7
Landungsschiff Perle der
Wahren Weisheit, Aht'raplar-Raumhafen, Harloc
Kommunalität Sian, Konföderation Capella
Ein leises Erzittern war das einzige Anzeichen, daß die Perle der Wahren Weisheit auf Harloc angekommen war. Der horizontale Landeanflug des aerodynamischen Landungsschiffs beanspruchte mehr Platz auf dem Raumhafen, machte die Landung aber sanfter. Und auch wenn die zweieinhalbtausend Tonnen Raumschiff nicht gerade für federleichte Landungen prädestiniert waren, ließ das Können seines Piloten diese doch erreichbar scheinen. Ein mit anderen Belangen beschäftigter Passagier hätte das Aufsetzen möglicherweise gar nicht bemerkt, bis die Bremsmanöver einsetzten.
Sun-Tzu Liao allerdings bemerkte es. Hinter dem Glas-und-Metall-Schreibtisch seines privaten Bordbüros hatte er darauf gewartet und das Können des Piloten des Landungsschiffs der Lung WangKlasse bewertet, so wie er ständig testete, bewertete und die Loyalität und die Fähigkeiten aller abschätzte, mit denen er in Berührung kam. Es war ein Überlebensinstinkt, den er sich in einundzwanzig Jahren des Lebens im Palast des Himmels angeeignet hatte, bevor er selbst Kanzler geworden war. Er fühlte das leichte Hüpfen und bemerkte die Wellen auf der Oberfläche des leichten Pflaumenweins auf der Sicherheitsglasplatte des Schreibtischs.
Alles in allem gar keine schlechte Leistung. SunTzu hob in Anerkennung des Piloten das Glas, nippte aber nur kurz daran. Genug, um den süßen Nektar zu kosten, aber nicht genug, in ihm das Verlangen nach dem nächsten Drink aufkommen zu lassen. Alles in Maßen.
Alles zu seiner Zeit. Eine Übung in Geduld, wie
so viele der kleinen Rituale, die seinen Tag ausfüllten.
Geduld.
Etwas, wovon Lord Marcus Baxter mehr gebrauchen konnte, dachte
Sun-Tzu, als er durch halb geschlossene Augen das Unbehagen seines
Gastes bemerkte. Der ältere Mann saß auf einem vor dem Schreibtisch
am Deck befestigten Stuhl. Das weiche Sitzkissen schien bequem
genug, Stunden darauf auszuharren, aber die Rückenlehne aus
geripptem Hartholz zwang den Sitzenden, sich vorzulehnen und der
Person auf der anderen Seite des Schreibtischs aufmerksam
zuzuhören. Der neue Lordoberst saß vorgebeugt auf seinem Platz,
spielte mit den Kampagnenbändern an seiner Ausgehuniform und zupfte
gelegentlich am Saum seiner Jacke. Das dunkle Haar mit den
stahlgrauen Strähnen, die zerklüfteten Gesichtszüge und die an
einen Paradeplatz erinnernde Formalität in beinahe allem, was er
tat, kennzeichneten ihn als einen Mann, der keineswegs zu rastlosem
Zappeln neigte.
Der Kanzler ging nicht davon aus, daß Baxters Ungeduld auf
Nervosität oder Unbequemlichkeit beruhte. Baxter war ein Janshi,
ein Krieger. Und wie ein Jagdhund zerrte er an der Leine, fieberte
der Schlacht entgegen, in der das Können im Cockpit eines
BattleMechs über Ausgang und Lob entschied, nicht politische
Manöver. Aber die Anwesenheit eines Cavalry-Regiments auf Harloc
erforderte die Anwesenheit des neuernannten capellanischen Lords.
»Warten hat noch niemandem geschadet«, murmelte Sun-Tzu. Es war
einer seiner Lieblingsgrundsätze.
Baxter sah auf. »Habt Ihr etwas gesagt, Kanzler Liao?«
Sun-Tzu lächelte dünn. »Wenn der zuschlagende Falke das Genick
seiner Beute bricht, gelingt ihm das, weil er den richtigen
Zeitpunkt gewählt hat.«
Baxters antwortendes Lächeln war eine Mischung aus Amüsement und
Verwirrung. »Ihr habt euch doch nicht etwa angewöhnt, Jerome Blake
zu zitieren, Kanzler Liao?«
Jetzt runzelte der Kanzler die Stirn, wenn auch nur leicht.
»Weisheit findet sich noch in anderen Quellen, selbst wenn Blakes
Wort etwas anderes predigt«, erwiderte er, ein wenig unsicher, ob
Baxter versucht hatte, witzig zu sein. »Ich muß Ihnen eine Ausgabe
der Kunst des Krieges zukommen lassen.«
»Ah, ja.« Baxter nickte. »Greife den Feind mit der Flinkheit an,
mit der ein Falke seine Beute schlägt. Er bricht ihr mit Sicherheit
das Genick, weil er auf den richtigen Augenblick wartet, bevor er
zuschlägt.« Der Lordoberst breitete entschuldigend die Arme aus.
»Ich benutze eine Übersetzung.«
»Gleichgültig nach welcher Version, ich habe zur Geduld geraten«,
stellte Sun-Tzu beruhigt fest. Er wartete auf Baxters verstehendes
Nicken, dann deutete er auf die kleine Bar des Büros, die für den
Raumflug verschlossen war. »Nehmen Sie sich eine Erfrischung, Lord
Baxter. Jetzt, da wir gelandet sind, muß ich mich erst um eine
Kleinigkeit kümmern.«
Der Kanzler drückte auf eine Ecke des Schreibtischs. Unter dem Glas
wurde eine Sensortastatur sichtbar, und er tippte ein paar einfache
Befehle ein, die ein Aufnahmeprogramm starteten. Ein gedämpftes
rotes Licht erschien am oberen Rand des Schreibtischs und zeigte
an, daß die ebenfalls unter dem Glas versteckte Holokamera
aktiviert war.
»An Archon Katrina Steiner-Davion von der Lyranischen Allianz vom
Ersten Lord Sun-Tzu Liao«, begann er in formellem Ton und machte
eine kurze Pause, um seinem Titel das volle Gewicht zu verleihen.
Dann wurde seine Stimme freundlicher. »Ich grüße Sie und Ihre
Nation.« Nach ihrer Unterredung auf Tharkad zwei Jahre zuvor konnte
er Katrina gegenüber zumindest einige der Affektiertheiten ablegen,
die er bei anderen vortäuschte. Aber natürlich auch nicht alle. »Es
hat mich sehr beunruhigt«, log er, »als ich Ihre Botschaft vom 10.
September erhielt, in der Sie Ihre deutlichen Ansichten über die
Ereignisse zum Ausdruck bringen, die sich auf dem Gebiet der alten
Freien Republik Tikonov abspielen.« Er verzichtete bewußt darauf,
von der alten Kommunalität Tikonov zu sprechen, die Hanse Davion
der Konföderation im 4. Nachfolgekrieg abgenommen hatte. »Solche
Beschwerden hätte ich von Ihrer Schwester Yvonne erwartet, die
meines Wissens nach noch auf dem Thron New Avalons sitzt, auch wenn
ich ihre...« Er machte eine Pause. Sein Mund wirkte hart, aber
seine Augen lächelten. »...Interessen verstehe.«
Jetzt machte Sun-Tzu eine längere Pause, um Katrina Gelegenheit zu
geben, sich nach ihrer - dessen war er sich sicher - wütenden
Reaktion auf seine Erinnerung daran zu beruhigen, daß sie noch
nicht das gesamte Vereinigte Commonwealth regierte. Er nahm sein
Glas und gestattete sich einen weiteren kleinen Schluck des
fruchtigen Weins, bevor er es zurückstellte und gelassen die weiten
Ärmel seiner Seidenrobe zurechtzupfte.
Dann sprach er weiter. »Lassen Sie mich offiziell versichern, daß
diese Bewegung Freies Tikonov, die in letzter Zeit auf den
Nachrichtennetzen von sich reden macht, in keinster Weise Teil
einer koordinierten Anstrengung meiner Konföderation darstellt, die
alte Kommunalität Tikonov zurückzugewinnen. Obwohl dieses Gebiet
innerhalb der Grenzen meines Reiches von vor 3025 liegt, sind meine
Interessen anderenorts besser aufgehoben. Sie brauchen nicht damit
zu rechnen, daß in absehbarer Zukunft capellanische Einheiten dort
landen. Wenn Sie also den Rat des derzeitigen Ersten Lords des
Sternenbundes suchen, würde ich Ihnen empfehlen, den Berichten über
die Bewegung Freies Tikonov nicht mehr Glauben zu schenken als den
Berichten über politische Unruhen, die in jüngster Zeit von einer
Vielzahl Welten des Vereinigten Commonwealth eingehen.«
Und das, Katrina, ist meine Antwort auf deinen
kaum verhüllten Befehl, Tikonov in Ruhe zu lassen. Ja, ich werde
das Gebiet weiter destabilisieren, aber diese Unsicherheit können
wir beide zu unserem Nutzen verwenden. Sun-Tzu war sicher,
daß sie es dabei bewenden lassen würden, solange er aktuell keine
offenen Anstalten machte, die TikonovSysteme zu beanspruchen. Und
der Hinweis auf ihre kleine Unterredung auf Tharkad, in der Katrina
effektiv ihren Anspruch auf die Systeme auf der capellanischen
Seite der Grenzen von 3025 aufgegeben hatte, sollte als zusätzliche
Erinnerung an ihre Übereinkunft dienen.
Aber Sun-Tzu wußte auch, daß er sie mit jeder subtilen Botschaft in
der schmeichelnden Sprache des Politikers daran erinnern mußte, daß
er sehr wohl unangenehm werden konnte, wenn er den widerwilligen
Respekt nicht verlieren wollte, den er ihr auf Tharkad abgerungen
hatte. »Aber nun muß ich mich anderen Angelegenheiten zuwenden, die
meine unmittelbare Aufmerksamkeit erfordern, Archon, und
verabschiede mich. Ich weiß, Sie werden die Zwischenfälle in
Tikonov zu Ihrem Vorteil zu nutzen wissen. Schließlich war es Ihr
nobler Vater, der verkündet hat«, Sun-Tzu lächelte ein wenig, als
er aus dem Gedächtnis zitierte: »Das Vereinigte Commonwealth fühlt
sich verpflichtet, politische Freiheit und das Recht jedes
Einzelnen zu unterstützen, sein Schicksal selbst zu
bestimmen.«
Damit wischte Sun-Tzu mit dem Glas über den Abschaltsensor. Selbst
wenn sie nicht gleich mit irgend etwas nach dem Schirm warf, würde
Katrina Steiner-Davion ihm nicht mehr zuhören, nachdem er Hanse
Davions Worte gegen sie benutzt hatte. Erst recht wenn sie,
schlimmer noch, erkannte, daß er als Erster Lord derlei Aussprüche
veröffentlichen und Hanses Zitat zu einem pro-capellanischen Slogan
verdrehen konnte. Was im übrigen gar keine schlechte Idee
war.
Lordoberst Baxter, der schweigend zugehört hatte, nickte
anerkennend. Er mochte das Schlachtfeld der Politik vorziehen, aber
es schien, daß er durchaus in der Lage war, ein gutes Spiel auf der
anderen Seite des Grabens anzuerkennen. »Das dürfte reichen, sie
nachdenklich zu machen.« Er nahm einen guten Schluck Timbiqui
Dunkel. »Solange wir dadurch vor ihr Ruhe haben...«
Sun-Tzu gestattete sich einen gesunden Zug der süßen dunklen
Flüssigkeit in seinem eigenen Glas, dann stellte er es beiseite und
nahm sich vor, es nicht mehr anzurühren, bis er Baxter
verabschiedet hatte. Er ließ sich in die Polster seines Sessels
sinken, verschränkte die Hände auf dem Bauch und sah zur Decke.
»Über ihre Einmischung habe ich mir nie Sorgen gemacht«, gab er zu.
»Tikonov ist ein langfristiges Spiel, und ich habe nur meine
Position verbessert. Katrina wird früh genug reagieren. Und solange
sie Yvonne das Leben schwer macht, kann das unserer Sache nur
nützen.«
Beide Männer schwiegen. Sun-Tzu zwang sich zur Ruhe und hoffte
dadurch, voreilige oder unvernünftige Urteile abzuwenden, die
seinen großen Plan scheitern lassen konnten. Alles verläuft nach Plan, aber der Preis muß noch bezahlt
werden. Dann wurde Baxter wieder unruhig. Der Kanzler
seufzte und sah zu seinem Gast hinüber. »Haben Sie zu Ihren letzten
Befehlen etwas anzumerken?« fragte er.
Baxter schüttelte den Kopf. »Nein, Kanzler Liao. Mein
Nachtreiter-Regiment wird sich an den Garnisonsdienst auf Kaifeng
gewöhnen, und solange die Leute ein paar Vorstöße in
Bataillonsstärke ins Gebiet der Umstrittenen Territorien machen
können, werden sie es zufrieden sein. Ich plane, sie auf Wei
anzusetzen, Eure Erlaubnis vorausgesetzt, versteht sich.«
»Nur zu«, nickte Sun-Tzu knapp. »Die Umstrittenen Territorien
binden zu viel Kraft, die wir bald in den Chaos-Marken und anderswo
benötigen werden.« Er pausierte und musterte den neuesten Adligen
seines Reiches. »Wir gehen unsicheren Zeiten entgegen, Lordoberst,
und ich muß sicher sein, daß Sie Ihre Leute unter Kontrolle haben.
Sie müssen sie zurückhalten, bis wir ihre Energie gegen das
richtige Ziel einsetzen können.«
Baxter stellte sein Bier ab und fletschte die Zähne. »Keine Angst,
mein Kanzler. Die Nachtreiter werden Euch Wei liefern, und der Rest
wird sich von selbst vorbereiten. Und wenn wir zuschlagen, werden
wir unserer Beute das Genick brechen.«
Raumhafen Xin Singapur, Indicass Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt
Die Landung auf Indicass war Routine, aber die Fahrt über das weite Landefeld des Raumhafens von Xin Singapur fand Cassandra interessant. Rubinskys Leichte Reiter, ihrer Mutter zufolge das weniger unsichere Regiment von Chorsachows Kosaken, hatten den alten Kontrollturm und die dazugehörigen Verwaltungsgebäude als Stützpunkt requiriert. Mit ihrer Lage am äußersten Südrand des Landefelds, während die neuen Gebäude auf der Westseite lagen, blieben die Söldner in direktem Kontakt mit dem planetaren Verteidigungsnetz und in der Nähe ihrer Landungsschiffe, zwei strategische Gesichtspunkte, deren Beachtung Cassandra beindruckte. Außerdem hatte Colonel Rubinsky eine kleine Begrüßungszeremonie organisiert, um die Fahrt aufregender zu machen.
An der Rampe des Overlord, der ihr Bataillon vom Sprungschiff auf den Planeten gebracht hatte, war sie von Rubinskys erster Eskorte erwartet worden. Es war ein brandneuer Kosak, in einem matten Rostrot lackiert, mit dem Einheitsabzeichen der Söldnereinheit, einem russischen Kosaken hoch zu Roß, der einen brennenden Säbel schwenkend aus einem goldenen Vollkreis hervorpreschte, auf dem rechten Torso. Der Kosak war ein neuer leichter Mechtyp, der erst seit diesem Jahr von den Bändern der Ceres-MetallFabriken auf Warlock lief. Als Auszeichnung für die Integrität von Chorsachows Kosaken und ihrem Einsatz für die Freiheit des St. Ives-Pakts hatte ihre Mutter das neue Modell Kosak getauft und Rubinskys Leichten Reitern eine Lanze zukommen lassen. Cassandra war überzeugt davon, daß die Leichten Reiter diese Gelegenheit dazu benutzten, dem Pakt für diese erstaunliche Auszeichnung zu danken.
Der Kosak begleitete ihre kugelsichere Avanti- Luxuslimousine fünfhundert Meter weit, bevor er mit Paradeplatzpräzision abschwenkte, als ein alter, aber immer noch kampfbereiter Feuerfalke die Eskorte für den nächsten halben Klick übernahm. Mit der zweiten Übergabe fand sie sich in der Gesellschaft eines neuen Clint, komplett mit 3U-Ausstattung, bei der die alte Autokanone und die mittelschweren Laser von einer Partikelprojektorkanone und Impulslasern ersetzt wurden.
Der BattleMech lief voraus, als sie sich dem Hauptgebäude näherten, und nahm neben dem Eingang des Verwaltungsgebäudes Aufstellung. Zwei MechKrieger in Kosakenuniform öffneten den Wagenschlag und begleiteten Cassandra ins Innere des Bauwerks. Das Schauspiel vermittelte Cassandra ein Gefühl völliger Sicherheit, zugleich aber auch eine leichte Ahnung, nicht mehr ganz Teil des einunddreißigsten Jahrhunderts zu sein.
Colonel Marko Rubinsky empfing sie an der Tür seiner Kommandozentrale, der ehemaligen Crewlounge für Landungsschiffsbesatzungen.
»Majorin Allard-Liao«, begrüßte er sie förmlich mit steifer Verbeugung, die Hände im Rücken verschränkt. Der Colonel hatte stahlgraues Haar und einen kurzen, sauber gestutzten Bart. Seine blauen Augen blickten scharf und aufmerksam, und sein Körperbau wirkte für einen Mann von Ende Fünfzig bemerkenswert athletisch.
»Colonel«, erwiderte sie. »Ein interessantesSchauspiel.«
»Alte Kosakensitte.« Rubinsky lächelte dünn. Sein
slawischer Akzent war schwer, aber herzlich. »Besucher wurden
grundsätzlich von einer Stafette von Geleitreitern ins Lager
gebracht.«
Der Söldneroffizier bat sie herein. Im Innern der
Zentrale herrschte eine entspannte Atmosphäre. Die
taktischen Konsolen und Computerschirme waren
dunkel. An einer Seite standen mehrere Sofas und
Sessel um einen breiten, niedrigen Tisch, an dem
zwei andere Männer saßen. »Mein Stellvertreter«,
stellte Rubinsky den älteren der beiden, einen Mann
mit glänzend schwarzem Haar und Mandelaugen vor.
»Lieutenant Colonel Raymond Li Tran.«
Er wartete, bis beide sich erhoben hatten und
Tran Cassandra die Hand reichte, bevor er dem Jüngeren zunickte,
der Rubinskys verwitterte, aber angenehme Züge teilte. »Mein Sohn
Tamas, ein Captain in der 2. Kompanie.« Tamas verbeugte sich, einen
Arm auf dem Rücken, den anderen vor dem
Bauch.
Cassandra lächelte, dann nahm sie lachend Platz.
»Tut mir leid, aber Sie überraschen mich. Eigentlich
hatte ich erwartet...« Sie verstummte. Plötzlich fühlte
sie sich fehl am Platz. Sie hatte erwartet, augenblicklich das
Kommando über eine kritische Lage übernehmen zu müssen. Statt
dessen erlebte sie einen
charmanten Empfang durch diesen höflichen Offizier
und dessen Begleiter.
»Was vorzufinden?« fragte Rubinsky, die linke
Augenbraue ironisch hochgezogen. »Einen tollwütigen Mob, wild
darauf, einen Aufruhr vom Zaum zu
brechen?« Die drei Männer setzten sich, und Tamas
schüttete eine klare Flüssigkeit in vier Schnapsgläser.
Dünne, frostige Dunstfäden stiegen aus den Gläsern
auf.
»Ich befürchte, ja«, gab Cassandra zu und gewann
ihre Fassung wieder. Gleichgültig, wie freundlich sie
aufgenommen wurde, sie war hier, um das Kommando zu übernehmen.
»Die Spannungen entlang
der Grenze haben zugenommen, und ich soll bis auf
weiteres mein Bataillon mit Ihrem Regiment koordinieren.«
»Wodka?« fragte Tamas und schob ihr eines der
Schnapsgläser zu.
Cassandra nahm es. »Bitte.« Sie wartete, bis die
drei Männer ihr zugeprostet hatten, dann kippte sie
den Schnaps. Der Wodka war eiskalt und ließ ihre
Kehle gefrieren, bevor er sich den Weg in ihren Magen brannte.
»Wie...«, setzte sie an, und mußte Atem
schöpfen, bevor sie es noch einmal versuchen konnte. »Wie sieht es
mit Indicass' Verteidigung aus?« Colonel Rubinsky nickte Li Tran
zu, und dieser
ergriff das Wort. »Herzogin Liao hat unser 1. Regiment nach St
Loris verlegt, aber die Leichten Reiter
sind noch hier, zusammen mit zwei Panzerbataillonen der Heimatmiliz
und der Miliz-Infanterie. Mehr
als genug, um diese Welt zu sichern. Selbst«, fügte er
nach ein paar Sekunden hinzu, »bei ständiger Bewachung für
Ceres-Metall.«
Die Ceres-Metall-Fabrik auf Indicass stellte mehrere
Panzerfahrzeugbaureihen her. Ein wichtiger Zulieferer für die
Paktstreitkräfte, und es konnte kein
Zweifel daran bestehen, daß man dort lautstark
Schutz forderte. »Sonst nichts?« fragte sie.
Tamas schüttete eine neue Runde ein. »Wir wurden vor zwei Tagen
informiert, daß das 3. Bataillon
der 1. St. Ives Chevau Legers unterwegs ist.« Sein
Akzent klang weicher als der seines Vaters und sehr
angenehm. »Indicass war einige Zeit sein Garnisonsstützpunkt, bevor
es für den SBVS-Angriff auf die
Nebelparder abkommandiert wurde.« Er stockte,
dann fügte er leise hinzu: »Soweit ich das feststellen
kann, sind die Legers die einzige St.-Ives-Einheit, die
bis jetzt zurückgekehrt ist.«
Cassandra schenkte Tamas für dessen Taktgefühl
ein Lächeln und nickte. »Ich bin sicher, den 1. St.
Ives-Lanciers unter dem Befehl meines Bruders geht
es gut«, und sie hatte tatsächlich keinen Zweifel daran, daß dem so
war. »Die Clans haben schon lange
ihr Bestes getan, Kai zu erledigen, und er kommt
immer durch.« Auch wenn er sich jetzt zum
erstenmal in die Höhle des Löwen wagt. Das Nicken
der
Söldner zeigte ihr, daß sich ein Hauch von Besorgnis
in ihre Stimme geschlichen hatte. Sie setzte ein Lächeln auf und
bekräftigte mit sichererem Ton: »Er
kommt immer durch.«
Colonel Rubinsky hob sein Glas, die blauen Augen hart, das Kinn
entschlossen vorgereckt. »Auf die
Hoffnung, daß das für die ganze Familie gilt.« Er
kippte seinen Wodka mit geübter Drehung des
Handgelenks. »Majorin Allard-Liao, die Leichten
Reiter stehen zu Ihrer Verfügung.«
Cassandra stimmte in den Trinkspruch ein, dann
machte sie sich an eine detailliertere Untersuchung
der verfügbaren Mittel der Leichten Reiter. Hier war
kein Platz für Zeremonien oder politische Spiegelfechtereien. Kein
Nachschlagen im Kleingedruckten
der Söldnerkontrakte. Mit einem einfachen Trinkspruch unter
Kriegern war der Befehl an sie übergegangen. Obwohl sie wie jeder
reguläre Militär ihre
Bedenken hatte, was Söldner betraf, mußte Cassandra eingestehen,
daß ihr die Art gefiel, wie Rubinskys
Leichte Reiter ihre Angelegenheiten regelten.