9. KAPITEL

 

»Der Eingang ist ein paar Meilen diese Straße hinunter.« Heather blickte zu Jean-Luc hinüber, der am Steuer saß.

»In Ordnung.« Seine Hände lagen locker auf dem Lenkrad des BMW, als ob er daran gewöhnt wäre, 150 km/h zu fahren.

Es war eine klare Nacht, und über ihnen schienen die Sterne und ein halbvoller Mond. Zu Heathers Füßen stand ihre Handtasche, in der Fidelias Glock sicher verstaut war. Sie spürte, wie das tröstliche Gewicht der Pistole gegen ihr Bein drückte. Robby MacKay saß mit seinem Claymore und Jean-Lucs leichterem Degen auf dem Rücksitz. Jean-Luc hatte darauf bestanden, den Schotten mitzunehmen.

Robby war dagegen gewesen, dass sie mitkam, aber Jean-Luc hatte ihre Entscheidung verteidigt. Das war ein gutes Zeichen. Er war doch nicht so ein Kontrollfreak. Er konnte ihre Entscheidungen akzeptieren, auch wenn er nicht mit ihnen einverstanden war.

Es gab immer noch vieles, was sie über Jean-Luc nicht wusste, aber alles, was sie bisher erfahren hatte, gefiel ihr wirklich. Sie warf erneut einen Seitenblick auf ihn, während er fuhr. Er hatte ein schlankes Gesicht, gut abgesetzt von einem starken Kiefer und hohen Wangenknochen. Letzte Nacht war er glatt rasiert und ganz sauber und ordentlich gewesen, und hatte in seinem eleganten Smoking wie James Bond selbst ausgesehen. Heute Nacht war er tatsächlich noch schöner. Schwarze Stoppeln überschatteten seinen Kiefer, und seine schwarze Locken waren ganz verwuschelt, als wäre er in zu großer Eile gewesen, um sich zu rasieren oder seine Haare zu kämmen. Die schwarzen Stoffhosen und das T-Shirt sahen getragen und bequem aus, und sein langer, schwarzer Mantel verlieh ihm eine Aura der Gefahr.

Kein Wunder, dass Billy Verdacht geschöpft hatte. Jean-Luc sah geheimnisvoll aus. Und wild. Er war stark genug, um diese Schaufel mit nur einer Hand aus dem Boden zu ziehen. Er war einfallsreich und kreativ bei den Kleidern, die er für Frauen entwarf, und doch jagte er auch nach Mördern wie Louie. Sie war noch nie einem so faszinierenden und vielseitigen Mann begegnet. Auf jeden Fall verheimlichte er irgendetwas. Aber lieber Gott, was war dieser Mann betörend.

Hatte er wirklich gehofft, sie würde ihn verführen? Seine Worte und Blicke machten ihn selbst zum Verführer. Ihre Gedanken überschlugen sich und malten sich alle möglichen Szenarien aus. Wenn sie sich ihm an den Hals warf, würde er keinen Widerstand leisten, dessen war sie sich sicher, so, wie er sie ansah.

Er verschlang jeden einzelnen Körperteil mit seinen fiebrigen Augen, dass ihr ganz heiß wurde. Dann betrachtete er ihren Körper und ließ seinen Blick hier und da verweilen. Nur daran zu denken, was er dachte, elektrisierte sie bis in die kleinste Haarspitze. Sie war sich seiner Anwesenheit so vollkommen bewusst. Die Luft zwischen ihnen schien von einer Art magnetischem Strom zu surren, der sie zusammenziehen wollte.

»Alles in Ordnung?« Sein Blick durchbohrte sie.

»Ja.« Schnell wendete Heather sich ab. Er musste ihren Blick gespürt haben. Er war sich ihrer Anwesenheit ebenfalls bewusst. »Da ist der Eingang.« Sie deutete auf ein schwach beleuchtetes Schild auf der rechten Seite.

Jean-Luc fuhr langsamer und bog in eine schmale Straße ein.

»Es ist hier sehr einsam«, bemerkte Robby. »Ein gutes Versteck.«

»Die Camper sind da unten.« Heather deutete auf einen Feldweg, der nach links führte.

»Camper?« Jean-Luc sah besorgt zu Robby.

»Mist«, murmelte Robby.

Heather lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Glauben Sie, die Camper befinden sich in Gefahr?«

»Wenn Lui hier war, dann ja.« Jean-Luc lenkte den Wagen die Straße hinab und sah sich nach links und rechts um. »Er braucht vielleicht Geld und... Nahrung. Ist es hier?« Er zeigte nach vorn.

Heather kniff die Augen zusammen und konnte das Steingebäude vor sich kaum erkennen. »Ja. Sie können drüben beim Spielplatz parken.«

Die Rutsche und die Schaukeln leuchteten bleich und grau im Licht der Straßenlampe. Im Lichtkreis um die Lampe herum surrte eine dichte Wolke Insekten. Die Schaukeln hingen vollkommen ruhig in der warmen, feuchten Luft.

Heather stieg aus dem geparkten Wagen, zog eine Taschenlampe aus ihrer Handtasche und schaltete sie an. Innerhalb von Sekunden waren Robby und Jean-Luc an ihrer Seite. Beide hatten ihre Schwerter gezogen.

Sie warf ihre Handtasche über ihre Schulter. »Bereit?«

Jean-Luc legte seine Fingerspitzen sanft auf ihren Ellenbogen. »Bleiben Sie nah bei mir.«

Robby ging voraus und betrat als Erster das Steingebäude. Heather stieg mit Jean-Luc an ihrer Seite die Treppen hinauf. Große offene Fenster ließen anscheinend nicht nur an heißen Sommertagen eine kühle Brise in die Behausung. Auf dem kalten Zementboden lagen Blätter verstreut, und hoch im Gebälk konnte man das Flattern von Vogelflügeln hören. In der Mitte des Raumes standen einige Picknicktische aus Holz.

Robby ging im Raum umher. Anscheinend konnte er ohne Taschenlampe sehen. »Hier ist keine Kellertür.«

»Sie ist draußen.« Heather leuchtete die Treppe hinab. »An der rechten Seite.«

Robby ging weiter vor, während Jean-Luc wie festgeklebt an ihrer Seite blieb.

Die warme Luft fühlte sich schwer und feucht auf ihrer nackten Haut an. Ein Moskito surrte an ihrem Ohr, und sie wischte ihn weg. »Verdammter Blutsauger.«

»Wo?« Jean-Lucs Schwert schnellte in die Höhe und er drehte sich blitzschnell auf der Stelle, um sich umzusehen.

Heather lachte. »Sie greifen Moskitos mit einem Schwert an? Viel Erfolg dabei.«

»Ich dachte, Sie meinten etwas Größeres.«

»Was zum Beispiel? Eine Fledermaus? Ich glaube, in Texas haben wir keine Vampirfledermäuse.«

»Man kann nie wissen«, murmelte er und deutete dann auf Robby. »Er hat den Keller gefunden.«

Als ein Kettenrasseln zu hören war, leuchtete Heather mit ihrer Taschenlampe auf das Geräusch und sah, wie Robby sich über den Kellereingang beugte. »Sagen Sie nicht, dass sie abgeschlossen haben. Der Keller ist als Tornadounterschlupf für die Camper gedacht.«

Robby zerrte die Ketten von den verschlungenen Türgriffen und sah Jean-Luc dabei mit vielsagendem Blick an. »Das Schloss war kaputt.«

War dieser Schotte ganz ehrlich? Musste er wohl. Er konnte kaum stark genug sein, um ein Vorhängeschloss aufzureißen.

»Lass mich helfen.« Jean-Luc hob eine der Türen hoch, während Robby sich der anderen annahm.

Heather leuchtete mit der Taschenlampe in das klaffende schwarze Loch. Du liebe Zeit, was hatte sie nur geritten mitzukommen? »Okay, wer will als Erster in den Höllenschlund steigen?«

»Ich tu es.« Robby ging die Stufen hinab und hielt seinen Claymore bereit.

»Brauchst du keine Taschenlampe?«, fragte Heather.

»Ich kann sehen«, murmelte Robby.

Sie richtete den Lichtstrahl weiter in das Loch. »Sie hatten recht«, flüsterte sie Jean-Luc zu. »Ich hätte nicht mitkommen sollen.«

»Ich dachte, Sie wollten Ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen?«

»Daran glaube ich immer noch, und ich glaube, ich kann mich selbst schützen. Ich habe nur Angst, dass Sie sich mehr darum kümmern, mich zu beschützen, als Louie zu erwischen.«

»Das stimmt. Deshalb habe ich Robby mitgenommen.«

»Ich will Sie nicht zurückhalten. Oder in Gefahr bringen.«

»Ich komme schon zurecht.« Er stellte sich an ihre rechte Seite, den Degen in seiner rechten Hand. »Bleiben Sie dicht hinter mir.«

Sie atmete tief durch. Du hast der Angst den Krieg erklärt. Sie folgte ihm hinunter und legte eine Hand auf seine Schulter.

Unten angekommen, nahm er ihre Hand, um sie in die Mitte des Raumes zu führen. Sie drehte sich auf der Stelle und leuchtete im Kreis mit ihrem Lichtstrahl den dunklen Keller aus. Er passte zu Fidelias Beschreibung. Dunkel. Keine Fenster. Steinmauern. Eine dicke Staubschicht auf dem Steinboden juckte ihr in der Nase. Schmutz und Schutt waren entlang der Wand zu kleinen Haufen aufgefegt worden.

»Überprüf die Decke«, sagte Jean-Luc ruhig.

Die Decke? Sie richtete ihre Taschenlampe nach oben. Erwartete er, dass Louie von der Decke herabhing? Das war seltsam.

»Alles in Ordnung«, verkündete Jean-Luc.

Sie atmete erleichtert durch. »Toll. Keine mordlustigen Verrückten in Sicht.«

»Nay. Hier ist es sicher.« Robby umkreiste den Raum. Als er zu einer dunklen Ecke kam, entfernten sich kleine tapsende Füße schnell von ihm.

»Eine Ratte!« Heather packte Jean-Lucs Arm und drückte sich fest an ihn. Der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe zitterte wie wild herum.

Er nahm ihr die Taschenlampe ab und fand das Tier. »Keine Sorge. Es ist nur eine Maus.«

»Machen Sie Witze? Das Vieh ist riesig!«

»Es ist eine harmlose kleine Feldmaus.«

»Haben Sie denn noch nicht gehört? In Texas ist alles größer.«

»Unsere Ratten in Frankreich würden diese Maus auslachen.« Jean-Luc legte einen Arm um ihre Schultern. »Sie haben nicht wirklich gelebt, ehe sie die Ratten von Paris gesehen haben.«

»Auf diese Art Romantik kann ich gut verzichten.«

»Ah, da hinten ist eine riesige mit großen Klauen und scharfen Zähnen.« Er lachte, als sie die Arme um seinen Hals schlang.

»Was?« Sie merkte plötzlich, wie nahe ihr Gesicht an seinem war.

»Ich habe einen Scherz gemacht.« Er legte seine Arme um sie. »Aber ich kann mich nicht beschweren. Mir gefällt das Ergebnis recht gut.«

»Sie Gauner. Sie haben mich erschreckt.« Sie hätte ihm einen Klaps geben sollen, oder sich wenigstens von ihm lösen, aber es fühlte sich so gut an, in seinen starken Armen zu liegen und seine glatte warme Brust gegen sich gepresst zu spüren.

Er rieb sein Kinn an ihrer Stirn. Das sanfte Kratzen seiner Bartstoppeln war so männlich und gleichzeitig tröstend.

»Ich glaub nicht, dass Lui jemals hier war«, verkündete Robby. »So staubig, wie der Boden ist, müssten wir Fußabdrücke sehen können.«

»Das stimmt.« Jean-Luc behielt Heather in seinen Armen.

Robby murmelte etwas Unverständliches. »Soll ich euch zwei alleine lassen?«

Jean-Luc lachte leise. »Wir kommen schon.« Er ließ Heather los und gab ihr die Taschenlampe zurück. »Wir haben für heute Nacht genug getan.«

Genug Suchen nach Louie oder genug Umarmen? Ihr hätten ein paar Minuten Umarmung mehr gut gefallen. Oder eine Stunde oder zwei. Sie folgte ihnen zur Treppe und nahm Jean-Lucs Hand, um hinaufzusteigen. Die Nachtluft roch frisch, verglichen mit der muffigen, abgestandenen Luft im Keller.

»Morgen suchen wir weiter.« Jean-Lucs Stimme klang entschieden, während er und Robby die Kellertüren wieder schlössen.

Morgen? Das war ein Sonntag. »Ich habe schon etwas vor, aber wir könnten unsere Suche danach fortsetzen.«

»Was haben Sie vor?« Jean-Luc führte sie zurück zum Wagen. »Ich kann Sie unmöglich schutzlos gehen lassen.«

»Ich habe mich schon freiwillig gemeldet, um beim Stadtfest auszuhelfen. Die Kirche versucht, Geld einzunehmen für neue Spielgeräte. Ich muss früh da sein, um dabei zu helfen, die Stühle aufzustellen und so etwas. Fidelia und Bethany werden auch dort sein.«

Jean-Luc runzelte die Stirn. »Eine öffentliche Veranstaltung könnte gefährlich werden. Robby und ich müssen mitkommen.«

Die Ankündigung schien Robby nicht wirklich zu gefallen.

Heather grinste. »Toll. Es fängt um sieben an. Im Riverside Park.«

»In Ordnung.« Jean-Luc drückte auf das Nummernschloss an seinem Wagen und öffnete dann die Tür für sie. »Und danach machen wir uns wieder auf die Jagd nach Lui. Vielleicht fallen Ihnen noch weitere Orte ein, auf die Fidelias Beschreibung zutrifft.«

»Ich werde darüber nachdenken.« Sie stieg in den Wagen, und er schloss die Tür.

Heather konnte hören, wie Jean-Luc und Robby leise etwas besprachen. Wahrscheinlich die beste Strategie, um sie und Bethany am Leben zu halten. Sie steckte ihre Taschenlampe in ihre Handtasche neben die Glock. Nachdem Jean-Luc Echarpe in ihr Leben getreten war, war es um einiges Aufregender geworden. Sie würde nicht zulassen, dass Louie ihr das Leben nahm.

Aber sie könnte gut ihr Herz an Jean-Luc verlieren.

****

Am nächsten Abend war Heather dabei, im Riverside Park die Stuhlreihen aufzustellen. Es war ein weiterer ereignisloser Tag. Louie hatte sich nicht blicken lassen. Morgens waren sie in die Kirche gegangen, und dann hatten sie den Rest des Tages herumgealbert. Jean-Luc hatte versprochen, bald nach Sonnenuntergang zu kommen. Sie hatte sich dabei erwischt, wie sie sich danach sehnte, dass der Tag verging und sie ihn wiedersehen konnte.

»Brauchen Sie Hilfe?«

Sie zuckte beim Klang der dröhnenden Stimme zusammen und hoffte, dieses Angebot galt nicht ihr. Sie sah auf. Doch, Coach Gunter stolzierte direkt auf sie zu. Der Footballcoach der Guadalupe High versuchte seit mehr als sechs Monaten, bei ihr zu landen. Die Tatsache, dass Heather ihn nicht einmal bis zum Anstoß hatte kommen lassen, störte ihn dabei nicht.

»Nein, danke.« Sie drehte ihm den Rücken zu, während sie noch einen Metallstuhl aufklappte. Sie musste noch die erste Reihe vor dem Pavillon aufbauen, in dem die Kinder singen würden.

Coach Gunter ging um sie herum und baute sich in seiner üblichen Superman-Pose vor ihr auf - die Füße gespreizt, Hände auf den Hüften, Brust ausgestreckt. Wie immer trug er die unvermeidliche Kleidung - ein ärmelloses T-Shirt, um seinen geschwollenen Bizeps zu präsentieren, und Shorts, die die Muskeln in seinen Waden betonten.

Heather betrachtete ihn als eine Art Miniatur-Höhlenmenschen - klein von Wuchs, und noch kleiner von Verstand. Es gab unter den Frauen der Stadt gute Partien, die Miniaturen sammelten. Er sollte sein Glück wirklich lieber bei denen versuchen. Einige Frauen hatten einen Blick auf seinen männlichen Körperbau geworfen, und der Coach wusste es. Wahrscheinlich erwartete er jetzt von ihr, dass sie mit ihrer Arbeit aufhörte und anfing, ihn zu bewundern, aber sie klappte weiter Stühle auf und stellte sie in Reihe. Bethany war ihre Assistentin und setzte sich auf jeden Stuhl, um zu prüfen, ob er auch richtig funktionierte.

»Wie gefallen Ihnen meine Badehosen?« Der Coach drehte sich um, zweifellos, um seinen Hintern aus Stahl zu präsentieren.

»Die sind schon in Ordnung.« Heather zerrte noch einen Klappstuhl vom Stapel.

»Ich bin für die Tauchstation eingeteilt«, fuhr der Coach fort. »Sie sollten später mal vorbeikommen, wenn ich von oben bis unten durchnässt bin.« Er zwinkerte.

Heather gab ein unverbindliches grunzendes Geräusch von sich, klappte noch einen Stuhl auf und stellte ihn in die Reihe. Sie lächelte ihrer Tochter zu. »Und, wie funktioniert dieser?«

Bethany rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Sehr gut, Mama.« Sie sah zum Coach auf. »Ich singe heute Abend.«

»Ja, ganz toll.« Der Coach sah sie abschätzig an, doch dann erhellte sich seine Miene. »Hey, wie wäre es, wenn du und deine Mom später mit mir ein Eis essen gehen würdet?«

Bethany wand sich auf ihrem Stuhl und strahlte. »Ich liebe Eis!« Sie sah ihre Mutter hoffnungsvoll an.

Oh, gemeines Foul. Heather hatte gerade noch einen Stuhl genommen und überlegte sich, ihn dem Coach über den Schädel zu ziehen. Würde er das überhaupt merken? Bei ihrem Glück hielt er das Ganze noch für eine Art neandertalisches Vorspiel.

Sie klappte den Stuhl mit einem Ruck auf und sah ihre Tochter mitleidig an. »Es tut mir leid, Liebling, aber der Coach hätte mich zuerst fragen sollen.« Sie richtete sich auf und starrte den Coach abweisend an. »Wir haben heute Abend bereits Pläne.«

Er streckte sein Kinn vor. »Dann sind die Gerüchte also wahr? Sie haben einen neuen Freund?«

Manchmal war die Stadt etwas zu klein. Heather sah zur Sonne, die schon die Wipfel der Bäume berührte. In weniger als einer Stunde würde Jean-Luc kommen. »Ein paar Freunde werden uns später besuchen.«

»Ja, sicher«, murmelte der Coach. »Sie wissen nicht, was Ihnen entgeht.« Er stapfte davon.

Mit einem Seufzen nahm Heather sich noch einen Stuhl. Nur noch drei Stück übrig. In fünf Minuten fing das Fest an. Am Eintrittshäuschen stand bereits eine Schlange.

»Magst du ihn nicht, Mama?«, fragte Bethany ruhig.

»Den Coach?« Heather stellte den Stuhl neben ihre Tochter. »Mit den Stühlen hat er mir nicht geholfen, oder?«

»Ich helfe dir.« Bethany stieg auf den Stuhl, den sie gerade hingestellt hatte.

»Jepp, du bist für die Qualitätskontrolle zuständig, und das machst du ganz hervorragend.« Heather nahm noch einen Stuhl vom Stapel.

Bethany legte ihre kleine Nase in Falten, als würde sie angestrengt nachdenken. »Er glaubt, er ist hübsch.«

Der Coach? Heather lachte, als sie den Stuhl aufklappte. »Ich glaube, du hast recht. Du bist ein kluges Mädchen.«

Bethany zuckte die Schultern, als sei das sowieso selbstverständlich. »Ich mag Emma.«

»Ich auch.« Heather nahm sich den letzten Stuhl.

»Kommt Sie, um mich singen zu sehen?«

»Ich glaube schon.« Heather öffnete den letzten Stuhl und stellte ihn neben ihre Tochter.

»Ich mag auch den Mann, der so komisch spricht.«

Heathers Herz machte einen kleinen Sprung. »Mr. Echarpe?« Sie hatte den ganzen Tag über angestrengt versucht, nicht an ihn zu denken, aber er war trotzdem ein Dutzend Mal in ihren Gedanken aufgetaucht. Pro Stunde.

Bethany schlug ihre kleinen Beine übereinander, wie ein Erwachsener es tun würde, verschränkte dann ihre Arme und stützte ihr Kinn auf eine Handfläche. Sie klopfte mit dem Finger gegen ihr Kinn. Es war ihre ernsthafteste Denkerpose. Heather fand sie bezaubernd, und sie wollte ihre Tochter dann immer in ihre Arme ziehen und fest an sich drücken. Sie verzichtete jedoch darauf, weil sie wusste, dass es besser war, ihre Tochter dazu anzuhalten, für sich selbst zu denken. Sie sah noch einmal zur Sonne und versuchte abzuschätzen, wann sie untergehen würde. Und wie lange es noch dauerte, bis sie Jean-Luc wiedersah.

»Mr. Sharp weiß nicht, dass er hübsch ist«, verkündete Bethany, »aber er ist es.«

Heather sperrte den Mund auf. Lieber Gott, sie hatte ein Genie geboren. »Ich finde dich brillant.«

»Ich habe Hunger. Darf ich Zuckerwatte haben? Ich möchte eine rosane.«

»Darfst du. Nach dem Abendessen.« Heather sah zum Pavillon. »Sieh mal, Miss Cindy braucht dich da oben.«

Bethany rutschte von ihrem Stuhl und rannte in den Pavillon, wo sich alle Vorschüler versammelten. Eine der Lehrerinnen, Miss Cindy, stellte die Kinder in zwei Reihen auf, die größeren Kinder nach hinten.

Ihr Nacken schmerzte. Die körperliche Arbeit, die texanische Hitze und der Schlafmangel machten Heather langsam zu schaffen. Wenigstens würde bei Sonnenuntergang die Temperatur ein paar Grad fallen. Es war klug von Jean-Luc, so lange zu warten.

Und wieder hatte er sich in ihre Gedanken geschlichen. Sie hatte sich letzte Nacht eine Stunde im Bett gewälzt, ehe sie endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Am liebsten wäre sie nach unten gegangen und hätte ihm die ganze Nacht Gesellschaft geleistet. Es gab Gott weiß noch genug, was sie über ihn erfahren wollte. Sie hatte ihm ihre Lebensgeschichte erzählt, aber er hatte ihr noch sehr wenig von sich anvertraut.

Was machte er in Schnitzelberg, Texas, wo die Modewelt sich doch um Paris drehte? Was war die wahre Geschichte, die hinter Louie stand? War sie wirklich in so großer Gefahr, wie Jean-Luc behauptete? Trotz all der offenen Fragen fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Ihr Herz raste, wenn sie seine himmelblauen Augen anschaute. Und sie wollte seine Arme wieder um sich spüren.

Aber sie kannte ihn erst seit zwei Nächten. Es war gefährlich, sich so schnell in einen Mann zu verlieben. Es sollte jedenfalls gefährlich sein, aber es fühlte sich nur wunderbar und aufregend an. Noch ein Grund, warum sie auf der Hut sein musste. Sie hatte zu viele Schwierigkeiten in ihrem Leben überstanden, um es jetzt zu vermasseln. Erste Priorität blieb es, eine ruhige, liebevolle Umgebung für ihre Tochter zu schaffen.

Fidelia ließ sich neben Heather auf einen Stuhl fallen und stellte ihre Handtasche auf den Schoß. Zur Feier des Tages trug sie ihren leuchtend roten Rock mit goldenem Flitter. »Diese blöden alten Kirchenweiber. Ich hatte angeboten, eine Wahrsagebude aufzustellen, aber die haben ihre eingebildeten Nasen gehoben und gesagt, das sei zu heidnisch für eine Kirchenveranstaltung.«

»Das tut mir leid.« Zweifellos war eines dieser Kirchenweiber Codys Mutter. Mutter Westfield hatte ihre Exschwiegertochter bereits davon in Kenntnis gesetzt, dass es an Missbrauch des Kindes grenzte, wenn eine Zigeunerin im Haus lebte.

Was die Sicherheit ihrer Tochter betraf, machte Heather sich mehr sorgen um Fidelias Angewohnheit, mit Waffen herumzujonglieren, als um ihr Kartenlegen. Sie warf einen Blick auf die berüchtigte Handtasche. »Bist du bewaffnet?«

»Nur die Glock. Ich habe mich eingeschränkt.« Fidelia senkte den Kopf. »Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen dem Eichhörnchen.«

Heather tätschelte ihren Arm. »Ich war gestern Nacht froh, deine Waffe dabeizuhaben.«

»Wenn dieser Louie auftaucht, baller ich ihm den Kopf weg. Mir egal, wenn ich dafür ins Gefängnis komme. Du hast mir ein Zuhause gegeben, sogar nachdem ich bei deiner Mutter versagt hatte.« In ihren Augen schimmerten Tränen.

Heather drehte sich zu ihrer alten Freundin um. »Du hast nicht versagt. Du hast dein Bestes getan, um sie zu warnen.«

»Wenn ich den Mund gehalten hätte, wären deine Eltern vielleicht noch am Leben. Vielleicht ist es richtig, was diese Kirchenfrauen sagen. Vielleicht bin ich nutzlos.«

»Ich lasse nicht zu, dass du so etwas nur denkst! Meine Mutter hat dich für deine Dienste bezahlt, und sie hätte dich bis in alle Ewigkeit genervt, nur um deinen Rat zu bekommen. Das weißt du. Es war unmöglich, meiner Mutter etwas abzuschlagen.«

Fidelia schniefte und rieb sich die Augen. »Ich würde alles tun, um dich und dein kleines Mädchen zu beschützen. Das bin ich dir schuldig.«

»Du schuldest mir überhaupt nichts. Du warst immer für mich da. Wie eine zweite Mutter.« Heather lachte, damit ihr nicht selbst die Tränen kamen. »Aber mit dir hat man viel mehr Spaß als mit meiner echten Mutter.«

»Sie war eine willensstarke Frau«, meinte Fidelia nachdenklich.

»Stur und ängstlich«, korrigierte Heather sie. »Ich lebe nicht mehr mit der Angst. Und ich will auch nicht, dass du es tust.«

Fidelia streichelte ihre Handtasche. »Ich habe meinen Mut hier drinnen.«

»Du hast Mut in dir selbst. Und du bist ein guter Mensch. Wenn ich mir dessen nicht hundert Prozent sicher wäre, würde ich nie zulassen, dass du auf meine Tochter aufpasst.«

Es war an der Zeit, die Tränen wegzublinzeln. Fidelia setzte wieder ihr hartes Gesicht auf. »Ich habe mir die Menschen und die Umgebung angesehen, wie du gesagt hast. Keine Fremden mit weißen Haaren und einem Stock.«

»Gut. Danke dir.« Heather sah zur Sonne hinauf. Noch etwa dreißig Minuten, ehe Jean-Luc kam. »Hast du letzte Nacht irgendetwas geträumt?«

»Einen seltsamen Traum hatte ich. Ich glaube, es war Juan, aber das ist schwer zu sagen. Er sah aus wie ein Typ aus diesem Film, den du immer siehst. Stolz und irgendwas.«

»Stolz und Vorurteil? Er sah wie ein Held bei Jane Austen aus?«

Fidelia kniff die Augen zusammen und versuchte, sich zu erinnern. »Ich glaube schon, aber nur eine Sekunde lang. Dann sah er aus wie... George Washington, nur schicker.«

»Das ist merkwürdig.«

»St. Und dann sah er aus - ich weiß auch nicht. Er hatte Strumpfhosen an und seltsame Shorts, die wie Luftballons aufgebläht waren.«

»Wie ein Mann aus der Renaissance?«

Fidelia zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll.«

Heather atmete tief durch. Sie hatte ihre Theorie, dass er unsterblich war, als zu bizarr abgeschrieben, aber jetzt fragte sie sich doch, ob etwas daran war.

Fidelia sah sie genau an. »Hast du eine Ahnung?«

»Es ist zu merkwürdig.«

»Du sprichst mit mir, Liebes. Nichts ist zu merkwürdig.«

»Ich glaube, Jean ist vielleicht... irgendwie anders.«

Das konnte man wohl sagen. »Er ist verdammt anders als die Männer hier in der Stadt. Aber das ist vielleicht genau das Richtige für dich.«

»Ich meine wirklich anders.«

»Du meinst, auf übernatürliche Art?« Fidelia legte ihren Kopf zur Seite und dachte darüber nach. »Das könnte sein.«

»Das könntest du glauben?«

»Ich habe dir schon millionenmal gesagt, es gibt viele Dinge, von denen wir nichts wissen. Das bedeutet nicht, dass sie nicht wahr sind.«

Ein unsterblicher Mann? Wenn Jean-Luc einer war, dann auch Louie, und sie waren in einem Kampf gefangen, der schon Jahrhunderte überdauerte. Trotz der Hitze lief Heather ein kalter Schauer über den Rücken.

»Mama! Tante Fee!« Bethany kam auf sie zugerannt. »Habt ihr mich auf der Bühne gesehen?«

»Das haben wir.« Heather zog sie auf ihren Schoß. »Du hast toll ausgesehen.«

»Setzt ihr euch in die erste Reihe, wenn ich singe?«

»Natürlich.« Heather rückte die Spange in den Haaren ihrer Tochter zurecht, auf der eine blaue Ripsschleife saß, die zu Bethanys blauem Sommerkleid passte.

»Ich habe Hunger.«

Heather lächelte. »Du hast immer Hunger.«

»Ich habe mir die Buden angesehen«, erklärte Fidelia ihrer Mutter. »Wir haben die Auswahl zwischen deutscher Wurst am Spieß oder einem Hotdog.«

Toll. Heather schnitt eine Grimasse. Schwein oder Schwein.

»Ich will einen Hotdog!« Bethany sprang vom Schoß ihrer Mutter. »Mit viel Ketchup.«

Während sie auf die Bude mit den Hotdogs zugingen, kam Heather ein Bild in den Sinn - Bethany auf der Bühne, in ihrem blauen Sommerkleid, und ein riesiger Ketchupfleck auf ihrer Brust. »Beim Ketchup reißen wir uns lieber etwas zusammen.«

»Du solltest einen von den Extralangen probieren«, versuchte Fidelia sie zu überreden.

»So hungrig bin ich nicht.«

»Liebes, wer redet vom Essen?« Fidelia zwinkerte ihr zu.

Heather schnaubte und schüttelte den Kopf.

»Du solltest es auch mit einem von diesen französischen Baguettes probieren.«

Heather lachte. »Ja, ich habe schon viel zu lange auf Kohlehydrate verzichtet.«

»Guckt mal! Ein Glücksbärchi!« Bethany zeigte auf einen riesigen gelben Bär an einer der Spielbuden. »Kann ich den haben?«

»Ich kann es versuchen.« Heather zog ein Bündel Dollarscheine aus ihrer Jeanstasche. Sie kaufte fünf Bälle für fünf Dollar und traf den Turm aus Milchflaschen viermal, aber sie fielen nie um.

»Die sind doch festgeklebt«, murmelte Fidelia.

»Das scheint mir auch so.« Heather seufzte. »Wenigstens ist es für einen guten Zweck.« Weitere fünf Dollar später standen die Milchflaschen immer noch. Der Mann reichte ihr einen winzigen grünen Bären.

»Ich fürchte, mehr bekommen wir nicht.« Heather gab ihrer Tochter das Stofftier.

»Das ist okay. Er ist noch ein Baby.« Bethany wiegte ihn in ihren Armen, als sie von der Bude weggingen. Trotzdem blickte sie aber noch einmal sehnsüchtig zurück zum gelben Mutterbären.

Nachdem sie ihre Hotdogs bestellt hatten, setzten sie sich auf eine Bank unter einem riesigen Eichenbaum, während Heather die Menschenmenge im Auge behielt. Es gab einige weißhaarige Männer mit Gehstöcken, aber die kannte sie alle aus der Kirche.

Die Sonne verschwand hinter dem Horizont. Um den Park gingen die Straßenlampen an. Jede Bude war beleuchtet, und auch am Pavillon funkelten winzige Glühbirnen. Der einzige dunkle Bereich war unten am Fluss. Dort war es menschenleer, bis auf einige Teenager, die sich zu heimlichen Küssen davongestohlen hatten. Die meisten Stadtbewohner standen an den Buden, lachten und gaben Geld aus.

Die Schüler der Highschool standen um die Tauchstation herum und versuchten ohne Erfolg, Coach Gunter ins Wasser fallen zu lassen. Er verspottete sie, und seine dröhnende Stimme trug die Worte durch den ganzen Park.

Fidelia hatte immer noch mit ihrem extralangen Hotdog zu tun, also ließ Heather Bethany bei ihr, während sie die Zuckerwatte kaufte. Unglücklicherweise lag die Bude mit den Süßigkeiten genau gegenüber der Tauchstation.

»Kommt schon, ihr Weicheier!«, brüllte der Coach die Kinder an. »Wer taucht mich unter?«

»Wir haben kein Geld mehr, Coach«, antwortete einer von ihnen.

»Ihr faulen Penner! Geht arbeiten!«, schrie der Coach sie an.

»Hey, Mrs. Westfield!«, riefen einige der Schüler. Sie begrüßte sie mit Namen.

»Mrs. W«, rief der Coach, »kommen Sie und spielen Sie mit mir!«

Die Schüler lachten. Heather stöhnte innerlich auf und drehte ihm den Rücken zu, um in der Reihe auf Zuckerwatte zu warten. Manchmal war diese Stadt wirklich zu klein.

»Ich habe Sie gefunden.« Die tiefe Stimme mit dem Akzent raubte ihr den Atem.

Sie drehte sich um zu Jean-Luc, der hinter ihr stand.