27. KAPITEL

 

Es dauerte etwa zehn Minuten, dann bog Billy in einen alten staubigen Weg ein. Der Wagen hüpfte über alte trockene Wurzeln, und sie versuchte zu verhindern, dass Cody von seinem Sitz rutschte. Sie wand sich beim Gedanken an den verwundeten Phil, der im Kofferraum durchgeschüttelt wurde.

Mehrmals versuchte sie, mit Billy zu sprechen, sogar, ihn nach Sasha zu fragen, aber er reagierte einfach überhaupt nicht.

Cody stöhnte. »Was ist los?« Er rieb sich den Hinterkopf und sah Heather wütend an. »Hast du mich geschlagen?«

»Nein. Billy war es.«

Cody sah sich verwirrt im Polizeiwagen um. »Kommen wir ins Gefängnis?«

»Schön wär’s.« Das Gefängnis war in der Stadt, und dort waren Menschen.

Der Wagen kam vor etwas zum Stehen, das wie ein alter, von Unkraut überwucherter Garten aussah. Eine alte Steinmauer schloss das Grün ein. Einige Mauerteile waren umgefallen und zerbröckelt.

»Das kommt mir bekannt vor.« Heather legte eine Hand über die Augen, um sich vor dem blendenden Licht der untergehenden Sonne zu schützen. Dort, in der Ferne, stand eine alte, steinerne Kapelle. Sie hielt den Atem an. Von ihr musste Fidelia geträumt haben.

Billy stieg aus, öffnete die Tür und richtete seine Waffe auf die beiden. »Raus!«

Heather stieg sehr langsam aus dem Wagen. Ihre Überlebenschancen würden sich stark erhöhen, wenn sie es bis zum Sonnenuntergang schaffte. Sobald die Sonne untergegangen war, würden Jean-Luc und seine Vampirfreunde ihnen zu Hilfe kommen.

Cody kletterte aus dem Wagen. »Was zum Henker machst du da, Billy?«

Der Sheriff zeigte auf die Kapelle. »Geht, los!«

»Du hörst von meinem Anwalt«, knurrte Cody.

Billy hob seine Pistole, bis der Lauf auf Codys Gesicht gerichtet war.

»Okay! Ich gehe ja schon!« Cody stapfte durch das Unkraut.

»Langsamer«, flüsterte Heather. Sie sah sich nach Billy um. Sein Gesicht war immer noch ausdruckslos.

Jetzt erinnerte sie sich wieder an den Ort. Als junges Mädchen hatte sie hier mit ihrer Familie oft Picknicks gemacht. Sie mussten immer früher gehen, weil ihre Mutter Angst hatte, dass das alte Gebäude über ihnen zusammenbrechen könnte.

Du hast der Angst den Krieg erklärt, erinnerte sie sich selbst. Sie musste ruhig bleiben und nach günstigen Gelegenheiten Ausschau halten.

»Hier stecken ein paar schöne Erinnerungen drin, was, Billy?« Cody sah zum Sheriff zurück. »Erinnerst du dich, als wir die zwei Cheerleader hier hatten?«

Billy antwortete nicht.

»Hier haben wir während der Highschool am liebsten geparkt«, erklärte Cody Heather. »Hat Billy dich nie hergebracht?«

»Nein.« Also musste sie Billy während der Schulzeit betrogen haben. Das war kaum überraschend, da er ja nur mit ihr ausgegangen war, um in Sashas Nähe sein zu können. »Billy, wo ist Sasha? Was hast du mit ihr gemacht?«

»Sasha!« Cody schnaufte. »Mann, die war auch hier, hat jeden Samstag rumgeknutscht. Wir konnten nie bei ihr landen, was, Billy?«

»Was tust du da?«, flüsterte Heather.

»Ich versuche, ihn daran zu erinnern, dass wir alte Freunde sind«, zischte Cody.

»Er hat dir die Freundschaft gekündigt, als du mich geheiratet hast«, erinnerte Heather ihren Ex.

»Ja.« Cody sah sie mit wutverzerrtem Gesicht an. »Das ist alles deine Schuld.«

Sie erreichten die hölzernen Flügeltüren der Kapelle. Heather warf einen Blick auf die Sonne. Sie reichte nur noch ein kurzes Stück über den Horizont und schickte ihre letzten goldenen Strahlen durch die Lücken einer Baumreihe. Der Himmel im Westen war rosafarben, aber im Osten bereits dunkel, und ein voller Mond ging auf.

»Rein da«, befahl Billy.

Cody drückte gegen die rechte Tür, die mit einem lauten Knarren aufging. Nacheinander betraten sie die Kirche. Heather ging Billy aus dem Weg, als er ihnen hinterherkam und die Tür hinter sich zuwarf.

Die Luft in der Kirche war kühl und moderig. Die Decke erhob sich weit über ihnen. Ein Bereich hinter dem Altar war zusammengebrochen. Dort befand sich im Dach ein Loch. Die obere Hälfte des aufgehenden Mondes kroch in die Lücke und beleuchtete den Altar, der darunter lag.

Dieser Altar war nichts weiter als ein langer Holztisch, vernarbt von Jahren des Missbrauchs. Besucher hatten ihre Namen eingeritzt. Teenagerpaare hatten Herzen mit ihren Initialen hineingekratzt. Drei Säulenkerzen standen eng zusammen in einer Ecke.

An den Wänden waren die Fensterscheiben eingeschlagen. Die langen Bogenfenster dienten jetzt als Durchgang für die Vögel, die in den hohen Dachbalken nisteten.

Nahe beim Eingang, im Hauptschiff der Kapelle, führte eine alte Treppe hinauf in eine schiefe hölzerne Empore für den Chor. Darunter war die Kapelle in Dunkelheit gehüllt. Heather bemerkte, dass sich im Schatten unter der Treppe etwas bewegte.

Sasha trat in das schwache Licht. »Willkommen.« Ihre Augen waren glasig und in die Ferne gerichtet, ihre Haut tödlich blass, und sie schien dünner als je zuvor. Eine Welle der Wut erfasste Heather. Louie trank von Sasha. Er kontrollierte sie nicht nur, er brachte sie um!

»Sasha!« Heather trat auf sie zu. »Du musst dagegen ankämpfen. Er bringt dich sonst um.«

Sie blinzelte. »Er liebt mich.«

»Nein! Wach auf!« Heather streckte die Hand nach ihr aus und wollte sie kräftig schütteln.

»Zurück.« Billy richtete seine Pistole auf sie.

»Er hat euch beide unter seiner Kontrolle.«

»Was zum Teufel...« Cody drehte sich zu Heather um. »Wer kontrolliert sie?«

»Louie«, antwortete Heather.

»Henry.« Sasha seufzte wohlig.

»Henry?«, fragte Heather.

»Henry«, wiederholte Billy wie ein Roboter.

»Wer ist Henry?«, fragte Cody.

»Es ist Louie«, erklärte ihm Heather.

»Mann!« Cody schüttelte den Kopf. »Ihr seid doch alle verrückt.«

»Henry ist letzte Nacht gekommen, um mich aus dem Gefängnis zu retten«, flüsterte Sasha. »Er hat auch Billy gerettet.«

»Wer zum Henker ist Henry?«, wollte Cody noch einmal wissen.

»Er ist ein Mörder«, flüsterte Heather.

»Stellt euch drüben an die Mauer«, befahl Billy ihnen.

Ganz langsam befolgte Heather den Befehl.

»Warum will dieser Henry uns umbringen?«, rief Cody. »Ich schulde ihm kein Geld.«

Billy warf Cody ein Seil zu. »Fessel sie.«

»Warum? Damit du uns umbringen kannst?«, schrie Cody ihn an. »Warum sollte ich irgendetwas tun, was du sagst?«

Billy feuerte seine Pistole ab. Die Kugel traf eine Steinplatte zu Codys Füßen. Der Fels zersprang zu einem Nebel aus winzigen Kieseln.

»Schon gut!« Cody marschierte zu Heather.

»Setz dich!« Billy richtete die Pistole auf sie.

Sie ließ sich mit dem Rücken langsam an der Steinwand hinabgleiten. Ihr Herz klopfte wie Donnerschlag und hallte in ihren Ohren.

Cody hockte sich vor sie hin und fesselte ihre Knöchel. »Was hat dieser Henry verdammt noch mal gegen uns?«

»Er will mich umbringen.«

»Verdammt, ich hätte wissen müssen, dass das deine Schuld ist.« Cody schlang das Seil um ihre Handgelenke und richtete sich dann auf. »Du blöde Schlampe, wegen dir werde ich auch noch umgebracht, verdammt!« Plötzlich erstarrte er und fiel zu Boden.

Sein Körper zuckte. Dann drehte er sich auf allen vieren. »Ich bin eine Schabe!« Er kroch in den Schatten bei der Treppe.

»Halt ihn auf!«, schrie Sasha.

Billy schoss.

»Nein!«, rief Heather und wehrte sich gegen die Seile.

»Ich bin eine Schabe!«, quietschte Cody aus dem Schatten.

Noch einmal drückte Billy ab. Auf der Treppe raschelte es.

Er stieg hinauf in die alte Chorempore. Heather schüttelte sich. Dort oben konnte es nicht sicher für ihn sein. Natürlich war es das hier unten auch nicht.

Sie konnte Codys dunkle Umrisse kaum erkennen, als er durch die Chorempore huschte. Billy zielte und feuerte. Cody sprang auf und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Billy schoss noch einmal.

Entsetzt sah Heather zu. Es war wie beim Entenschießen auf dem Rummelplatz.

In dem Moment erfüllte ein lautes Heulen die Luft. Billy hörte auf zu schießen und lauschte.

Heather hielt den Atem an. Sie hatte noch nie gehört, wie ein Hund oder ein Coyote so laut geheult hatte. Das Geräusch war ohrenbetäubend. Es musste von einer sehr großen Kreatur kommen.

»Was war das?«, flüsterte Sasha.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Billy. »Klingt, als wäre es nah dran.«

Heather schreckte zusammen, als sie ein lautes Geräusch im Hof vernahm. Es klang, als würde Metall auseinandergerissen.

In der Kapelle wurde es dunkler. Die Sonne musste untergegangen sein. Das einzige Licht kam jetzt von den Sternen und dem vollen Mond, der durch das Loch im Dach hereinschien.

Billy und Sasha erstarrten und wendeten sich zum Altar.

»Der Meister erwacht«, flüsterte Sasha. Sie eilte an den Altar und nahm eine Streichholzschachtel vom Tisch. Dann zündete sie die drei Kerzen an.

Billy legte seine Pistole auf den Tisch. Einige Schritte dahinter beugte er sich vor und hakte seine Finger in einen großen Metallring, der in den Boden eingelassen war. Er zog daran, und eine hölzerne Tür öffnete sich mit einem lauten Knarren.

Eine in Schwarz gehüllte Kreatur schwebte durch die Öffnung im Boden bis hinauf in das Loch im Dach. Mondlicht umspielte ihn wie ein silberner Heiligenschein. Heather konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie spürte, wie er sie ansah.

Sie zuckte zusammen, als Billy die Kellertür zuwarf.

Der Vampir Louie schwebte zu Boden. Sein Haar war nicht länger weiß, sondern schwarz wie sein Trenchcoat. Er mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein, schätzte Heather, aber sie wusste, dass er wahrscheinlich weit über fünfhundert zählte.

Billy und Sasha verbeugten sich. »Meister.«

»Ihr habt mir Jean-Lucs neueste Hure gebracht«, sagte Louie ruhig. »Sehr gut.« Er sah hinauf in die Empore. »Und ihr habt mir noch einen Sterblichen gebracht.«

Cody kroch zurück in die Schatten.

»Er wird mich amüsieren, ehe er sterben muss.« Louie wendete sich an Heather.

So kalte schwarze Augen hatte sie noch nie gesehen. In diesem schrecklichen Moment wurde ihr klar, dass alles Menschliche aus ihm gewichen war. Er war einfach zu einer Kreatur geworden, die sich von Menschen ernährte.

Er trat auf sie zu. »Erlaubt mir, dass ich mich vorstelle. Ich bin Henri Lenoir.« Seine Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. »Ihr werdet nicht lange genug am Leben sein, um Jean-Luc davon zu berichten. Das bleibt unser kleines Geheimnis.«

Mit angezogenen Knien verbarg sie ihre Hände in ihrem Schoß. Cody hatte sie nicht sehr gut gefesselt, deshalb konnte sie sich vielleicht befreien. Fürs Erste war es am besten, Louie einfach reden zu lassen. Das würde Jean-Luc und seinen Freunden mehr Zeit geben, sie zu finden. Und es würde ihr mehr Zeit geben, ihre Hände zu befreien. »Warum hassen Sie Jean-Luc so sehr?«

Louie zog seine schwarzen Lederhandschuhe aus und steckte sie in die Tasche seines Trenchcoats. Seine Hände waren blass, seine Fingernägel lang und schwarz lackiert. »Casimir hat mir ein kleines Vermögen geboten, damit ich Jean-Luc umbringe. Und ich bekomme seine Position als Zirkelmeister von Westeuropa, wenn Casimir erst an die Macht kommt.

Diese Belohnung ist groß für eine so kleine Tat. Aber zuerst will ich, dass Jean-Luc leidet. Deshalb bist du hier. Ich werde dich ohne Entlohnung umbringen.«

»Was, wenn ich Sie bezahle, um nicht zu sterben?«

Einer seiner Mundwinkel zuckte. »Du amüsierst mich, aber ich bezweifle, dass du es dir leisten könntest.« Er betrachtete sie eingehend mit seinen schwarzen Augen. »Außerdem bereitet es mir Freude, Frauen wie dich umzubringen.«

Ihr Magen zog sich zusammen.

»Ich habe vor, es langsam zu tun.« Er trat näher. »Du scheinst nicht sehr viel Angst zu haben.«

War es das, was er wollte? Wollte er sie weinen und betteln sehen? Natürlich hatte sie Angst, aber sie würde ihm nicht die Freude machen, das auch zu zeigen. Sie hob stur ihr Kinn und starrte ihn wütend an.

»Ich werde dich natürlich vergewaltigen, während ich von dir trinke. Das trifft Jean-Luc noch mehr.«

Ihr Magen rebellierte, und sie musste schlucken, als ihr die Galle in die Kehle stieg. Vergewaltigung würde sie selbst noch viel mehr treffen, aber das war Louie offensichtlich egal. Es war nur eine Art, auf die man Jean-Luc Schaden zufügen konnte. Sie hatte keinen weiteren Wert. Nichts, mit dem man handeln konnte.

»Ich bin jetzt vollkommen ausgezehrt.« Louie ging gemächlich zurück an den Altar. »Ich muss meinen Appetit beschwichtigen. Ich würde dich nur ungern aus Versehen zu schnell umbringen.«

Ein unerträgliches Gefühl des Verlorenseins überkam Heather. Sie würde es nicht schaffen, sich aus dieser Lage zu befreien. Sie zerrte an den Seilen.

»Komm, meine Liebe.« Louie hob eine Hand in Sashas Richtung.

Sie eilte zu ihm. »Ja, Meister.«

Er führte sie zum Altar und schob ihren Ärmel hoch. Voller Schrecken bemerkte Heather die vielen Einstichwunden an Sashas Arm.

Sasha legte sich auf den Tisch zurück, den Kopf nahe bei den Kerzen. Louie beugte sich vor und leckte die Innenseite ihres Handgelenks.

Heather wendete sich ab, weil sie nicht hinsehen wollte. Aber als sie ein zischendes Geräusch hörte, musste sie doch einen kurzen Blick riskieren. Sie keuchte auf. Seine Fangzähne waren ausgefahren. Sie sahen lang und scharf aus. Er trieb sie in Sashas Handgelenk.

Der Anblick war zum Erschauern. Sie konnte ihn nicht in ihre Nähe lassen. Sie zog an ihren Seilen und zuckte zusammen, als sie ihre Haut aufscheuerten und verbrannten. Jetzt oder nie. Louie war mit Trinken beschäftigt, und Billy stand einfach wie ein Zombie da.

Ein lautes Heulen durchdrang plötzlich den ganzen Raum.

Louie hob den Kopf, um zu lauschen. Blut tropfte von seinen Fangzähnen auf Sashas blasse Haut.

Noch ein Heulen, lang und klagend, folgte. Es hallte an den Steinwänden wider. Vögel, die aus ihren Nestern im Gebälk geschreckt worden waren, flogen aus den offenen Fenstern.

»Wir haben Besuch.« Louie nahm die Pistole vom Tisch und gab sie Billy. »Halte dich bereit.«

»Ja, Meister.«

Noch einmal kehrte Louie zu Sasha zurück, hob ihren Arm und biss hinein.

Heather zog eine Hand aus dem Seil. Ja! Sie löste die Seile an der anderen Hand. Vielleicht würde es ihr doch noch gelingen zu entkommen.

Gerade in diesem Augenblick schoss ein schwarzer Schatten durch eines der offenen Fenster. Er landete nur einige Schritte entfernt von Heather auf dem Steinboden. Sie erstarrte und konnte nicht mehr atmen.

Es war ein riesiger, schwarzer Wolf mit langem zotteligem Fell. Ein Knurren vibrierte aus seiner Kehle.

Billys Gesicht war blass, als er einen Schritt zurücktrat.

Offensichtlich hatte Louie seinen Durst gestillt. Er richtete sich auf. Seine Fangzähne fuhren zurück, und er ließ Sashas Arm los, der schlaff auf den Tisch fiel. Sasha schien bewusstlos zu sein.

Der Wolf wendete seinen riesigen Kopf, um Heather anzusehen. Er bleckte seine Zähne und knurrte.

Sie keuchte. Rot glühende Augen. Weiße, gefletschte Zähne. Oh Gott, das war die Gefahr, von der Fidelia geträumt hatte.

Es gab zwei Möglichkeiten zu sterben. Sie könnte langsam von einem Vampir umgebracht werden oder schnell von einem riesigen Wolf zerfleischt. Auf jeden Fall sah es so aus, als wäre ihre Zeit abgelaufen.