WEG DER SCHATTEN 1
Shen-cai-Amphitheater, Provinz Gao Shang, Sarna Souveränität Sarna
25. Juni 3060Sarnas helle Nachmittagssonne badete das graue Feld des Amphitheaters in ihrem Licht, ließ die dunklen Risse deutlich hervortreten, die sich im Laufe der Zeit in dem behauenen Stein breitgemacht hatten, und die prächtige Maserung der Rotholzbühne leuchtete in ihrem Schein. Sorgfältig getrimmte Kiefern säumten den oberen Rand des gewaltigen Runds, und in strategisch plazierten Rotholzbottichen wuchsen in seinem Innern kultivierte Farn-, Efeu- und Jadepflanzen. Keine blühenden Gewächse mit starkem Duft oder Bäume, deren Laub sich im Jahreswechsel verfärbte. Nur Grün und ein frisches Waldaroma, die einfachsten Formen der Natur.
Eine gute Wahl für die
Einführungszeremonie, gestand Kompanieführer Aris Sung
widerwillig ein.
Aris stand in stolzer Hab-Acht-Haltung auf der Rotholzbühne, und
eine leise Sommerbrise fuhr mit sanften Fingern durch sein
kurzgeschorenes schwarzes Haar. Er flankierte Haus-Meister Ty Wu
Non auf dessen linker Seite. Infanteriekommandant Jessup stand zu
dessen Rechter. Nur ein kleiner Teil der Sitze des Theaters waren
besetzt: die ersten fünf Reihen vor der Bühne, mit je fünf Kriegern
auf beiden Seiten des Gangs. Etwas mehr als die Hälfte des
Infanteriebataillons Haus Hiritsus. Aris und Ty Wu Non waren die
einzigen anwesenden MechKrieger, Ty Wu Non in seiner Eigenschaft
als Haus-Meister, Aris als Sponsor des Anwärters. Alle Anwesenden
trugen die schwarzgrüne Ausgehuniform Haus Hiritsus, mit offen
befestigtem Umhang - wie bei Hauszeremonien üblich.
Alle Anwesenden außer dem Anwärter auf eine Haus-Kriegerschaft, Li
Wynn.
Li kniete am Ende des Mittelgangs, die Hände auf den Oberschenkeln,
den Kopf ergeben gebeugt. Der junge Mann trug eine einfache
dunkelgrüne Seidenrobe, und damit das nächste an einer Bekleidung
in den Farben Haus Hiritsus, das ihm je gestattet worden war.
Obwohl er selbst sich nie in Lis Position befunden hatte - Aris'
Aufnahme in das Kriegerhaus war äußerst ungewöhnlich vonstatten
gegangen -, wußte er, daß Li in Gedanken die vorbereiteten
Antworten auf die formellen Fragen durchging, die Aris und Jessup
ihm stellen würden.
Aris erkannte an, daß er als Sponsor des Anwärters verpflichtet
war, der Zeremonie beizuwohnen, und es war Li Wynn gegenüber sicher
unfair, ihm diese Zeremonie zu mißgönnen, nur weil Aris sie nie
erlebt hatte. Aber alles in allem hätte er es trotzdem vorgezogen,
im Cockpit seines Spuk zu sitzen und
seine Mechkompanie zu trainieren.
Wenn ich schon träume, warum wünsche ich mir nicht gleich eine baldige Versetzung in die Umstrittenen Territorien oder gleich in die Chaos-Marken? Mag sein, daß die Lage in der Souveränität Sarna als angespannt gilt, aber Action sieht man hier kaum.
Seit Sarna seine Agrarwelt Kaifeng vor kurzem an Haus Hiritsu verloren hatte, war die Souveränität völlig von Nahrungsimporten aus der Konföderation Capella abhängig und gezwungen, ihre gesamte Rüstungsproduktion zu Schleuderpreisen an Haus Liao zu veräußern, das sie anschließend dem Sternenbund weiterverkaufte. Die Mitglieder des Sternenbunds, dieselben Nationen, deren Regierungen zuvor die Unabhängigkeit Sarnas anerkannt hatten, hatten beide Augen zugedrückt, solange Sun-Tzu Liao die Waffenlieferungen für die Offensive gegen Clan Nebelparder aufrechterhalten hatte, und ignorierten die Lage der Souveränität selbst jetzt noch.
Die ›Vereinbarung‹ sah auch die Stationierung einer capellanischen Einheit als Beobachter vor, um sicherzustellen, daß die Sarner ihren Teil der Abmachung einhielten. In den letzten sechs Monaten hatte Haus Hiritsu diese Ehre beansprucht, hauptsächlich als Lohn für seine Verdienste in der Herbeiführung dieser Lage. Aber für Aris und den größten Teil der Hausmitglieder war dies nicht mehr als ein alltäglicher Garnisonsdienst, den sie gezwungenermaßen über sich ergehen ließen, bis der Staat sie wieder beanspruchte. Alle Haus-Krieger wünschten sich, einen aktiven Anteil am Wiedererstarken der Konföderation zu spielen. Selbst Li Wynn, der Aris anvertraut hatte, daß der Xin-Sheng-Aufruf des Kanzlers zu einer ›frischen Anstrengung Capellas‹ ihn veranlaßt hatte, sich um die Aufnahme in Haus Hiritsu zu bewerben. »Wenn das Haus das nächste Mal gerufen wird«, hatte er gemeint, »will ich dabei sein.«
Aris konnte diese Haltung nachfühlen, und in Erinnerung an Li Wynns Hilfe auf Kaifeng hatte er die Bitte des jungen Mannes unterstützt. Wenn es zum Kampf kommt, wird er sich gut schlagen. Aber wie lange wird das noch dauern?
Aris hätte nicht ahnen können, wie bald schon er eine Antwort auf diese Frage erhalten sollte.* * *
Krieger-Anwärter Li Wynn fühlte die Bedeutung der Zeremonie als beinahe körperliche Belastung. Die Zeit der Besinnung, bevor der Haus-Meister ihn nach vorne rief, war schwerer zu ertragen als alle Zeit auf den Straßen Kaifengs, auf der Flucht vor den Behörden oder, unter der capellanischen Besatzung, vor BattleMechs.
Aber zum ersten Mal in seinen einundzwanzig Lebensjahren hatte Li tatsächlich das Gefühl, irgendwo hinzugehören. Und das war es mehr als alles andere, was ihm Kraft gab.
»Der Anwärter darf nähertreten«, rief
HausMeister Non mit völlig neutraler Stimme.
Li Wynn erhob sich in einer fließenden Bewegung. Das zu einem
langen Zopf geflochtene schwarze Haar strich ihm über Nacken und
Schulterblätter. Er bemerkte, wie Ty Wu Non den Blick auf den
oberen Rand des Amphitheaters gerichtet hatte, um auszudrücken, daß
Li Wynn seiner Aufmerksamkeit nicht würdig war und es
wahrscheinlich auch nie sein würde. Aris hatte ihm erklärt, daß
neue Schüler vom Haus-Meister traditionell mit zwölf Jahren
aufgenommen wurden, nicht erst mit einundzwanzig. Aber das
Hausoberhaupt konnte eine Ausnahme
machen. Und auch wenn Non sich schließlich dazu durchgerungen
hatte, das für Li zu tun, durfte der Anwärter nicht damit rechnen,
in absehbarer Zeit tatsächlich von ihm anerkannt zu
werden.
Unter den Augen seiner zukünftigen Kameraden stieg Li Wynn auf die
Bühne und näherte sich Aris Sung. Sein Sponsor zog einen einfachen
Gim-Dolch unter dem Umhang hervor und streckte ihn Li mit der
Schneide voraus entgegen. »Für Verdienste am Hause Hiritsu und an
der Ausdehnung der capellanischen Nation«, erklärte Aris, mehr für
die Zuschauer als für Li, »auf die Planeten Kaifeng, Randar und
Sarna erhält der Anwärter die capellanischen
Bürgerrechte.«
Das war eine beachtliche Ehre. Und Li Wynn war sich dessen bewußt.
Selbst gebürtige Capellaner waren gezwungen, sich auf irgendeine
Weise am Staate verdient zu machen, um die Bürgerrechte zu
erwerben. Für Ausländer lag die Meßlatte noch höher. Li erinnerte
sich noch gut daran, welche Diskussionen Aris hatte durchstehen
müssen, nur damit der junge Mann die Erlaubnis erhielt, Haus
Hiritsu als Diener und gelegentlicher Informant zu
begleiten.
Aris blickte in Li Wynns dunkle Augen. »Wie wirst du der
capellanischen Nation in Zukunft dienen?«
»Auf jede mir mögliche Weise«, antwortete Li voller Überzeugung.
»Als produktives Mitglied der Gesellschaft und, so hoffe ich, als
ein Verteidiger des Reiches. Dies schwöre ich.«
Aris nickte und schenkte Li ein schmales Lächeln. Li legte die Hand
auf die Gimschneide, so daß der Dolch die Haut aufritzte und Blut
austrat. Aris steckte den Dolch zurück. »Infanteriekommandant, ich
schlage dir den Bürger Li Wynn zur Beurteilung vor.« Damit benannte
er Li zum erstenmal als Bürger und potentiellen
Haus-Krieger.
Geduckt, um nicht in Ty Wu Nons Blickfeld einzudringen, trat Li
hinüber vor den Kommandeur des Haus-Infanteriebataillons. Der
große, athletisch gebaute Krieger starrte auf den kleineren Li Wynn
herab. Jessup hatte nicht viel für ihn übrig, das wußte der
Anwärter, aber Haus-Meister Non hatte seiner Aufnahme bereits
zugestimmt. Und der Wille des Haus-Meisters
ist der Wille des Hauses. »In einem Kriegerhaus zu dienen
bedeutet, sowohl dem Staat als auch der Person des Kanzlers zu
dienen«, stellte Jessup fest. »Was verpflichtest du diesem
Dienst?«
Die Frage war anders formuliert, als er erwartet hatte, und Li war
klar, daß Aris diese Änderung arrangiert hatte. Sie entsprach ohne
Zweifel noch der Tradition, aber der Anwärter stockte, bevor er
antwortete, gezwungen, seine vorbereitete Erwiderung zu
überarbeiten. Li Wynn zögerte nur eine Sekunde und zog plötzlich
Kraft aus der Ruhe der natürlichen Umgebung des Amphitheaters. »Ich
verpflichte ihr alles, was ich jetzt bin und alles, was ich noch
werden kann«, antwortete er dann in Abänderung eines
Haus-Hiritsu-Leitsatzes. »Meine Ehre, meine Kraft, mein
Leben.«
Der Infanteriekommandant entrollte Lis Aufnahmeurkunde, die in
chinesischen Ideogrammen die Verpflichtungen Haus Hiritsus
aufführte. Li schmierte auf einer freien Stelle am unteren Rand
sein Blut über das Pergament. Kein sauberer Abdruck, sondern ein
breiter, glänzend roter Streifen. Er stellte fest, daß sein Blut
weder die Verpflichtungen verunreinigte noch über den Rand des
Pergaments tropfte, und hoffte, das als Vorzeichen für einen langen
und ehrbaren Dienst verstehen zu können.
»Haus-Meister Non«, sprach Jessup sein Hausoberhaupt an. »Ich habe
hier einen potentiellen Krieger, der Führung benötigt.«
Li drehte sich halb zum Haus-Meister und konnte die Gesichter aller
drei Männer sehen. An der Spannung in der Haut um die Augen Ty Wu
Nons und dem Lächeln, das um dessen Mundwinkel spielte, erkannte
er, daß eine Überraschung bevorstand. Der Haus-Meister richtete den
Blick auf Aris. »Kompanieführer Aris Sung, indem du diesen Krieger
vorgeschlagen hast, hast du die Verantwortung für ihn übernommen.
Ich mache dich hiermit zu seinem Sifu, damit du ihm als Mentor
helfen kannst, solange Infanteriekommandant Jessup keine Einwände
hat, und befreie dich zu diesem Zweck von deinen sonstigen
Verpflichtungen.«
»Es wäre eine Freude, Aris Sung wieder unter meinem Befehl zu
wissen«, reagierte Jessup augenblicklich. So schnell, daß für Li
kein Zweifel daran möglich war, daß er vorbereitet gewesen
war.
Aris schien mehrere Sekunden lang wie betäubt, und Li erkannte die
Unsicherheit in seinen Augen. Die Stellung eines Haus-Sifus war
ehrenvoll, weil sie mit der Aufgabe verbunden war, jüngere Krieger
in die Traditionen und Künste des Hauses einzuführen. Aber zur
Infanterie zurückversetzt zu werden und den Befehl über seine
BattleMechkompanie zu verlieren, erschien wie eine Degradierung.
Dann erkannte Sung, daß der Haus-Meister auf eine Antwort wartete
und nickte. »Euer Vertrauen ehrt mich, Haus-Meister.«
Li nickte Aris zu, als der Blick seines Sponsors auf ihn fiel, und
hoffte, daß dieser seine Entscheidung nicht bereute. Ich werde Ihr Vertrauen nicht enttäuschen, dachte
er, und versuchte, ihm diesen Gedanken zu übermitteln.
Aris ließ sich keine Antwort anmerken.
Aris Sung und Infanteriekommandant Jessup warteten neben Haus-Meister Non, während die HausInfanterie das Amphitheater verließ. Infanterist Li Wynn folgte den anderen Truppen und verschwand mit einem letzten Blick auf seinen neuen Mentor als letzter über den Rand der Anlage.
Aris wartete geduldig. Er hoffte auf eine Erklärung Ty Wu Nons, erwartete sie sogar, würde sie aber nicht fordern. In den hausinternen Beziehungen Hiritsus spielten die Lehren des K'ung-Fu-Tzu eine zentrale Rolle, und unter diesen vor allem die Gebote der Höflichkeit. Ty Wu Non würde das Thema selbst anschneiden oder darauf verzichten und die Angelegenheit damit für erledigt erklären. Eine leichte Sommerbrise trug Aris den Duft frischer Kiefern zu, und er versuchte, den Augenblick zu genießen, während er auf die Eröffnung seines Hausoberhaupts wartete. Fast wäre es ihm gelungen. Aris hatte gelernt, die Natur um ihrer selbst willen zu genießen, aber es gelang ihr nicht, ihn ganz vom scheinbaren Verlust seiner Kompanie abzulenken.
»Du mußt wütend sein, aber du erweckst den Eindruck von Ruhe. Du verbirgst deine Gefühle gut, Aris Sung.«
Ty Wu Nons Stimme klang spekulativ, aber Aris bezweifelte, daß der Haus-Meister eine Bestätigung erwartete. »Es kann auch bedeuten, daß ich nicht wütend bin, Haus-Meister.« Aris sah sich hilfesuchend zu Jessup um, stieß aber nur auf Schweigen. »Ich bin sicher, daß Eure Beweggründe mir einleuchten werden.«
Der Haus-Meister lachte: ein seltenes Ereignis. »Gut gemacht, Aris. Du forderst mich auf, meine Gründe darzulegen, ohne so impertinent zu werden, mich gezielt danach zu fragen.« Aber seine Belustigung hielt nicht lange an. »Du wirst zurück zur Infanterie versetzt, weil ich dich dort benötige. Unsere neuen Befehle sind eingetroffen.«
Bei dieser Eröffnung horchten Aris und Jessup gleichermaßen auf. Kanzler Liaos jüngste Vorstöße in die Umstrittenen Territorien und die verschärften Kämpfe in der kernwärtigen Region der ChaosMarken hatten bei den meisten Haus-Kriegern Hiritsus die Hoffnung auf einen Kampfauftrag geweckt. Ihr Erfolg bei der Befreiung Kaifengs war sicherlich ein Argument für eine derartige Aufgabe. Aris runzelte die Stirn. Warum zog Meister Non ihn aus seiner Kompanie ab, wenn das Haus in den Kampf zog?
»Wir wurden nicht in die Umstrittenen Territorien versetzt«, ahnte Ty die Frage voraus. »Wir werden als Ehrengarde Kanzler Liaos dienen. Er plant eine ›Goodwill‹-Tour entlang der Konföderationsseite unserer Grenze zum St. Ives-Pakt. Isis Marik wird ihn begleiten.« Er machte eine Pause, wohl, um sich Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. »Auf Necromo und Capricorn III stellen wir die Hauptgarde und werden von der planetaren Miliz unterstützt. Aber auf Relevow und in den darauffolgenden Systemen können wir uns zusätzlich auf McCarron's Armored Cavalry stützen.«
Der Kanzler! Die Implikationen ließen Aris schwindlig werden. Keine Chance auf einen Kampf, nicht, wenn Sun-Tzu es für sicher genug hielt, selbst in Begleitung seiner Verlobten mitzufliegen. Aber die Ehre, die er Haus Hiritsu damit erwies, war kaum zu fassen. »Und nach der Tour...?«
Ty Wu Non war gnädig genug, auf die unbestimmte Frage einzugehen. »Wir sind als Begleitung Kanzler Liaos zur Detroit-Konferenz eingeplant. Aber danach verspricht er uns Kampfeinsätze, so viele wir wollen.«
Es war der Mangel an Kampfeinsätzen, der schon einmal zu Unruhe unter den Kriegern Hiritsus geführt hatte, und die Kaifeng-Operation wäre beinahe daran gescheitert. Es ist, als besäße man einen LiaoHengst und weigerte sich, ihn rennen zu lassen. Aris zitterte vor Erwartung, genau wie es seiner Kompanie ergehen mußte. Dann fiel ihm wieder ein, daß er die Kompanie nicht mehr befehligte, und der Hintergrund für Haus-Meister Nons Entscheidung traf ihn mit der Wucht eines Fausthiebs. »Ich werde Teil der Ehrengarde sein?« fragte er vorsichtig.
Ty Wu Non sah zu Jessup hoch, der ein dünnes Lächeln aufsetzte und seine Zustimmung zum unausgesprochenen Vorschlag des Haus-Meisters ausdrückte. Offenbar hatte Jessup zwar einige Einzelheiten schon vorher erfahren, aber nicht alle. Der ältere Infanterist musterte Aris von oben bis unten, dann fixierte er den jüngeren Krieger mit bedeutungsvollem Blick.
»Du wirst die Ehrengarde leiten«, erklärte er Aris.