18. KAPITEL
Rot glühende Augen, Gefahr, ein weißer Blitz, gefletschte Zähne. Mrs. Boitons Körper, leblos auf dem Boden ausgestreckt. Heather wachte mit einem Ruck auf.
»Mama, alles in Ordnung?« Bethany stand neben dem Bett. Ihre Augen waren groß vor Sorge.
Heather atmete tief durch. Es war nur ein böser Traum. Fidelias Warnung über rot glühende Augen hatte sich in ihre Träume und ihre Erinnerung eingeschlichen.
»Alles okay?« Fidelia setzte sich auf ihr Bett, um sich die Schuhe zu binden. Sie und Bethany waren schon angezogen.
»Es geht mir gut.« Heather sah auf den Wecker auf ihrem Nachttisch. »Ich habe verschlafen.« Kein Wunder, sie war fast die ganze Nacht wach gewesen. »Hast du noch etwas geträumt?«, fragte sie Fidelia leise.
Die ältere Frau runzelte die Stirn und formte mit den Lippen das Wort Feuer.
Feuer? Heather hob ihre Augenbrauen. Sie wollte mehr wissen, es aber nicht vor Bethany besprechen.
Das kleine Mädchen rannte zur Tür. »Ich habe Hunger.«
»Dann lasst uns frühstücken.« Fidelia führte sie nach draußen.
»War es schlimm?«, fragte Heather gerade, als Fidelia die Tür schließen wollte. »Das Feuer?«, flüsterte sie.
Fidelia schauderte. »Inferno. » Sie schloss die Tür.
Hölle? Heather schüttelte sich. War das Louies Plan? Dieses Haus anzuzünden und sie alle umzubringen? Sie duschte sich, zog sich an und ging dann in die Küche, um schnell zu frühstücken.
Danach bat sie Pierre, sie ins Designstudio zu lassen. »Ich könnte mich selbst reinlassen, wenn ich die Kombination kennen würde.«
Pierre stellte die Tür auf. »Ich frage Robby. Niemand darf ohne seine Erlaubnis die Kombination erfahren.«
»Verstehe.« Sie hasste die verschlossenen Türen genauso wie die ganzen Überwachungskameras, die überall installiert waren, aber dagegen konnte man nichts machen. Heather durchquerte den Raum und blieb vor dem Arbeitstisch stehen. Eine Sekunde lang stutzte sie, wollte ihren Augen nicht trauen. Sie blinzelte. Nein, es war keine Sinnestäuschung.
Dort, auf dem Tisch, lagen ihre Entwürfe in Stücke gerissen. Die königsblaue Chiffonseide, die sie in der Nacht zuvor so sorgfältig zugeschnitten hatte, war zerfetzt und verstümmelt. Mit einem Schrei machte sie ihrer Schockiertheit Luft.
»Madame?« Pierre kam in den Raum gerannt. »Geht es Ihnen gut?«
Sie deutete auf die Stofffetzen. »Meine Arbeit.«
»Was ist los?« Auch Phil rannte herbei.
»Meine Arbeit ist zerstört.« Heather stöhnte. »Es gibt so viele Wachen hier im Haus, und so viele verdammte Kameras. Warum ist das niemandem aufgefallen?«
»Hier drinnen gibt es keine Kameras«, erklärte Phil. »Wir installieren sie heute erst.«
»Wer würde so etwas Gemeines tun?« Pierre nahm die zwei Hälften einer Zeichnung hoch.
Phil runzelte die Stirn. »Der, der am meisten dabei zu gewinnen hat.«
Heather atmete tief durch. Alberto. Er wollte nicht, dass sie für Jean-Luc entwarf. »Ich muss mit Alberto sprechen.«
»Glauben Sie, er war es?«, fragte Pierre. »Ich kenne Alberto schon seit Jahren. Ich glaube nicht, dass er das tun würde. Aber keine Sorge. Wir werden die Sache gründlich untersuchen.«
»Es wird nicht wieder vorkommen«, versicherte ihr Phil.
Heather nickte.
Phil und Pierre gingen, und sie stand einfach da und sah sich die Zerstörung an. Konnte Alberto wirklich etwas so Gemeines tun? Wenigstens war noch genug Seidenchiffon auf dem Ballen. Sie würde das Kleid noch einmal zuschneiden müssen. Wenn sie jetzt anfing, konnte sie gegen Mittag mit dem Nähen beginnen.
Sie strich den königsblauen Stoff auf dem zweiten Arbeitstisch glatt und legte dann ihr Schnittmuster darauf aus.
»Buon Giorno.« Alberto kam in den Raum geschlendert. »Pierre hat gesagt, Sie möchten mich sprechen?«
Heather atmete tief durch, um ruhig zu bleiben. »Was wissen Sie von dieser Sache?« Sie deutete auf den Tisch hinter sich.
»Oh mein Gott! Was ist passiert?« Er kam schnell näher, um sich den Vorfall genau anzusehen.
»Ich hatte gehofft, Sie würden mir das sagen.«
Er nahm ein Stück des zerfetzten Stoffes hoch. »Das ist schrecklich!«
Sie starrte ihn wütend an. »Das ist es wirklich.«
Erschreckt ließ er den Stoff fallen. »Sie glauben, ich...?« Er schnaubte beleidigt. »Ich muss mich zu so etwas nicht herablassen. Ihre Entwürfe werden von selbst ein vollkommener Fehlschlag werden.«
Heather zögerte. Er schien wirklich beleidigt zu sein. Aber wenn Alberto es nicht getan hatte, wer dann? »Oh, natürlich. Es waren die Models. Simone und... Helga.«
»Inga.« Alberto rieb sich den roten Striemen an seinem Hals. »Sie haben ihren Zorn nicht gut unter Kontrolle.«
»Das können Sie laut sagen. Was ist deren Problem?«
Alberto zuckte zusammen. »Bitte. Sagen Sie es nicht Jean-Luc. Er ist bereits wütend auf die beiden. Er würde sie bestimmt feuern.«
»Das hätten sie auch verdient.«
»Nein! Bitte. Es würde sie vernichten.«
Das zu glauben, fiel Heather schwer. »Sie sind Topmodels.
Sie könnten überall Arbeit finden.«
»Nein, das können sie nicht. Jean-Luc ist der Einzige, der sie beschäftigt. Er - versteht ihre... Probleme. Sie haben eine, ähm, Behinderung.«
»Klar. Das habe ich sofort erkannt.«
Er machte große Augen. »Wirklich?«
»Oh ja. Das Syndrom nennt sich: psychotische Ziege.«
»Nein! Sie - können nicht hinaus ins Sonnenlicht. Die meisten Designer würden das nie tolerieren.«
»Sie meinen, sie haben eine Sonnenallergie?«
Alberto zuckte mit den Schultern. »Das könnte man sagen. Stellen Sie sich vor - keine Aufnahmen am Strand. Kein Designer würde sie beschäftigen. Sie wären komplett ruiniert, wenn Jean-Luc sie feuert.«
Trotz all seiner Bemühungen fiel es Heather schwer, Mitleid zu finden. »Daran hätten die zwei denken sollen, ehe sie durchgedreht sind.«
»Sie fühlen sich von Ihnen bedroht. Jean-Luc hat sich noch nie so sehr für eine andere Frau interessiert.«
»Wirklich?« Jetzt begann Heather doch, sich etwa großherziger zu fühlen. »Sie meinen, er hatte keine lange Reihe von Freundinnen?«
»Nein, überhaupt nicht. Er hat sich jahrelang von Frauen ferngehalten. Aber das hat sich geändert, seit er Sie kennengelernt hat.«
»Was ist mit den Mädchen, die Louie umgebracht hat?«
Alberto zuckte zusammen. »Das ist lange her.«
Darauf konnte sie wetten. Wieder kam ihr die Unsterblichkeitstheorie in den Sinn.
Alberto legte seine Handflächen aneinander. »Bitte sagen sie Jean-Luc nichts von der Sache. Ich werde mit den beiden reden. Ich sorge dafür, dass sie Ihnen keinen Ärger mehr machen.«
»Sie können die beiden im Zaum halten?« Sie warf einen skeptischen Blick auf die Wunde an seinem Hals.
»Wenn sie meine Kleider auf der Show vorführen wollen, werden sie tun, was ich sage. Und ich helfe Ihnen.« Er deutet auf den Tisch, wo sie ihr erstes Kleid neu zuschneiden wollte. »Ich zeige Ihnen, wie man den Rock schräg zum Fadenlauf zuschneidet. Er fällt dann besser, wenn die Modelle ihn auf dem Laufsteg vorführen.«
»Das wäre toll. Danke.«
»Und diese Zeichnungen...« Er nahm die zwei Hälften. »Sie werden nie wieder so gut aussehen, aber Sie können sie mit Klebeband zusammenheften und eine Kopie machen. Im Grunde sollten sie immer von allem, was Sie zeichnen, eine Kopie machen. In Jean-Lucs Büro gibt es einen sehr guten Kopierer. Den sollten Sie benutzen.«
»Ich möchte ihn nur ungern stören.«
Alberto lachte. »Er ist tagsüber nicht dort.«
»Wo ist er dann?«
Das hätte er nicht erwähnen dürfen. »Er ist... fort.« Alberto machte eine vage Handbewegung. »Geschäftlich.«
»Wo?«
»Ich gebe Ihnen den Zahlencode, damit Sie in sein Büro können«, lenkte Alberto hastig ab. »Vierzehn Fünfundachtzig. Fragen Sie nicht, warum. Das ist auch die Nummer für das Zahlenschloss an seinem Zimmer.«
»Wirklich?« Wollten sie ihr deshalb die Kombination nicht verraten? Wie viele Schlösser funktionierten noch mit der gleichen Zahl?
»Sind wir uns einig?«, fragte Alberto. »Sie verraten Jean-Luc nicht, was Simone und Inga getan haben?«
»Nein, ich lasse es gut sein.«
»Bitte sagen Sie auch niemandem, dass ich Ihnen die Kombination verraten habe.«
»Meine Lippen sind versiegelt.« Sie hatte einen neuen, unerwarteten Verbündeten gefunden. Alberto verbrachte die nächsten zwei Stunden damit, ihr zu helfen, ihr erstes Kleid zuzuschneiden, und sie merkte gleich, dass es besser war als der Zuschnitt, den sie in der Nacht zuvor angefertigt hatte.
»Danke.« Sie sammelte die Stoffreste auf, um sie wegzuwerfen. »Wollen Sie mit uns zu Mittag essen?«
»Tut mir leid, ich kann nicht. Ich treffe mich mit Sasha zu einem späten Lunch.«
»Ich wusste nicht, dass sie wieder in der Stadt ist.«
Alberto runzelte die Stirn. »Ich wusste gar nicht, dass sie nicht da ist.«
»Sie ist am Sonntag gefahren. Nach San Antonio, in so ein schickes Spa.«
»Wir haben uns letzten Samstag verabredet.« Zögerlich wendete er sich der Tür zu. »Ich hoffe, sie hat es nicht vergessen.«
»Haben Sie keine Angst, Simone und Inga zu verärgern?« Heather zuckte zusammen. Das hätte sie nicht fragen sollen. Es ging sie nichts an, wenn Alberto sich mit drei Frauen gleichzeitig traf. Aber wenn eine von ihnen ihre alte Freundin aus der Highschool war, und die anderen zwei psychotische Ziegen, dann konnte es schnell ziemlich unangenehm werden.
»Das werden sie nicht erfahren.« Alberto blieb bei der Tür stehen. »Ich habe bei ihnen im Grunde sowieso keine Chance. Ich sollte es lassen, aber sie haben mich irgendwie in ihrem Bann.«
Heather hob eine Augenbraue. »Ein Bann? So wie ein Zauber?« Waren die psychotischen Ziegen in Wirklichkeit psychotische Hexen?
Seufzend gab er dann doch zu, was er schon lange wusste. »Sie sind... anders. Bei meiner Schwärmerei kann nichts Gutes herauskommen.«
»Das stimmt wahrscheinlich.«
Besorgnis lag in seinem Blick, als er sie jetzt ansah. »Sie sollten auch vorsichtig sein. Ich schulde Jean-Luc sehr viel. Er ist ein freundlicher und begabter Mann, aber... Sie sollten sich von ihm fernhalten. Wenn Sie können.« Alberto eilte aus dem Raum, ehe sie antworten oder sich wenigstens von dem Schock erholen konnte.
Heather verbrachte den Nachmittag mit Nähen, während Pierre und Phil zwei Überwachungskameras im Studio installierten. Albertos merkwürdige Warnung kam ihr immer wieder in den Sinn. Wenn er Jean-Luc so sehr bewunderte, warum sollte er sie dann vor ihm warnen? Was wusste er, das sie nicht wusste? Und was war die Bedeutung von 1485? Ein Geburtsdatum?
Sie schauderte. Bestimmt nicht. Ihre Fantasie arbeitete auf Hochtouren.
Phil und Pierre aßen mit ihnen in der Küche zu Abend. Die Vorräte neigten sich langsam dem Ende zu, deshalb bot Pierre sich an, in den Laden zu fahren. Da Alberto den BMW für seine Verabredung mit Sasha genommen hatte, überließ Heather Pierre die Schlüssel zu ihrem Truck, zusammen mit einer Einkaufsliste.
Fidelia räumte den Tisch ab, als sie plötzlich innehielt. Ein Teller fiel ihr aus den Händen und landete scheppernd auf dem Boden.
»Was?« Heather sprang auf.
Panisch blickte sie zu Phil. »Halt ihn auf! Sofort!«
Phil rannte, so schnell er konnte, den Korridor hinab und zur Tür hinaus. Heather rannte ihm nach und hatte gerade die Tür erreicht, als eine laute Explosion sie zurückwarf. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Mit surrenden Ohren fand sie ihr Gleichgewicht wieder und stolperte nach draußen. Sie blieb stehen.
Ihr Truck stand in lodernden Flammen, die bis hoch in den Himmel flackerten. Pierre. Eine Welle der Übelkeit ließ sie zu Boden sinken.
Phil stand mit geballten Fäusten in der Auffahrt. Er fiel auf die Knie, legte seinen Kopf zurück und brüllte. Es klang seltsam durch das Surren in ihren Ohren. Die intensive Hitze des Feuers schlug ihr ins Gesicht. Sie stolperte gegen den Türrahmen.
»Mama?«
Sie schlug die Tür zu und lehnte sich dagegen. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Bethany sprang auf die Eingangstür zu. »Wo fahren alle hin? Kann ich mit?«
Heather schluckte und schüttelte den Kopf.
Fidelia betrat die Ausstellung, ihre Handtasche gegen die Brust gedrückt. In ihren Augen schimmerten unvergossene Tränen. »Ich war zu spät?«
Heathers eigener Blick verschwamm vor Tränen. »Es war genau wie in deinem Traum. Infierno.«