4
Palastanlage, Tian-tan, St. lves Herzogtum St. Ives, St. Ives-Pakt10. August 3060
Cassandra Allard-Liao sah ihre Mutter mit gestrecktem Finger auf den Knopf der Fernbedienung hämmern, der den riesigen Trideowandschirm abschaltete. Augenblicklich verblaßte das Bild ihres Vetters Sun-Tzu, der im enthusiastischen Applaus der Menge auf Relevow badete, zu einem Schwarzweißbild, und verschwand dann ganz. Der Applaus und Jubel schien noch einen Augenblick länger durch Candace Liaos Privatsalon zu klingen, bevor er der gewöhnlichen Stille der Palastanlage Platz machte. Cassandra mußte ihrem Vetter zugestehen, daß er einen Auftritt hinzulegen verstand. Nur seine Sicherheitsleute hatten versucht, sich von den mitreißenden nationalen Gefühlen der Rede unbeeindruckt zu zeigen. Aber an der Art, wie sie sich in ihrer Paradehaltung unwillkürlich zu recken schienen, hatte Cassandra ihre positive Reaktion trotzdem erkannt. Die Holokameras hatten beinahe das Krachen der beanspruchten Wirbel eingefangen.
»Beeindruckend«, meinte sie.Candace Liao blickte mit einem Stirnrunzeln auf den leeren Schirm, von dem noch Sekunden zuvor Sun-Tzus Gesicht herabgelächelt hatte, und schien sich zu wünschen, es so leicht nehmen zu können. Sie warf ihrer Tochter einen schrägen Blick zu. »Das bedeutet Ärger.«
Cassandra erwiderte das Stirnrunzeln ihrer Mutter, und einen Augenblick lang schienen die beiden Frauen dasselbe Gesicht zu haben, wenn auch im einen Fall etwas älter. Obwohl sie bereits Mitte Siebzig war, besaß Candace Liao noch dieselbe zeitlose asiatische Schönheit, die sie ihren beiden Töchtern vererbt hatte. Noch hellten nur vereinzelte graue Strähnen ihre glänzenden schwarzen Haare auf. Ihre Haut glänzte gesund, nur in den Winkeln der Mandelaugen waren einige winzige Fältchen zu erkennen. Cassandra konnte nur hoffen, einmal selbst so gut altern zu können.
»Ich verstehe nicht, weshalb, Mutter. Ich habe schon mehrere Reden dieser Art gehört, die der Paktbevölkerung bestätigen, daß wir im Vierten Nachfolgekrieg die richtige Wahl getroffen haben, als wir aus der Konföderation ausschieden. Inwiefern liegen die Dinge diesmal anders?«
Die Präsidentin drehte sich in ihrem hohen Stuhl um und nahm eine bequemere Sitzhaltung ein, um ihrer Tochter zu antworten. Ihre Miene hellte sich auf, als sie das Abbild ihrer eigenen Jugend betrachtete, aber die Sorge blieb erkennbar. »Jemandem, der nicht das Leben am Hof von Sian unter meinem Vater miterlebt hat, läßt sich das schwer vermitteln. Symbolik war damals wichtig, sowohl für unser chinesisches Erbe als auch, weil uns häufig nur symbolische Siege möglich waren. In all ihrem Wahn hat meine Schwester Romano gelernt, wahre Siege mit Symbolik zu verschmelzen. Ich weiß, daß Sun-Tzu dieses Talent ebenfalls besitzt. Für ihn gibt es keine hohlen Gesten oder leeren Drohungen.«
Mit einem kurzen Blick auf den dunklen Bildschirm, als erwarte sie halb, ihren Vetter wieder aus seinen Tiefen blicken zu sehen, ließ Cassandra sich die Worte ihrer Mutter durch den Kopf gehen, bevor sie antwortete. Sie atmete tief durch und sog den leichten Duft des Weihrauchs ein, den Candace gelegentlich abbrannte. »Du glaubst, daß er den St. IvesPakt bedroht? Wie könnte er das?«
»Ich denke, er versucht uns zu provozieren. Wie das genau vonstatten gehen soll, kann ich nicht sagen. Aber eines versteht mein Neffe sehr gut: Der St. Ives-Pakt ist ein Kartenhaus, gebaut auf Treibsand.« Die Herzogin legte die Fingerspitzen aufeinander. Mit nachdenklich verkniffenen Augen wirkte sie plötzlich ganz wie eine Liao. »Der Anspruch der Konföderation auf den St. Ives-Pakt ist real. Und unsere Bevölkerungen verbindet eine zu lange gemeinsame Geschichte, eine zu tiefe gemeinsame Kultur. Es wäre schwer, einer Assimilation zu widerstehen.«
Cassandra schüttelte den Kopf und weigerte sich, das einzugestehen. »Wir würden kämpfen«, erklärte sie überzeugt
Lächelnd betrachtete Candace ihre Tochter mit ihren trotz des Alters noch adlerscharfen Augen. »Justins Feuer lodert in deinem Geist«, stellte sie mit einem Hinweis auf ihren verstorbenen Gatten fest. »Dasselbe Feuer lodert in deinem Bruder Kai, wenn auch gemildert durch vorsichtige Einsicht.«
War das ein Rüffel? Cassandra war selbst eine gute MechKriegerin und darauf bedacht, ihr Können unter Beweis zu stellen. Aber falls ihre Mutter ihr sagen wollte, daß sie ihrem Bruder in dieser Hinsicht nicht das Wasser reichen konnte, war das unnötig. Das wußte Cassandra nur zu gut. Kai gehörte zu den besten Mech-Kriegern, die man in der Inneren Sphäre je gesehen hatte. Aber das heißt nicht, daß ich nicht auch meinen Teil leisten kann.
Candace faltete die Hände im Schoß und kehrte zum eigentlichen Thema des Gesprächs zurück. »Ja, wir würden kämpfen.« Die Stimme der Herzogin wurde hart. »Und wir werden kämpfen. Aber in einer militärischen Auseinandersetzung fiele es uns sehr schwer, die Konföderationstruppen ohne Unterstützung lange aufzuhalten. Das weißt du so gut wie ich. Wir sind gezwungen, uns bei unserer Verteidigung auf das Vereinigte Commonwealth zu stützen.«
»Aber auf dessen Schutz können wir nicht zählen«, stellte Cassandra fest. »Nicht, solange die Bedrohung durch die Clans weiterbesteht. Nicht, solange Katherine das Reich bereits zweigeteilt hat und wahrscheinlich nur auf eine Gelegenheit wartet, Yvonne Ärger zu machen.« Sie verstummte, um nachzudenken, und war ihrer Mutter dankbar, daß sie ihr die Zeit ließ, die Angelegenheit selbst durchzudenken. »Also müssen wir einen Kampf vermeiden«, erklärte sie schließlich, als sei die Lösung sehr einfach. Sie war sich sicher, daß ihre Mutter diese Antwort hören wollte, obwohl sie persönlich den Pakt für stark genug hielt, sich ohne fremde Hilfe zu verteidigen.
Wieder nickte Candace. »Irgendwie ist Sun-Tzu auf uns aufmerksam geworden. Er sucht nach einem Anlaß, und den dürfen wir ihm nicht liefern. Irgendwann wird ein anderes Projekt sein Interesse beanspruchen, eines, das unmittelbareren Gewinn verspricht.« Candace machte eine kurze Pause und sog die parfümierte Luft des Salons tief in ihre Lungen. »Bei der Durchsicht unserer Grenzbefestigungen bin ich auf ein potentielles Problem gestoßen. Auf Indicass steht eine große Söldnereinheit, zwei Regimenter, die diese Möglichkeit nutzen könnte, Sun-Tzu anzugreifen. Ihr fanatischer Haß auf den Kanzler ist zu gut bekannt, als daß er nichts davon wissen könnte, und in seiner Rede auf Relevow hat er die Loyalität der meisten Söldner in Frage gestellt.«
»Dasselbe hat er über den durchschnittlichen Paktbürger gesagt«, stellte Cassandra fest. »Aber es stimmt, mit seiner Hervorhebung von McCarron's Cavalry scheint er es darauf anzulegen, andere Söldnertruppen zu beleidigen.«
Candace lächelte zustimmend. »Ich habe eines der beiden Söldnerregimenter zurück nach St. Loris beordert, das mit der geringeren Selbstkontrolle.«
Cassandra führte eine hastige Kopfrechnung aus, sah eine Gelegenheit und versuchte sie auszunutzen, bevor die Überlegungen ihrer Mutter in eine andere Richtung abschwenkten. »Ich könnte ein Bataillon der 2. St.-Ives-Lanciers mobilisieren und in drei bis vier Wochen auf Indicass sein. Wenn ich Kittery mit der dortigen K-F-Ladestation als Wegstation benutzen kann. Das dürfte lange vor Sun-Tzus Eintreffen auf Hustaing oder Purvo sein«, meinte sie und bezog sich damit auf die beiden Systeme der Konföderation, die Indicass am nächsten lagen. »Ich könnte das Garnisonsregiment verstärken und an die Kandarre nehmen.«
Candace stockte und gab dann mit einem zögernden Nicken ihre Einwilligung zu dem Vorschlag. »Justins Feuer. Na schön, flieg mit deinen Leuten hin und überwache die Lage. In der Zwischenzeit werde ich die Garnisonseinheiten auf den anderen Grenzwelten anweisen, Manöver abzuhalten. Das sollte ihnen gestatten, ihre Muskeln ausreichend spielen zu lassen, um sich von Sun-Tzus Treiben nicht bedroht zu fühlen. Außerdem werde ich alle Regimentskommandeure anschreiben und noch einmal meine Überzeugung zum Ausdruck bringen, daß keine unmittelbare Gefahr besteht.« Candace Liao ließ einen Hauch von Stahl in ihre Stimme fließen. »Wir werden den Frieden erhalten.«
In diesem Augenblick bewunderte Cassandra die Stärke ihrer Mutter und fühlte keinerlei Zweifel, daß sie recht hatte. Sollte Sun-Tzu ruhig kommen, wenn er den Mut besaß. Der St. Ives-Pakt konnte sich wehren.
* * *Föhrental, Denbar
Herzogtum Vestallas, St. Ives-Pakt
An die Rückwand der Freizeithalle der Weißstrombasis Denbars gelehnt, ein Glas Eiswasser in der Hand, aus dem sie gelegentlich einen Schluck nahm und ansonsten versuchte, in der rauchgeschwängerten Luft einen Hustenanfall zu unterdrücken, unterhielt sich Majorin Trisha Smithson zwischen den Ausbrüchen der übrigen Einheit leise mit ihrem Stellvertreter. Das zweite Bataillon der BlackwindLanciers sah Sun-Tzu Liaos Relevow-Ansprache jetzt bereits zum vierten Mal und kannte sie inzwischen so gut, daß die verärgerten Zwischenrufe und Beschimpfungen schon aufklangen, noch bevor der Kanzler aussprach, was sie auslöste.
»Was halten Sie davon?« fragte Warner und deutete auf die MechKrieger, die dem riesigen Holovidwandschirm Flüche und obszöne Gesten zuwarfen.
Trisha betrachtete den Mob, in den sich ihre Einheit innerhalb weniger Stunden verwandelt hatte. In Anbetracht der ausgeprägt Sun-Tzu-feindlichen Ansichten, die sie in den sechs Jahren als Bataillonsführerin in ihren Leuten gefördert hatte, wäre jede andere Reaktion enttäuschend gewesen. Obwohl sie ihr Verhalten noch reichlich zahm fand. Aber es muß genügen.
Sie warf Sun-Tzu Liaos Bild auf dem Holoschirm einen haßerfüllten Blick zu, allein schon der Form halber, als er zunächst Marcus Baxter zum Lord der Konföderation erklärte und sich dann, nachdem der Applaus abgeklungen war, in weiteren Beleidigungen des St. Ives-Pakts erging. »Sie scheinen bereit, einen Aufstand anzuzetteln«, stellte sie mit gesenkter Stimme fest und verbarg ihre Freude unter einer Note der Besorgnis. »Aber das können wir nicht zulassen.« Noch nicht. »Oberst Perrin könnte mir den Befehl entziehen, wenn es dazu kommt.«
Kapitän Warner Doles nickte nur, aber in dieser simplen Geste konnte Trisha sein Verständnis erkennen. Trotz einiger privater Standpauken, die der Kommandeur der Blackwind-Lanciers ihr und einmal auch Doles gehalten hatte, war ihre Akte sauber. Gelegentlich schien es fast, als versuche Perrin zu vergessen, daß sein 2. Bataillon oder auch nur der Planet Denbar überhaupt existierten. Er verbrachte seine Zeit auf Milos oder Texlos mit dem 1. oder 3. Wenn einer der Krieger des 2., meistens Trisha, sich etwas zuschulden kommen ließ, zog er es vor, die Sache intern zu regeln und keine Meldung zu machen.
Auf dem Bildschirm setzte das dreidimensionale Abbild Sun-Tzu Liaos in dessen grünroten Seidenroben sein verbales Bombardement fort. »McCarron's Armored Cavalry wird immer zu den hervorragendsten capellanischen Einheiten zählen. Wir können uns darauf verlassen, daß sie die Nation gegen alle Feinde verteidigt, äußere wie innere. Mit Ihrer Hilfe wird uns wieder gehören, was einst unser war.«
Ein inneres Ziel. Stück für Stück engte die Rede des Kanzlers ihre Auswahl ein. »Kommentar?« forderte Trisha Smithson Warner auf, als ihre Krieger Sun-Tzu Ablehnung und Zweifel über seine Abstammung entgegenschleuderten.
Warner holte seine Pfeife hervor, ein langstieliges Stück mit einem Kopf aus gebranntem Ton. Sehr traditionell zwar, aber auch ein nicht allzu geschickter Versuch, sich Zeit zum Nachdenken zu verschaffen. Als er Trishas mißbilligende Miene bemerkte, nickte er entschuldigend und schob die Pfeife zurück in seine Jackentasche. Der muskulös gebaute Offizier fuhr sich mit den Fingern durch das hellbraune Haar, dann verschränkte er die breiten Arme vor der Brust und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Liao könnte die Umstrittenen Territorien meinen«, stellte er schließlich fest.
»Aber das glaubst du nicht ernsthaft?«
Oder wenn doch, muß ich deine Meinung
ändern.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Dafür waren zu viele seiner
Kommentare zu eindeutig. Die Tatsache, daß er die Gründung des
Pakts kürzlich als Militärputsch von Einheiten bezeichnet hat, die
zu feige waren, sich der Davion-Bedrohung zu stellen, zeigt, welche
Meinung er von uns hat. Und machen wir uns nichts vor. Wenn er den
Pakt erobern will, kann er das tun. Nur der wiedergegründete
Sternenbund hindert ihn daran. Der Sternenbund und sein Zögern, die
VerCom-Einheiten anzugreifen, deren Stationierung im Paktgebiet
Präsidentin Liao gestattet hat.« Trisha nickte. Die Überlegungen
ihres Stellvertreters entsprachen dem, was ihr selbst durch den
Kopf ging. Der Kanzler sucht ganz offenbar nur
nach einer Entschuldigung. Er wird angreifen, so oder so.
Sie nahm einen Schluck Eiswasser, um das Brennen in ihrer vom Qualm
gereizten Kehle zu lindern. »Sonnyboy und seine irre Mutter vor ihm
haben ihren Anspruch auf den Pakt nie formell fallen lassen. Aber
hat er die Qiu, ihn sich zu holen?«
Auf diese Obszönität hin hatte Warner nur ein Schulterzucken
anzubieten. Für einen Mann seines Körperbaus schien er
bemerkenswert sanft. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Die
Präsidentin scheint nicht der Ansicht zu sein. Von St. Ives ist
jedenfalls nichts zu hören.«
Trisha wählte ihre nächsten Worte vorsichtig, um ihren
Stellvertreter nicht vor den Kopf zu stoßen. »Herzogin Liao ist in
politischen Kreisen erfolgreich genug, aber sie sitzt sicher auf
St. Ives, während Denbar und die anderen Grenzwelten damit rechnen
dürfen, hart rangenommen zu werden.« Sie nickte zum Schirm. »Er
droht uns mit McCarron's Cav, und wir sitzen hier tatenlos herum
wie ein fettes Rebhuhn in den Quillarfeldern, das nur darauf
wartet, vom Jäger abgeschossen zu werden.«
»Was sollten wir sonst tun?« fragte Warner und sah sie mit einer
Mischung aus Interesse und Besorgnis an.
Trisha beugte sich zu ihm hinüber, damit niemand mithören konnte.
Außerdem ermahnte sie sich in Gedanken, ihre Wortwahl professionell
und legitim zu halten. »Die Kompanieführer zusammenrufen und ein
paar Planungssitzungen abhalten. Ich möchte eine Palette von
Abwehr-, Evakuierungs- und Angriffsplänen bereit haben, je nachdem,
was Sunnyboy vorhaben könnte, bereit zur sofortigen Umsetzung.« Sie
bemerkte den spekulativen Ausdruck, der über Warners Gesicht
huschte und Zustimmung Platz machte, und sie nickte. »'58 hat er
die Souveränität Sarna überraschen können. Diesmal werden wir es
ihm nicht so einfach machen.«