15
Nomjhi-Raumhafen, Qingliu, Hustaing Kommunalität Sian, Konföderation Capella12. November 3060
Aris führte Isis Mariks Ehrengarde auf die Rampe der Perle der Wahren Weisheit und eskortierte sie hinab auf den Stahlbeton des Landefelds. Unterwegs hob er die linke Hand an den Mund und drückte mit dem Daumen auf den Sprechknopf des Mikrophons.
»Capella Eins unterwegs«, gab er in einer schnellen, knappen Meldung durch. Eine eisige Brise trieb graue Wolken über den Himmel und zerrte am Umhang der Ausgehuniform, während Aris in Gedanken sämtliche Klarmeldungen der Sicherheitsposten abhakte. Es ging ihm immer noch gegen den Strich, dieselben Codes und Verfahren benutzen zu müssen, obwohl allgemein bekannt war, daß Sun-Tzu sicher auf Sian war. Aber der Haus-Meister hatte seinen dementsprechenden Befehl noch nicht zurückgenommen.
Nicht, daß Hustaing noch als Feindgebiet
gegolten hätte.
Haus-Meister Ty Wu Non erwartete sie am Fuß der Rampe. Er trug
ebenfalls das offizielle Grün und Schwarz Haus Hiritsus. Neben ihm
stand Kapitän Warner Doles, stellvertretender Kommandeur des 2.
Bataillons der Blackwind-Lanciers. Unrasiert und zerzaust machte
Doles neben Haus-Meister Nons geschniegeltem Erscheinungsbild keine
gute Figur, obwohl er diesen an Größe und Gewicht deutlich
übertraf.
Aber wie sollte er anders aussehen, nach sechs
Wochen Kampf, in denen er nichts erreicht hat außer Schande und der
Feindseligkeit seines eigenen Volkes?
Die Ehrengarde teilte sich auf, schritt um HausMeister Non und
dessen Schützling herum und formierte sich zu einem Kordon um die
kleine Gruppe. Nur Aris Sung löste sich aus den Reihen und ging
innerhalb des Kreises zur Linken von Isis Marik in Stellung. Seine
rechte Hand blieb in der Nähe der Nakajima. Kapitän Doles trug
keine Handschellen und wirkte stark genug, um Schwierigkeiten zu
machen, falls er sich entschloß, an der Verlobten des Kanzlers
Vergeltung zu üben.
Isis zuckte mit keiner Wimper, als sie zu dem Hünen aufsah und ihn
mit kühler Neutralität musterte. »Als ranghöchster Kriegsgefangener
wurden Sie beauftragt, sich um die Belange Ihrer Leute zu kümmern.
Sie können bestätigen, daß sie gut behandelt wurden?« Aris fand,
daß sie eine unglaubliche Haltung zeigte, wenn man bedachte, wie
nahe sie dem Tod oder der Gefangennahme durch die BlackwindLanciers
gekommen war.
»Gut genug«, gab Doles zu. »Fünf meiner Krieger werden derzeit im
Krankenrevier des Kondor behandelt,
aber sie dürften sich erholen. Wahrscheinlich sollte ich mich für
ihre ausgezeichnete medizinische Versorgung bedanken.«
Fünf Schwerverwundete, neun Leichtverwundete und sechs Tote. Aris
hatte den Abschlußbericht gelesen. Hinzu kam ein toter Krieger Haus
Hiritsus und ein anderer, der trotz ausgezeichneter
Prothesentechnik nie wieder einen Mech steuern würde. Er hielt den
St. Ives-Pakt noch immer für einen Staat ohne Existenzberechtigung.
Aber für eine Auseinandersetzung, die effektiv nichts bewirkt
hatte, jedenfalls nicht, soweit Aris das beurteilen konnte, hatte
dieser Überfall einen hohen capellanischen Blutzoll
gefordert.
Aris war auch dabei gewesen, als die Gefangenen auf das
Kondor-Klasse-Landungsschiff der
Infanterie verladen wurden. Eine besiegte Einheit. Selbst die
unverletzten Lanciers erwartete nur die formelle Auflösung ihrer
einst stolzen Einheit. Auf Proklamation Candace Liaos hin würden
die Blackwind-Lanciers in Zukunft nur noch aus den beiden übrigen
Bataillonen bestehen. Und soweit das zu erkennen war, kam der
einzige Widerspruch von den Bewohnern Denbars. Ohne Zweifel plant Candace Liao öffentliche Geständnisse
der Lanciers, die auch diesen Rest an Widerstand zum Verstummen
bringen dürften.
Isis akzeptierte Kapitän Doles' eher widerwillige Dankbarkeit mit
einem Nicken. »Dann ist diese Angelegenheit abgeschlossen, sofern
Sie keine besonderen Einwände haben«, stellte sie mit formeller
Gnädigkeit, zugleich aber auch mit einer Kälte fest, die deutlich
machte, daß es darauf nur eine Antwort geben konnte, nämlich
Nein.
Warner Doles trat vor, und Aris packte ihn auf der Stelle an der
Schulter, um ihn in respektvollem Abstand zu halten, während die
Rechte auf den Griff der Laserpistole fiel. Der Kapitän blieb
stehen, sagte aber: »Ich habe zwei Einwände, Herzogin Marik, wenn
Ihr die Anmaßung gestattet.«
Aris faßte Doles am Oberarm und war bereit, den Gefangenen
abzuführen. Unglücklicherweise hatte Isis ihm mit ihren Worten aber
selbst die Gelegenheit geboten, seine Belange vorzutragen, und sie
nickte knapp. Der Lancier-Offizier räusperte sich. »Ich habe unsere
Kommandeurin, Majorin Smithson, weder unter den Verwundeten oder
anderen Gefangenen noch auf den Verlustlisten gefunden. Ebensowenig
habe ich etwas von der Einschiffung unserer BattleMechs gesehen.
Werden sie an Bord eines anderen Landungsschiffs nach Denbar
befördert?« Er deutete mit dem Kopf in Richtung der Dainwu, deren Eiform deutlich erkennbar war, obwohl
sie am anderen Ende des Landefelds stand. »Vielleicht mit dem
Overlord?«
Isis überlegte einen Augenblick. Nur eine kleine senkrechte Falte
zwischen ihren Augen kündete vom Wettstreit der Argumente in ihren
Gedanken. Dann gab sie nach. »Majorin Smithson befindet sich an
Bord der Perle der Wahren Weisheit«,
informierte sie den Lancier. »Sie wird nach Sian gebracht, wo der
Erste Lord Liao über sie zu Gericht sitzen wird.« Sie machte eine
Pause, damit ihr Gegenüber die Mitteilung verarbeiten
konnte.
Warner Doles nahm die Eröffnung gelassen genug auf, auch wenn Aris
durch den Griff um den Arm des Mannes spürte, welche Anspannung
Isis Mariks Mitteilung in ihm verursachte. Der Mann hatte immer
noch Loyalitätsgefühle seiner Kommandeurin gegenüber, obwohl sie
versagt hatte. Lobenswert, wenn auch fehl am Platz.
»Was die BattleMechs und sonstige Ausrüstung der Blackwind-Lanciers
betrifft«, fuhr Isis fort, »wurden diese zur Kriegsbeute erklärt.
Einschließlich der Landungsschiffe. Nur die Söldnereinheiten, die
Sie überredet haben, Ihnen hierher zu folgen, dürfen ihre
Ausrüstung behalten, da sie formell den Anweisungen legitimer
Repräsentanten des Paktes gefolgt sind, nämlich denen der Lanciers
und Majorin Smithsons.«
Entehrt und entrechtet! Beinahe hätte
Aris den Offizier losgelassen, so erschütterte selbst ihn diese
Eröffnung. Keinen MechKrieger konnte die Vorstellung kalt lassen,
seinen Kampfkoloß zu verlieren. Das war Kanzler Liaos Methode, aus
der Situation noch einen Profit zu schlagen, und das auf recht
effektive Weise: indem er Ausrüstung im Wert von Millionen C-Noten
beschlagnahmte. Und ohne Zweifel standen weitere Reparationen durch
den Pakt bevor.
Doles sah das allerdings etwas anders. »Einige dieser Mechs sind
Privatbesitz«, erklärte er in einer Mischung aus Wut und
Ungläubigkeit. »Die meisten haben nie außerhalb der
Blackwind-Lanciers Dienst getan.« Seine Ungläubigkeit schwand
rapide. »Das können Sie nicht machen!«
Ty Wu Non trat zwischen Warner Doles
und Isis. »Achten Sie auf Ihre Worte, wenn Sie mit der Herzogin
sprechen«, wies er den Gefangenen
zurecht und unternahm keinen Versuch, die Verachtung in seiner
Miene zu verbergen, auch wenn er seine Stimme Isis zuliebe unter
Kontrolle hielt. »Ihre bedingungslose Kapitulation gibt Kanzler
Liao mit Sicherheit jedes Recht dazu. Sie sollten sich glücklich
schätzen, daß er Ihnen die Gelegenheit gibt, mit Ihrem Leben in den
Pakt zurückzukehren. Soviel das noch wert ist.«
»Die Lancier-BattleMechs werden zum Aufbau einer neuen
Konföderations-Einheit benutzt werden«, stellte Isis fest, und um
ihre Mundwinkel spielte die Andeutung eines Schmunzelns. »In
derselben Tradition, aus der aus einer planetaren Milizeinheit die
Harloc-Plünderer entstanden, wird Kanzler Liao diesen Zwischenfall
zur Gründung der HustaingRabauken nutzen.«
Aris erkannte an Isis' Tonfall und Auftreten ihre Zustimmung für
das Handeln ihres Verlobten. Es ist auch ein
brillanter Schachzug. Eine Niederlage des Paktes führt zur Stärkung
der Konföderationsarmee. In Aris stieg gelinder Stolz auf
seinen Kanzler auf. Das sollte genügen, das Leiden auf Hustaing
auszugleichen.
Li Wynn war stolz, in der Ehrengarde mitmarschieren zu dürfen.
Die Gefangenschaft bei den Blackwind-Lanciers war nicht angenehm gewesen. Er hatte sie in einer fensterlosen, durchgehend beleuchteten Zelle verbracht und alle acht Stunden die gleiche Mahlzeit vorgesetzt bekommen. Es war keine ausgesprochen unmenschliche Behandlung gewesen, aber in der langweiligen Umgebung der Zelle, ohne Nacht oder Tag und ohne Nachricht vom Verlauf der Kämpfe, hatte Li sich ständig um sein Haus Gedanken gemacht. Er hatte sein Schicksal in dem Wissen ertragen, daß er seine Pflicht übererfüllt und einen Augenblick sogar Isis Marik, der Verlobten des Kanzlers, persönlich gedient hatte.
Und jetzt diene ich ihr
wieder, in der ehrenvollsten Position innerhalb der Infanterie Haus
Hiritsus.
Haus-Meister Ty Wu Non war auf der Medostation erschienen, während
Li nach seiner Befreiung durch die bedingungslose Kapitulation der
Blackwind-Lanciers untersucht worden war. Er hatte natürlich nur
mit dem Arzt gesprochen, aber trotzdem war sein Besuch die erste
offizielle Anerkennung Lis als Mitglied des Hauses seit seiner
Adoption. Auch Infanteriekommandant Jessup hatte kein Wort gesagt,
aber stillschweigend den Dienstplan umgestellt und Li in die
Ehrengarde versetzt.
Tatsächlich hatten überhaupt nur zwei Personen sein Handeln direkt
angesprochen. Aris Sung hatte ihn in seiner Eigenschaft als Lis
Sifu kritisiert. »Der Bäckereiwagen war ein Fehler«, hatte er
erklärt. »Ihr hättet zu Fuß weitergehen sollen. Das hätte es
leichter gemacht, sich von einem Haus ins nächste zu bewegen, und
ihr hättet weniger Zeit auf der Straße verbringen müssen.« Aber so
kritisch Aris' Tonfall auch gewesen war, Li hatte die Spur eines
Lächelns in seinen Augen bemerkt - eines Lächelns, das Aris sicher
auch hätte verbergen können - und wußte, daß sein Mentor sich
insgeheim freute.
Die andere Person war Isis Marik selbst. An seinem ersten Diensttag
in der Ehrengarde hatte sie sich zu ihm umgedreht. Es war zu keiner
Unterhaltung gekommen - kein Hiritsu-Infanterist hätte es gewagt,
sich im Dienst auf ein Gespräch einzulassen -, aber sie hatte sich
leise bedankt.
Ihr ›Danke‹ und Aris' stummes Lob machten die Unannehmlichkeiten,
die er hatte ertragen müssen, mehr als wett. Hinzu kam der neue
Respekt, den er sich bei seinen Kameraden erworben hatte. Die
anderen Infanteristen behandelten Li Wynn inzwischen so, als sei er
schon seit Jahren Teil der Einheit, nicht erst seit ein paar
Monaten. Li gehörte dazu.
Jetzt beobachtete Li, wie Haus-Meister Non und Isis Marik den
Offizier jenes kleinen Bastardstaats zurechtwiesen, der es gewagt
hatte, Hustaing anzugreifen. Das war Lis persönliche Einschätzung
des St. Ives-Paktes: ein kranker Bastardköter von einem Staat, der
eingeschläfert gehörte. Dann waren die letzten Worte gewechselt,
und Aris führte die Ehrengarde, die Isis Marik eskortierte, zurück
ins Innere der Perle der Wahren
Weisheit, während HausMeister Non bei dem Lancier-Kapitän
blieb, um ihn den Wachen zu übergeben, die den Gefangenen zurück
auf den Kondor brächten.
Infanterist Li Wynn ärgerte sich darüber, daß solche Feinde der
capellanischen Nation und der Grundsätze der Xin Sheng überhaupt
weiterleben durften. Die Form muß eingehalten
werden, aber sie können sich nicht ewig verstecken. Eines Tages
wird die gerechte Strafe des Kanzlers sie
einholen.
Li konnte nur hoffen, daß er es erleben würde und Gelegenheit
bekam, daran teilzunehmen.