45.
Freitagmorgen, der achtzehnte Dezember
Erik läuft die Treppen zum Krankenhausfoyer hinunter, zwängt sich durch eine Gruppe von Jugendlichen mit Blumen, stürzt durch den Raum und an einem alten Mann im Rollstuhl vorbei. Die nassen Matten klatschen unter seinen Füßen, als er die Türen des Haupteingangs aufstößt. Er eilt die Steintreppe hinunter, ohne auf die Wasserpfützen und den braunen Schneematsch zu achten, und läuft an einem Bus vorbei, über die Straße und durch die niedrigen Sträucher und ist auf dem Parkplatz. Als er an den schmutzigen Fahrzeugen vorbeirennt, hält er den Autoschlüssel schon in der Hand. Er schließt auf, lässt den Wagen an und setzt so heftig zurück, dass die Seite des Autos an der Stoßstange des Nachbarautos entlangschrammt.
Als er in westlicher Richtung auf den Danderydsvägen biegt, geht sein Atem immer noch erregt. Er fährt schnell, geht jedoch vom Gas, als er sich der Edsberg-Schule nähert, und fährt langsam an ihr vorbei, greift nach seinem Handy und ruft Joona an.
»Es ist Lydia Evers«, schreit er fast hinein.
»Wer?«
»Lydia Evers hat Benjamin entführt«, fährt Erik mit Nachdruck fort. »Ich habe dir von ihr erzählt, das ist die Frau, die mich damals angezeigt hat.«
»Wir überprüfen sie«, sagt Joona.
»Ich bin schon unterwegs.«
»Gib mir die Adresse.«
»Ein Haus auf dem Tennisvägen in Rotebro, ich erinnere mich nicht mehr an die Nummer, aber das Haus ist rot und ziemlich groß.«
»Warte irgendwo in der Nähe auf …«
»Ich fahre sofort hin.«
»Mach keine Dummheiten.«
»Benjamin stirbt, wenn er keine Medikamente bekommt.«
»Warte auf mich …«
Erik beendet das Gespräch und tritt aufs Gas. Als er die Einfamilienhaussiedlung erreicht, parkt er neben der gleichen Fichtenhecke wie vor zehn Jahren, als er und die Sozialarbeiterin Lydia aufsuchen wollten. Als er das Haus aus dem Auto heraus betrachtet, kann er seine eigene Anwesenheit darin zehn Jahre zuvor fast spüren. Er weiß noch, dass es keine Anzeichen für ein Kind gegeben hatte, keine Spielsachen im Garten, nichts, was darauf hindeutete, dass Lydia eine Mutter war. Andererseits waren sie kaum dazu gekommen, sich im Haus umzuschauen. Sie waren nur die Kellertreppe hinab- und wieder hinaufgestiegen, und danach hatte sich Lydia auch schon mit dem Messer in der Hand auf ihn gestürzt. Er denkt daran zurück, wie sie aussah, als sie die Klinge über ihren Hals zog, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Es hat sich kaum etwas verändert. Aus der Pizzeria ist eine Sushibar geworden, und in den Gärten stehen heute große Trampoline voller Herbstlaub und Schnee. Erik lässt den Schlüssel stecken, steigt aus und läuft den Anstieg hinauf. Das letzte Stück legt er im Eilschritt zurück, öffnet das Gartentor und betritt das Grundstück. Im hohen gelben Gras liegt feuchter Schnee. Eiszapfen glänzen unter der löchrigen Dachrinne. Tote Topfpflanzen schaukeln in ihren Ampeln. Erik zerrt an der Tür und stellt fest, dass sie abgeschlossen ist. Er wirft einen Blick unter die Türmatte. Asseln krabbeln aufgescheucht weg von dem feuchten Rechteck auf der Betontreppe. Eriks Herz rast. Er sucht tastend unter dem Holzgeländer, findet aber keinen Schlüssel. Daraufhin geht er ums Haus herum, löst einen Stein aus der Einfassung eines Blumenbeets und wirft damit auf die Fensterscheibe der Terrassentür. Die äußere Scheibe zersplittert, und der Stein fällt ins Gras zurück. Er hebt ihn wieder auf und wirft fester. Die gesamte Fensterfront wird herausgeschlagen. Erik eilt hin, öffnet die Tür und betritt ein Schlafzimmer, dessen Wände voller Bilder sind, die Engel und den indischen Guru Sai Baba zeigen.
»Benjamin«, schreit er. »Benjamin.«
Er ruft nach seinem Sohn, obwohl er sieht, dass das Haus verwaist ist: Es ist dunkel und verlassen und riecht muffig nach altem Stoff und Staub. Er eilt in den Flur und öffnet die Tür zum Keller, aus dem ihm ein widerwärtiger Gestank entgegenschlägt. Ein schwerer Geruch von Asche, verkohltem Holz und verbranntem Gummi. Er rennt hinunter, stolpert auf einer Treppenstufe, stößt mit der Schulter gegen die Wand und fängt sich wieder. Die Lampen funktionieren nicht, aber im Licht des hochgelegenen Fensters sieht er, dass der Partykeller von einem Feuer verwüstet worden ist. Der Fußboden unter ihm knistert. Vieles ist schwarz, manche Möbel scheinen allerdings noch intakt zu sein. Der Tisch mit der gekachelten Platte ist nur ein wenig rußgeschwärzt, während die Kerzen auf dem Tablett geschmolzen sind. Erik sucht nach der Tür, die in den zweiten Kellerraum führt. Sie sitzt lose in den Scharnieren, und ihre Innenseite ist vollständig verkohlt.
»Benjamin«, sagt er mit ängstlicher Stimme.
Asche wirbelt ihm ins Gesicht, und er blinzelt mit brennenden Augen. Mitten im Raum stehen die Reste dessen, was offenbar einmal ein Käfig gewesen ist, der groß genug für einen Menschen war.
»Erik«, ruft jemand über ihm.
Er bleibt stehen und lauscht. Es knackt in den Wänden. Verkohlte Teile von Deckenplatten fallen herab. Er geht langsam zur Treppe und hört fernes Hundegebell.
»Erik!«
Es ist Joona Linnas Stimme. Erik steigt die Treppe hinauf. Joona betrachtet ihn besorgt.
»Was ist passiert?«
»Im Keller hat es gebrannt«, antwortet Erik.
»Sonst nichts?«
Erik macht eine vage Geste zum Keller hinab.
»Die Überreste eines Käfigs.«
»Ich habe einen Hund dabei.«
Joona eilt durch den Flur zum Hauseingang und öffnet die Tür. Er winkt die uniformierte Hundeführerin heran, eine Frau, die ihre dunklen Haare zu einem festen Zopf geflochten trägt. Der schwarze Labrador folgt ihr bei Fuß. Sie grüßt Erik mit einem Kopfnicken, bittet ihn, draußen zu warten, geht vor dem Hund in die Hocke und spricht mit dem Tier. Joona versucht, Erik aus dem Haus zu führen, gibt aber auf, als er erkennt, dass seine Bemühungen vergeblich bleiben werden.
Der glänzende schwarze Hund bewegt sich eifrig durchs Haus, schnüffelt, atmet schnell, sucht weiter. Der Bauch des Hunds bewegt sich hechelnd. Systematisch sucht das Tier Zimmer für Zimmer ab. Erik bleibt im Flur. Ihm ist übel, und er spürt plötzlich, dass er sich übergeben muss, und verlässt das Haus. Zwei Polizisten unterhalten sich vor einem Einsatzwagen. Erik geht auf sein Auto zu, bleibt stehen und zieht die kleine Schachtel mit dem Papagei und dem Eingeborenen heraus. Er hält sie in der Hand, geht zu einem Gulli und kippt den Inhalt hinein. Auf seiner Stirn steht kalter Schweiß. Er befeuchtet seinen Mund, als wollte er nach langem Schweigen etwas sagen, lässt anschließend auch die Schachtel fallen und hört das Klatschen, als sie aufs Wasser schlägt.
Als er in den Garten zurückkehrt, steht Joona vor dem Haus. Er begegnet Eriks Blick und schüttelt den Kopf. Erik geht hinein. Die Hundeführerin kniet vor dem Labrador und streichelt seinen Hals und das weiche Fell hinter den Ohren.
»Sind Sie im Keller gewesen?«, fragt Erik.
»Natürlich«, antwortet sie, ohne ihn anzusehen.
»Auch in dem hinteren Raum?«
»Ja.«
»Kann der Hund wegen der Asche vielleicht keine Witterung aufnehmen?«
»Rocky kann eine Leiche noch unter Wasser, in sechzig Metern Tiefe, ausfindig machen«, erklärt sie.
»Und lebende Menschen?«
»Wenn es hier etwas gäbe, hätte Rocky es gefunden.«
»Aber draußen habt ihr noch nicht gesucht«, sagt Joona, der hinter Erik getreten ist.
»Ich wusste nicht, dass wir das sollten«, erwidert die Hundeführerin.
»Das sollt ihr«, sagt Joona kurz angebunden.
Sie zuckt mit den Schultern und richtet sich wieder auf.
»Na, dann komm«, sagt sie mit dunkler, belegter Stimme zu dem Labrador. »Na komm. Sollen wir rausgehen und uns umsehen? Sollen wir uns umsehen?«
Erik begleitet die beiden nach draußen, die Treppe hinunter und um das Haus herum. Der schwarze Hund rennt auf dem ungepflegten Rasen hin und her, schnüffelt an der Wassertonne, in der sich an der Oberfläche eine milchige Eisschicht gebildet hat und sucht bei den alten Obstbäumen. Der Himmel ist dunkel und diffus. Erik sieht, dass ein Nachbar bunte Lichterketten in einem Baum eingeschaltet hat. Es ist kalt. Die Polizisten haben sich in den Einsatzwagen gesetzt. Joona bleibt immer in der Nähe der Frau und des Hundes und gibt von Zeit zu Zeit eine Richtung vor. Erik folgt ihnen zur Rückseite des Hauses. Plötzlich erkennt er den Hügel am hinteren Ende des Gartens. Das ist der Ort auf dem Bild, denkt er, auf dem Foto, das Aida Benjamin geschickt hat, bevor er verschwunden ist. Erik atmet schwer. Der Hund schnüffelt am Komposthaufen, läuft zu dem kleinen Hügel, schnüffelt, hechelt, läuft einmal um ihn herum, riecht an den flachen Sträuchern und der Rückseite des braunen Zauns, kehrt zurück, eilt um einen Laubkorb herum und zu einem kleinen Kräutergarten. Kleine Stöckchen mit Samentüten geben an, was in den verschiedenen Reihen gepflanzt wurde. Der schwarze Labrador knurrt unruhig und legt sich mitten auf das kleine Beet. Ganz platt liegt er auf der feuchten, aufgelockerten Erde. Der Körper des Hundes zittert vor Erregung, und die Hundeführerin wirkt sehr traurig, als sie ihn lobt. Joona macht abrupt kehrt, läuft auf Erik zu und verstellt ihm den Weg. Erik hat keine Ahnung, was er selbst schreit, was er zu tun versucht, aber Joona gelingt es am Ende, ihn aus dem Garten zu schaffen.
»Ich muss wissen, was los ist«, sagt Erik mit zitternder Stimme.
Joona nickt und sagt leise:
»Der Hund hat markiert, dass sich in der Erde eine menschliche Leiche befindet.«
Erik sinkt auf dem Bürgersteig zu Boden und lehnt sich an einen Verteilerkasten. Die Füße, die Beine, seine ganzen Gliedmaßen existieren für ihn nicht mehr, und als er sieht, dass die Polizisten den Einsatzwagen mit Spaten verlassen, schließt er die Augen.
Erik Maria Bark sitzt alleine in Joona Linnas Auto und blickt durch die Windschutzscheibe auf den Tennisvägen hinaus. Die schwarzen Baumwipfel fangen das Licht der hängenden Straßenlaternen auf. Ein schwarzes Astgeflecht vor einem dunklen Winterhimmel. Sein Mund ist ausgedörrt, Gesicht und Kopf schmerzen. Er flüstert etwas vor sich hin, steigt aus dem Wagen, klettert über das Absperrband und geht durch das hohe, erfrorene Gras hinters Haus. Dort steht Joona und beobachtet die uniformierten Männer mit den Spaten. Sie arbeiten unter verbissenem Schweigen und mit fast schon mechanischen Bewegungen. Der kleine Acker ist komplett ausgehoben worden und bildet nur noch ein großes, rechteckiges Loch. Auf einer Plastikplane liegen erdverschmierte Kleiderfetzen und Knochen. Metall schlägt gegen Stein, die Spatenstiche hören auf, und die Polizisten richten sich auf. Erik nähert sich ihnen langsam und mit schweren, widerwilligen Schritten. Er sieht, dass Joona sich umdreht und ihn müde anlächelt.
»Was ist?«, flüstert Erik.
Joona kommt zu ihm, sucht seinen Blick und sagt:
»Das ist nicht Benjamin.«
»Wer ist es dann?«
»Die Leiche liegt hier seit mindestens zehn Jahren.«
»Ist es ein Kind?«
»Etwa fünf Jahre alt«, antwortet Joona, dem ein Schauer über den Rücken läuft.
»Dann hatte Lydia also doch einen Sohn«, sagt Erik gedämpft.