vor Josef Eks Zimmer steht bereits Joona Linna und wartet. Als er Erik sieht, lächelt er und winkt, wie kleine Kinder es tun, indem er die Hand öffnet und schließt.

Erik bleibt neben ihm stehen und blickt durch die Tür zu dem Patienten hinein. Ein Beutel mit fast schwarzem Blut hängt über ihm. Sein Zustand hat sich weiter stabilisiert, aber es könnte jeden Moment zu neuen Blutungen in der Leber kommen.

Der Junge liegt auf dem Rücken, sein Mund ist fest geschlossen, der Bauch hebt und senkt sich schnell, und manchmal zucken seine Finger.

Ein neuer Zugang ist in der anderen Armbeuge gelegt worden. Die Krankenschwester bereitet soeben eine Infusion mit Morphium vor. Die Tropfgeschwindigkeit ist ein wenig gedrosselt worden.

»Ich hatte Recht, als ich meinte, dass der Täter auf dem Sportplatz angefangen hat«, sagt Joona. »Als Erstes hat er den Vater, Anders Ek, ermordet, danach ist er zum Haus der Familie gefahren und hat Lisa, die kleine Tochter, getötet, dachte, er hätte auch den Sohn getötet, und brachte am Ende auch die Mutter um.«

»Hat der Pathologe das bestätigt?«

»Ja«, antwortet Joona.

»Ich verstehe.«

»Wenn der Täter also wirklich die Absicht hat, eine ganze Familie auszulöschen«, fährt Joona fort, »dann fehlt nur noch Evelyn, die erwachsene Tochter.«

»Es sei denn, er erfährt, dass der Junge noch lebt«, erwidert Erik.

»Stimmt, aber ihn können wir beschützen.«

»Ja.«

»Wir müssen den Täter finden, bevor es zu spät ist«, sagt Joona. »Ich muss herausbekommen, was der Junge weiß.«

»Ich dagegen muss tun, was für den Patienten am besten ist.«

»Vielleicht ist es ja das Beste für ihn, seine Schwester nicht zu verlieren.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, und ich werde den Patienten selbstverständlich noch einmal untersuchen«, erklärt Erik. »Aber im Grunde bin ich mir schon jetzt ziemlich sicher, dass es für eine Befragung noch viel zu früh ist.«

»Okay«, sagt Joona.

Daniella kommt in einem roten, engen Mantel herein, geht mit schnellen Schritten, erklärt, dass sie es eilig hat, und übergibt ihm eine begonnene Krankenakte.

»Ich glaube, dass der Patient schon recht bald«, erklärt Erik Joona, »also in wenigen Stunden, zumindest so weit bei Bewusstsein sein wird, dass er ansprechbar ist. Aber von diesem Punkt an … Sie müssen das verstehen, wir stehen hier ganz am Anfang eines langen therapeutischen Prozesses. Eine Vernehmung könnte den Zustand des Jungen so dramatisch verschlechtern, dass …«

»Erik, es spielt keine Rolle mehr, wie wir darüber denken«, unterbricht Daniella ihn. »Die Staatsanwaltschaft hat entschieden, dass besonders schwerwiegende Umstände vorliegen.«

Erik dreht sich um und sieht Joona fragend an.

»Heißt das, Sie brauchen unsere Einwilligung gar nicht?«, fragt er.

»Stimmt«, antwortet Joona.

»Und worauf warten Sie dann noch?«

»Ich finde, dass Josef Ek schon mehr gelitten hat, als ein Mensch ertragen kann«, antwortet Joona. »Ich will ihm nichts zumuten, was ihm schaden könnte, aber gleichzeitig muss ich seine Schwester finden, bevor der Mörder es tut. Und der Junge hat höchstwahrscheinlich das Gesicht des Täters gesehen. Wenn Sie mir nicht helfen, ihn zu befragen, werde ich ihn vorschriftsgemäß vernehmen, aber es wäre mir natürlich lieber, es auf die für ihn bestmögliche Art zu tun.«

»Und welche Art wäre das?«, fragt Erik.

»Unter Hypnose«, antwortet Joona.

Erik sieht ihn an und sagt langsam:

»Ich habe nicht einmal die Zulassung, in diesem Haus zu hypnotisieren …«

»Ich habe mit Annika gesprochen«, wirft Daniella ein.

»Und was hat sie gesagt?«, fragt Erik und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Man macht sich nicht sonderlich beliebt, wenn man die Hypnose eines instabilen Patienten erlaubt, der noch dazu minderjährig ist, aber da ich für den Patienten verantwortlich bin, hat sie mir die Entscheidung überlassen.«

»Ich möchte mir das wirklich ersparen«, sagt Erik.

»Warum?«, fragt Joona Linna.

»Dazu sage ich nichts, aber ich habe mir geschworen, nie wieder jemanden zu hypnotisieren, und es ist eine Entscheidung, zu der ich nach wie vor stehe.«

»Aber können Sie auch in diesem Fall dazu stehen?«, fragt Joona.

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Mach eine Ausnahme«, sagt Daniella.

»Also eine Hypnose«, seufzt Erik.

»Ich möchte, dass du es versuchst, sobald der Patient deiner Meinung nach auch nur ansatzweise empfänglich dafür ist«, sagt Daniella.

»Es wäre gut, wenn du dabei sein könntest«, erwidert Erik.

»Ich habe mich für die Hypnose entschieden«, erklärt sie. »Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass du damit auch die Verantwortung für den Patienten übernimmst.«

»Dann stehe ich jetzt also allein?«

Daniella sieht ihn müde an und sagt:

»Ich habe die ganze Nacht gearbeitet und versprochen, Tindra zur Schule zu begleiten. Wenn du willst, können wir uns heute Abend darüber streiten, aber jetzt muss ich erst einmal nach Hause und schlafen.«

Erik sieht sie den Korridor hinuntergehen. Der rote Mantel flattert hinter ihr her. Joona schaut zu dem Patienten hinein. Erik geht auf die Toilette, schließt ab, wäscht sich das Gesicht, zieht ein paar ungebleichte Papierhandtücher heraus und trocknet Stirn und Wangen ab. Er zieht sein Handy aus der Tasche und ruft Simone an, aber sie meldet sich nicht. Er versucht es zu Hause, lauscht den Klingelzeichen und dem Spruch auf dem Anrufbeantworter. Als das Piepen anzeigt, dass die Aufnahme beginnt, weiß er nicht mehr, was er sagen soll:

»Sixan, ich … du musst mir zuhören, ich weiß nicht, was du glaubst, aber es ist nichts passiert, vielleicht ist dir das ja auch egal, aber ich verspreche dir, dass ich einen Weg finden werde, dir zu beweisen, dass ich …«

Erik verstummt, denn er weiß, dass seine Worte keine Bedeutung mehr haben. Er hat sie vor zehn Jahren angelogen, und es ist ihm seither nicht gelungen, ihr seine Liebe zu beweisen, nicht genug, nicht so, dass sie ihm wieder hundertprozentig vertraut. Er bricht das Gespräch ab, verlässt die Toilette und geht zu der Tür mit dem Glasfenster, wo der Kriminalkommissar steht und hineinschaut.

»Was ist eine Hypnose eigentlich genau?«, fragt der Kommissar nach einer Weile.

»Es handelt sich nur um einen veränderten Bewusstseinszustand, der Ähnlichkeit mit Suggestion und Meditation hat«, antwortet Erik.

»Okay«, sagt Joona zögernd.

»Wenn Sie Hypnose sagen, meinen Sie eigentlich eine Heterohypnose, bei der eine Person zu einem bestimmten Zweck eine andere hypnotisiert.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, um negative Halluzinationen auszulösen.«

»Was ist das?«

»Am häufigsten hemmt man die bewusste Wahrnehmung von Schmerz.«

»Aber der Schmerz ist noch da.«

»Das kommt ganz darauf an, wie Sie Schmerz definieren«, antwortet Erik. »Der Patient spricht natürlich mit physiologischen Reaktionen auf den Schmerzreiz an, spürt aber gleichzeitig keinen Schmerz. Unter klinischer Hypnose kann man sogar operieren.«

Joona schreibt etwas in seinen Notizblock.

»Rein neurophysiologisch betrachtet«, fährt Erik fort, »funktioniert das Gehirn unter Hypnose auf eine ganz besondere Weise. Teile des Gehirns, die wir selten anwenden, werden auf einmal aktiviert. Ein hypnotisierter Mensch ist sehr entspannt und sieht fast aus, als würde er schlafen, aber macht man ein EEG, zeigen uns seine Gehirnaktivitäten einen Menschen, der aufmerksam und wach ist.«

»Der Junge öffnet ab und zu die Augen«, sagt Joona und blickt durch das Fenster zu ihm hinein.

»Das habe ich gesehen.«

»Was wird jetzt passieren?«, fragt Joona.

»Mit dem Patienten?«

»Ja, ich meine, wenn Sie ihn hypnotisieren.«

»Bei einer dynamischen Hypnose, also in einem therapeutischen Zusammenhang, spaltet sich der Patient fast immer in ein beobachtendes Ich und ein oder mehrere erlebende und agierende Ichs auf.«

»Er sieht sich selbst auf einer Bühne?«

»Ja.«

»Was werden Sie ihm sagen?«

»Als Erstes und Wichtigstes muss ich ihn dazu bringen, sich sicher und geborgen zu fühlen. Er hat schreckliche Dinge erlebt, sodass ich damit beginnen werde, ihm zu erklären, was ich vorhabe, um anschließend zur Entspannung überzugehen. Ich spreche beruhigend über seine Lider, die schwerer werden und die er schließen will, über die tiefen Atemzüge durch die Nase, ich gehe den Körper vom Scheitel bis zur Sohle durch und anschließend denselben Weg wieder zurück.«

Erik wartet, während Joona schreibt.

»Danach folgt die sogenannte Hypnoseinduktion«, sagt Erik. »Ich füge eine Art verborgener Kommandos in meine Worte ein und bringe den Patienten dazu, sich Orte und einfache Abläufe vorzustellen, ich suggeriere eine immer weiter führende Wanderung in den Gedanken, bis das Bedürfnis, die Situation unter Kontrolle zu haben, fast vollständig aufhört. Es ist ein bisschen wie beim Lesen eines Buchs, das so spannend wird, dass man sich nicht mehr bewusst ist, irgendwo zu sitzen und zu lesen.«

»Ich verstehe.«

»Wenn man die Hand des Patienten anhebt und wieder loslässt, sollte sie starr, kataleptisch, in der Luft hängen bleiben, sobald die Hypnoseinduktion abgeschlossen ist«, erklärt Erik. »Nach der Induktion zähle ich rückwärts und vertiefe die Hypnose dabei weiter. Ich zähle, andere bitten den Patienten, sich eine Skala von Grautönen vorzustellen, um in seinen Gedanken alle Grenzen aufzulösen. Im Grunde werden dadurch bloß Ängste oder kritische Gedankengänge ausgeschaltet, die ansonsten bestimmte Erinnerungen blockieren würden.«

»Werden Sie ihn hypnotisieren können?«

»Wenn er sich nicht dagegen sträubt, ja.«

»Was passiert dann?«, fragt Joona. »Was passiert, wenn er sich sträubt.«

Erik antwortet nicht. Er beobachtet den Jungen durch das Glas, versucht, sein Gesicht zu deuten, seine Empfänglichkeit einzuschätzen.

»Es ist schwer zu sagen, was ich herausfinden werde, das Ergebnis kann von sehr unterschiedlicher Relevanz sein«, erklärt er.

»Ich bin nicht auf eine Zeugenaussage aus, ich brauche nur einen Tipp, eine Personenbeschreibung, irgendeinen Hinweis.«

»Dann soll ich also nur nach der Person suchen, die seiner Familie das angetan hat?«

»Von mir aus auch nach einem Namen oder einem Ort oder einem Zusammenhang.«

»Ich habe keine Ahnung, wie es laufen wird«, sagt Erik und holt tief Luft.

Joona begleitet ihn hinein, setzt sich auf einen Stuhl in der Zimmerecke, streift die Schuhe ab und lehnt sich zurück. Erik dimmt das Licht, zieht einen Stahlhocker heran und setzt sich neben das Bett. Vorsichtig beginnt er, dem Jungen zu erklären, dass er ihn hypnotisieren möchte, weil er ihm helfen will, zu verstehen, was am Vortag geschehen ist.

»Josef, ich werde die ganze Zeit bei dir sitzen«, sagt Erik ruhig. »Es gibt wirklich nichts, wovor du Angst haben musst. Du kannst dich ganz sicher fühlen. Ich bin deinetwegen hier, du sagst nichts, was du nicht sagen willst, und kannst die Hypnose jederzeit selbst beenden.«

Erst jetzt spürt Erik, wie sehr er sich nach diesem Prozess gesehnt hat. Sein Herz schlägt fest und schwer. Er muss versuchen, seinen Eifer im Zaum zu halten. Der Verlauf darf nicht erzwungen, nicht überstürzt werden. Er muss von Ruhe erfüllt sein, muss einsinken und in seinem eigenen sanften Tempo genossen werden.

Es ist leicht, den Jungen zur völligen Entspannung zu führen, sein Körper ruht bereits und scheint sich nach noch mehr Ruhe zu sehnen.

Als Erik den Mund öffnet und mit der Hypnoseinduktion beginnt, ist es, als hätte er niemals aufgehört zu hypnotisieren: Seine Stimme ist eindringlich, sachlich und ruhig, die Worte kommen ihm ganz leicht und selbstverständlich über die Lippen, sie strömen voller monotoner Wärme und in einem betäubenden, fallenden Ton aus ihm heraus.

Augenblicklich spürt er Josefs große Empfänglichkeit. Der Junge scheint sich intuitiv an die Geborgenheit zu klammern, die Erik ihm vermittelt. Sein verletztes Gesicht wird schwerer, die Züge werden weicher, und sein Mund wird schlaffer.

»Josef, wenn du willst, dann … denk an einen Sommertag«, sagt Erik. »Alles ist einfach wunderbar und angenehm. Du liegst auf der Ducht eines kleinen Holzboots, das langsam schaukelt. Das Wasser gluckert, und du schaust zu den kleinen Wolken hinauf, die am blauen Himmel vorüberziehen.«

Der Junge spricht so gut auf die Induktion an, dass Erik sich fragt, ob er den Verlauf lieber ein wenig bremsen sollte. Er weiß, dass schwierige Erlebnisse die Empfindsamkeit während der Hypnose erhöhen können, dass der innere Stress zu einem Motor mit umgekehrter Schubkraft werden kann: Das Abbremsen geschieht unerwartet rasch und die Umdrehungszahl fällt rasend schnell gen null.

»Ich werde jetzt rückwärts zählen, und bei jeder Zahl, die du hörst, wirst du dich etwas mehr entspannen. Du wirst fühlen, dass du von großer Ruhe erfüllt wirst und wie angenehm alles um dich herum ist. Deine Zehen, Knöchel, Waden entspannen sich. Nichts stört dich, alles ist von Ruhe erfüllt. Das Einzige, was du hören musst, ist meine Stimme, sind die Zahlen. Jetzt entspannst du dich noch mehr und wirst noch schwerer, deine Knie, deine Oberschenkel bis zu den Leisten entspannen sich. Du spürst, dass du gleichzeitig ganz sanft und wohltuend sinkst. Alles ist ruhig und still und vollkommen entspannt.«

Erik legt eine Hand auf die Schulter des Jungen. Sein Blick ruht auf Josefs Bauch, und bei jedem Atemzug zählt er weiter herunter. Gelegentlich durchbricht er das logische Muster, setzt den Countdown aber immer weiter fort. Ein Gefühl traumhafter Leichtigkeit und körperlicher Stärke erfüllt Erik während dieses Prozesses. Er zählt und sieht sich gleichzeitig durch sehr helles und sauerstoffreiches Wasser parallel zu einer riesigen Felsformation sinken. Ein Kontinentalgraben, der in enorme Tiefen hinabführt. Das Wasser glitzert von winzigen Luftbläschen. Mit einem Glücksgefühl im Körper schwebt er an der rauen Wand entlang in die Tiefe.

Der Junge weist deutliche Anzeichen hypnotischer Ruhe auf. Wangen und Mund sind vollkommen erschlafft. Erik hat es immer so empfunden, als würden die Gesichter der Patienten breiter, gleichsam flacher. Weniger schön, aber empfindsam und ohne jede Verstellung.

Erik sinkt tiefer, streckt einen Arm aus und berührt die vorüberziehende Felswand. Das helle Wasser changiert langsam zu Rosa.

»Jetzt bist du völlig entspannt«, sagt Erik ruhig. »Und alles ist sehr, sehr angenehm.«

Die Augen des Jungen leuchten zwischen halb geschlossenen Lidern.

»Josef … versuche dich zu erinnern, was gestern passiert ist. Der Tag fing an wie ein ganz normaler Montag, aber am Abend habt ihr Besuch bekommen.«

Der Junge bleibt stumm.

»Erzähl mir, was passiert«, sagt Erik.

Der Junge nickt kaum merklich.

»Sitzt du in deinem Zimmer? Hörst du Musik?«

Der Junge antwortet nicht. Sein Mund bewegt sich fragend, suchend.

»Als du aus der Schule gekommen bist, ist deine Mutter zu Hause gewesen«, sagt Erik.

Der Junge nickt.

»Warum? Weißt du das noch? Liegt es daran, dass Lisa Fieber bekommen hat?«

Der Junge nickt und befeuchtet seine Lippen.

»Was tust du, als du aus der Schule kommst, Josef?«

Der Junge flüstert etwas.

»Ich kann dich nicht hören«, sagt Erik. »Sprich bitte so laut, dass ich dich höre.«

Die Lippen des Jungen bewegen sich, und Erik lehnt sich vor.

»Wie Feuer, genau wie Feuer«, murmelt er. »Ich kneife die Augen zusammen, ich gehe in die Küche, aber da stimmt etwas nicht, es knirscht zwischen den Stühlen, und auf dem Fußboden breitet sich ein leuchtend rotes Feuer aus.«

»Woher kommt das Feuer?«, fragt Erik.

»Ich erinnere mich nicht, vorher ist etwas passiert …«

Er verstummt erneut.

»Geh ein wenig zurück, vor dieses Feuer in der Küche«, sagt Erik.

»Es ist jemand da«, sagt der Junge. »Ich höre jemanden an die Tür klopfen.«

»An die Haustür?«

»Ich weiß es nicht.«

Das Gesicht des Jungen ist plötzlich angespannt, er wimmert unruhig, und die untere Zahnreihe wird in einer seltsamen Grimasse entblößt.

»Keine Sorge«, sagt Erik. »Keine Sorge, Josef, du bist hier sicher, du bist ruhig und spürst keine Unruhe. Du siehst dir nur an, was passiert, du bist nicht dabei, du siehst nur aus sicherer Entfernung zu, es besteht überhaupt kein Grund zur Sorge.«

»Die Füße sind hellblau«, flüstert Josef.

»Was hast du gesagt?«

»Es klopft an die Tür«, sagt der Junge lallend. »Ich mache auf, aber da ist keiner, ich sehe niemanden. Aber das Klopfen geht weiter. Mir wird klar, dass mich jemand ärgern will.«

Der Patient atmet schneller.

»Was passiert jetzt?«, fragt Erik.

»Ich gehe in die Küche und nehme mir ein Brotmesser.«

»Du willst eine Scheibe Brot essen?«

»Aber jetzt fängt das Klopfen wieder an, das Geräusch kommt aus Lisas Zimmer. Die Tür steht einen Spaltbreit offen, und ich sehe, dass ihre Prinzessinnenlampe brennt. Vorsichtig stoße ich mit dem Messer die Tür auf und schaue hinein. Lisa liegt in ihrem Bett. Sie hat die Brille an, aber ihre Augen sind zu und sie atmet keuchend. Ihr Gesicht ist weiß. Arme und Beine sind ganz starr. Dann biegt sie den Kopf nach hinten, sodass ihr Hals ganz gespannt ist, und tritt mit den Füßen gegen das Fußende des Betts. Sie tritt immer schneller und schneller. Ich sage ihr, dass sie aufhören soll, aber sie macht weiter, immer fester. Ich schreie sie an und das Messer sticht schon zu und Mama kommt angelaufen und zerrt an mir und ich drehe mich um und das Messer sticht zu, es schießt nur so aus mir heraus, ich hole neue Messer, ich habe Angst, aufzuhören, ich muss weitermachen, das darf nicht alles gewesen sein, Mama kriecht durch die Küche, und der Fußboden ist ganz rot, ich muss die Messer an allem ausprobieren, an mir selbst, an den Möbeln, den Wänden, ich schlage und steche, und dann werde ich auf einmal müde und lege mich hin. Ich weiß nicht, was passiert, ich habe Schmerzen und bin durstig, kann mich aber nicht bewegen.«

Erik spürt, wie eng er mit dem Jungen in Verbindung steht, tief unten in dem hellen Wasser, ihre Beine bewegen sich sanft, und sein Blick folgt der Felswand, tiefer und tiefer, sie hat kein Ende, das Wasser wird nur immer dunkler und blaugrau und schließlich verlockend schwarz.

»Du hast …«, setzt Erik an und hört seine eigene Stimme zittern. »Du hast vorher deinen Vater getroffen.«

»Ja, am Fußballplatz«, antwortet Josef.

Er verstummt, scheint sich zu wundern, starrt mit schlafendem Blick ins Leere.

Erik sieht, dass Josefs Puls schneller wird, und begreift, dass gleichzeitig der Blutdruck fällt.

»Ich möchte, dass du tiefer sinkst«, sagt Erik gedämpft. »Du sinkst, fühlst dich ruhiger, wohliger und …«

»Mama nicht?«, fragt der Junge mit kläglicher Stimme.

»Josef, erzähl mir, hast du auch deine große Schwester Evelyn getroffen?«

Erik beobachtet Josefs Gesicht und ist sich bewusst, dass seine Vermutung zu einem Problem, einem Riss in der Hypnose führen könnte, falls sich herausstellen sollte, dass er sich irrt. Aber er muss diese jähe Kehrtwende machen, denn die Zeit wird knapp, er muss die Hypnose jeden Moment abbrechen, der Zustand des Patienten ist wieder kritisch.

»Was ist passiert, als du Evelyn getroffen hast?«, fragt er.

»Ich hätte niemals zu ihr fahren sollen.«

»War das gestern?«

»Sie hat sich im Sommerhaus versteckt«, flüstert der Junge lächelnd.

»In welchem Sommerhaus?«

»Tante Sonjas«, sagt er müde.

»Kannst du beschreiben, was in dem Sommerhaus passiert ist?«

»Ich stehe nur da, und Evelyn freut sich überhaupt nicht, ich weiß, was sie denkt«, murmelt er. »Ich bin für sie nur ein Hund, ich bin nichts wert …«

Josef weint, sein Mund zittert.

»Sagt Evelyn das zu dir?«

»Ich will nicht, ich brauche das nicht, ich will nicht«, jammert Josef.

»Was willst du nicht?«

Seine Lider beginnen, unkontrolliert zu zittern.

»Was passiert jetzt, Josef?«

»Sie sagt, dass ich beißen, immer weiter zubeißen muss, um meine Belohnung zu bekommen.«

»Wen sollst du beißen?«

»In dem Sommerhaus gibt es ein Bild, ein Bild in einem Rahmen, der aussieht wie ein Fliegenpilz … da sind Papa, Mama und Lisa, aber …«

Sein Körper ist plötzlich angespannt, seine Beine bewegen sich schnell und schwer, er löst sich aus der ganz tiefen Hypnose. Erik lenkt ihn vorsichtig ab, beruhigt ihn und hebt den Patienten einige Bewusstseinsstufen höher. Sorgsam schließt er die Türen zu allen Erinnerungen an den Vortag und zu allen Erinnerungen an die Hypnose. Keine von ihnen darf offen stehen, wenn er den vorsichtigen Prozess des Aufweckens beginnt.

Als Erik Josef verlässt, liegt der Junge lächelnd im Bett. Der Kriminalkommissar steht von seinem Stuhl in der Ecke auf, verlässt gemeinsam mit Erik das Zimmer und geht zum Kaffeeautomaten.

»Ich bin beeindruckt«, sagt Joona leise und zieht sein Handy heraus.

Ein trostloses Gefühl übermannt Erik, die Vorahnung, dass etwas unwiderruflich schiefgegangen ist.

»Bevor Sie telefonieren, möchte ich eins betonen«, sagt Erik. »Der Patient sagt unter Hypnose immer die Wahrheit, aber es ist seine Wahrheit, er spricht nur über das, was er selbst als Wahrheit auffasst, er beschreibt also nur seine eigenen subjektiven Erinnerungen und nicht …«

»Das ist mir durchaus bewusst«, unterbricht Joona ihn.

»Ich habe schizophrene Menschen hypnotisiert«, fährt Erik fort.

»Was wollen Sie mir damit sagen?«

»Josef hat von seiner Schwester gesprochen …«

»Ja, dass sie von ihm verlangt hat, zu beißen wie ein Hund und so weiter«, sagt Joona.

Er wählt eine Nummer und hält sich das Handy ans Ohr.

»Es muss nicht stimmen, dass seine Schwester ihm gesagt hat, er soll das tun«, erklärt Erik.

»Aber sie könnte es getan haben«, erwidert Joona und hält eine Hand hoch, um Erik zum Schweigen zu bringen. »Anja, mein Goldstück …«

Man ahnt eine sanfte Stimme am anderen Ende.

»Könntest du bitte etwas für mich nachschauen? Ja, genau. Josef Ek hat eine Tante namens Sonja, die irgendwo ein Haus oder ein Sommerhaus hat und … Ja … das ist lieb von dir.«

Joona blickt zu Erik auf.

»Entschuldigung, Sie wollten noch etwas sagen.«

»Nur noch eins, es ist ebenso wenig sicher, dass Josef seine Familie ermordet hat.«

»Ist es denn eigentlich möglich, dass er sich selbst all diese Wunden zugefügt hat? Kann er sich so verwundet haben? Was denken Sie?«

»Eigentlich nicht, aber andererseits — theoretisch schon«, antwortet Erik.

»Wenn das so ist, glaube ich in der Tat, dass da drinnen unser Täter liegt«, sagt Joona.

»Das denke ich auch.«

»Kann er in seinem Zustand aus dem Krankenhaus abhauen?«

»Nein«, antwortet Erik überrascht lächelnd.

Joona geht in Richtung Flur.

»Wollen Sie zum Haus der Tante fahren?«, fragt Erik.

»Ja.«

»Ich könnte Sie begleiten«, sagt Erik und folgt Joona. »Seine Schwester könnte verletzt sein oder unter Schock stehen.«

Der Hypnotiseur
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